Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso

Esmeraldas Geheimnis - Karoline Toso


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Sie fühlte für ihn wie für einen Bruder und er sah sie als seine Schwester. Außerdem wuchs da diese junge reine Liebe zwischen ihm und Anouk heran, das konnte sie nicht trüben. Eine andere Lösung musste gefunden werden. In der Kräuterkunde vielleicht? Ihre Madre wusste darüber sehr viel, außerdem gab es dazu bestimmt einiges in der Schlossbibliothek zu erfahren. Es musste doch ein Kraut für die Standhaftigkeit der männlichen Begierde geben. Sofort steuerte sie auf die Bibliothek zu. Wenn sie an die Höflichkeit und die Aufmerksamkeit Raphaels ihr gegenüber dachte, fühlte sie sich angeregt, sehnte sich nach seiner Berührung, nach seiner Leidenschaft. Sie sehnte sich danach, selbst begehrt zu werden. Warum nur konnte ihr Gemahl nicht das für sie empfinden, was er gern rezitierte, wenn sie wieder einmal des geheimen Büchleins gedachten, deren pikante Gedichte beide bereits auswendig kannten:

      Du, mein Himmel, meine süße Henkersmahlzeit.

      Ja, zum Sterben bin ich verurteilt,

      solange du mich meidest.

      Ein Toter bin ich in diesem Leben,

      wenn du mir fern bist, du wahre Freude.

      Mein Herz schlägt nur, weil es deines kennt,

      wie es ruft unter deiner Brust, von der ich träume.

      Atmend spüre ich dem Duft nach,

      der mich trunken macht aus deiner Mitte,

      du Rose der Erlösung.

      Mein einziges Verlangen bist du, Geliebte.

      Mein Trost ist es, von dir zu wissen.

      Ich verzehre mich nach dir bei Tag und Nacht.

      »Ihr bewegt Euch in wahrhaft guter Gesellschaft, Claudine«, begrüßte Jean die Prinzessin. Anouk kicherte, er zwinkerte der Zofe zu und genoss es, wie sie ihn anstrahlte und dabei versuchte, ihre Freude zu verbergen.

      »Onkel Jean!«

      Claudine lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, dass die Hühner nur so auseinanderstoben. Er hob sie über den Zaun und drehte sich mit ihr ein paarmal, dass sie vor Vergnügen quietschte.

      »Ich will fliegen!«, rief sie.

      »Na gut, ich hoffe, Ihr habt nicht allzu viel gefrühstückt, sonst verliert Ihr Brot und Milch beim Flug und verteilt es über die Wiese.«

      »Nein, nein! Lass mich fliegen, Jean!«

      Er nahm sie fest an der linken Hand und an der Fessel ihres linken Beins, dann drehte er sich und schwang das Kind dabei auf und nieder, dass ihm die Haare und Gewänder nur so flatterten. Nach einigen Drehungen senkte er es behutsam ab und ließ sich auf seine Seite ins Gras fallen.

      »Die Welt dreht sich um meinen Kopf herum!«, rief Claudine atemlos.

      »Nein, sie dreht sich um meinen Kopf herum«, lachte Jean.

      »Nur nicht um meinen, schade eigentlich«, ergänzte Anouk und setzte sich zu den beiden.

      »Das können wir gleich ändern, lasst mir nur noch ein wenig Zeit, damit sich meine Welt wieder etwas beruhigt.«

      »Du willst Anouk im Kreis herumwirbeln? Sie ist doch viel zu groß!«

      Claudine setzte sich überrascht auf.

      »Das frage ich mich allerdings auch, Baron de Bouget.«

      »Wartet es ab, Anouk, gleich werde ich Eure Welt zum Drehen bringen.«

      Sie tauschten einen lächelnden Blick.

      »Das ist schön, wie ihr euch anschaut, fast so wie bei Papa und Maman und wie bei Papa und Julien de Bonarbre«, meinte Claudine erfreut. Die beiden waren überrascht, doch Anouk kicherte.

      »Also, ma chère, darf ich bitten?«

      Jean verneigte sich mit übertriebener Geste vor Anouk, sie reichte ihm die Hand und er schwang sie hoch, sodass sie fast in seine Arme fiel. Mit überkreuzten Armen fassten sie einander an den Händen und drehten sich immer schneller im Kreis. Unwillkürlich jauchzte Anouk auf, Claudine klatschte begeistert in die Hände.

