Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso
meiner Mutter sind für mich zuweilen sinnvoll und nötig, dann wieder, wenn ich mit Claudine plaudere und spiele, merke ich, dass sie nicht in unsere Konventionen passt und sogar ich außen vor bleibe. Claudine die Freiheit zu nehmen, erschiene mir wie eine Verletzung, es aber darin zu belassen, entrückt sie uns.«
»Ich möchte Teil von euch beiden sein, Raphael«, insistierte Julien.
»Und Agnès?«
Raphael ergriff die Hand seines Freundes und schaute ihn an. Julien senkte den Blick.
»Ja, natürlich. Verzeih. Deine Gemahlin wirkt so unbeugsam und stark, dass ich zuweilen ihre Rechte und Bedürfnisse vergesse.«
Die Bäckerei auf der Mariahilfer Straße war voller Kunden, alle Kaffeetischchen besetzt. Gut so, dachte Albert Alden. Nach Wochen des Zauderns hatte er sich endlich dazu durchgerungen, wieder hinzugehen. Es war ja kindisch, dieses Geschäft zu meiden, nur weil Selma, die junge Angestellte, nie bei ihm anrief. Was erwartete er sich? Dass sie sein Manuskript las und ihn dann begeistert kontaktierte? Auf ihre Meinung zu hoffen, vielleicht sogar auf ein wenig privaten Kontakt, war lächerlich gewesen, das musste er sich eingestehen. Doch jetzt zu feige zu sein, um wie üblich das Gebäck dort zu holen, war noch peinlicher. Nur um seine Selbstachtung wieder ein wenig aufzupolieren, hatte er beschlossen, nach den Vorlesungen so entspannt wie möglich dort etwas zu kaufen. Doch aus irgendeinem Grund war das Geschäft brechend voll. Gab es etwas gratis? Unverrichteter Dinge ging er nach Hause, es war Freitag. Leon kam übers Wochenende, wenigstens dieser Lichtblick erwartete ihn. Bevor sich Albert etwas zum Essen richtete, rief er seinen Sohn über Skype an.
»Hallo, Leon, kommst du heute Abend oder morgen Vormittag? Ich wollte gerade eine Kleinigkeit zum Essen richten.«
»Servus, Papa, heute Abend treffe ich mich mit Freunden, morgen gegen elf bin ich dann bei dir. Hast du etwas Bestimmtes vor? Ich muss nämlich so ein blödes, kitschiges Gedicht auswendig lernen. Was für ein Schwachsinn! Gedichte sind was für kleine Kinder!« Leon zog einen Schmollmund, der tatsächlich kindlich wirkte.
»Na, du bist ja nicht gerade bestens drauf. Aber so schlecht finde ich das Prinzip des Auswendiglernens nicht, Theaterkünstler oder Opernsängerinnen müssen sich Unmengen an Text merken. Von wem ist das Gedicht denn und wie lautet der Titel?«
»Was weiß ich, eh ein bekannter Dichter, irgend so ein Heini, jedenfalls geht es beim Inhalt um Mädchenkram, fehlen nur noch die Einhörner.«
»Es geht um Einhörner?«
»Nein, das ist das einzige Märchenwesen, welches nicht darin vorkommt, dafür aber Elfen und Nixen oder so, urpeinlich!«
»Kommt mir bekannt vor, könnte entweder eine Passage von Shakespeares ›Sommernachtstraum‹ sein oder vielleicht ein Gedicht von Heinrich Heine, müsste mal nachschauen, doch bei meiner Lyriksammlung finde ich es bestimmt.«
»Ach ja, Heine heißt er, nicht Heini, wäre eh witzig gewesen, ein Heini schreibt was über Zwerge.« Leon kicherte. »Glaubst du, wir schaffen das Gedicht am Wochenende?«
»Es in so kurzer Zeit auswendig zu lernen, halte ich nicht für sinnvoll. Besser fände ich es, den Text zu durchleuchten, seine Intention zu erfassen.«
»Das ist es ja! Der Schneider, also unser Deutsch-Prof, hat uns das als Aufgabe gegeben, aber dazu sollten wir auch noch das Traktat lesen und die Biografie von diesem Heini, also Heine. Wir wollten das nicht, es haben mehrere von uns dagegen protestiert, da wurde der Schneider halt ärgerlich und hat uns diese Scheißarbeit aufgegeben. Übers Wochenende!
Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Analyse des Textes muss mit der Lehrkraft geschehen und nicht einfach anhand eines Traktats, vor allem aber nicht als Wochenendübung. Ich werde mich über den Professor beschweren!
Na ja, lieber nicht. Vielleicht müssen ja nicht alle das Gedicht in so kurzer Zeit lernen. Vielleicht haben manche ohnehin die Analyse in mehreren Deutschstunden mitgemacht. Kann aber sein, dass manche nicht so richtig zugehört haben.«
»Ich ahne, was du mir sagen möchtest, du Tunichtgut.«
»Jetzt heißt’s halt strebern«, murrte Leon.
Albert lachte. Er kannte den bald Siebzehnjährigen nur zu gut, selbst wenn er ihn seit der Scheidung nur an bestimmten Wochenenden und in Ferienzeiten bei sich haben konnte.
»Und wenn du mir die Analyse schreibst? Das ginge nämlich auch, ich könnte mir das Traktat von einem Freund ausborgen, hab’s nämlich in der Schule vergessen und die Biografie von dem – hm – Dichter habe