      »Ihr seid der Wirbelwind!«, rief sie. Nach etlichen Drehungen ließen sich die beiden ins Gras fallen und lachten. Claudine warf sich auf Anouk und umarmte sie.

      »Halte mich fest, Anouk, dann dreht sich meine Welt mit deiner.«

      »Glaub mir, meine Welt dreht sich so sehr, dass ich kaum etwas in ihr erkennen kann!«, rief die Zofe.

      »Ich kann auch nichts erkennen«, hörte man Claudines gedämpfte Stimme. Sie hatte ihr Gesicht an Anouks Hals gepresst, als wolle sie sich in ihrem Nacken verkriechen.

      »Gurruuu! Gurruuu!«, lockte Knecht Martin vor dem nahen Taubenschlag.

      »Oh! Die Tauben!«, rief das Kind und lief sofort hin. Anouk und Jean hatten noch etwas Mühe hochzukommen, um hinterherzutorkeln.

      »Was machst du denn da?«, fragte die Prinzessin, als sie sah, wie Martin vorsichtig einen zusammengerollten Streifen Papier am Bein einer Taube befestigte.

      »Die Taube bringt eine Botschaft zum Nachbardorf. Ich brauche dringend mehr Körner, Rüben und Bohnen. Unsere Bauern sollten das schon längst geliefert haben.«

      »Das sind also Brieftauben?«, Jean war begeistert. Er hatte nicht gewusst, dass es am Schlossgelände welche gab. Sehnsüchtig dachte er an die Tauben seines Wahlbruders Quasimodo in Paris.

      »Du schreibst also Nachrichten und die Tauben bringen diese an die gewünschte Person? Wäre das auch über weitere Distanzen möglich?«

      »Die Nachrichten schreibe nicht ich, sondern unser Verwalter, ich bin des Schreibens nicht kundig, mein Herr, aber dafür kenne ich mich mit der Taubenzucht aus.«

      »Das ist wunderbar. Vielleicht werde ich darauf noch zurückkommen. Hab Dank, Martin!«

      Der Knecht verneigte sich.

      »Darf ich sie streicheln?«, fragte Claudine.

      Martin hielt dem Kind die Taube hin, die sich in den großen Händen des Mannes sicher zu fühlen schien. Mit zwei Fingern streichelte Claudine ihr über den Kopf, neigte sich nahe an das Tier und flüsterte: »Guten Flug, und erzähle mir dann, wie es war.«

      »Schaut, Mademoiselle, jetzt geht’s los!«, sagte Martin, hob die Arme und warf die Taube vorsichtig in die Luft. Nach kurzem Flattern gewann diese rasch an Höhe und segelte bald mit ruhigen Flügelschlägen dahin.

      »Ich will auch eine Taube sein!«

      »Gerade vorhin wolltet Ihr noch ein Huhn sein.«

      Anouk lachte, nahm Claudine an der Hand und verabschiedete sich. Martin verneigte sich abermals, Jean begleitete sie aber noch bis zum Schloss.

      Währenddessen ging Baron de Bonarbre noch einige Dokumente mit Duc Raphael und Madame Veronique durch. Das Fenster stand offen, man hörte Claudines und Anouks Stimme. De Bonarbre blickte verstohlen hinaus und entdeckte Jean bei der Prinzessin und der Zofe. Es ärgerte ihn, dass sich der Schreiber auf der Wiese vergnügte, während er eigentlich bei dieser Besprechung für Notizen gebraucht wurde. Raphael bemerkte es.

      »Wir sollten uns eine kleine Pause gönnen, das Wichtigste ist ja vorbereitet«, sagte er in Richtung seiner Mutter.

      »Dann sehen wir einander beim Mahl«, antwortete diese und verließ den Raum.

      Raphael und Julien blieben am Fenster stehen, bis das Kind und seine Begleitung im Schloss verschwunden waren.

      »Claudine kennt mich gar nicht richtig, obwohl ich fast täglich an der Familientafel das Frühmahl einnehme. Sie spricht mit allen, nur nicht mit mir. Gibt es denn keinen Weg, der mich ihr näherbringt? Ich sehne mich danach, Teil eurer Vertrautheit zu sein«, bekannte Julien. Raphael nickte nachdenklich.

      »Ich weiß. Bestimmt hätte Agnès auch nichts dagegen, aber, um ganz ehrlich zu sein, wirkt es manchmal auf mich, als käme niemand an Claudine


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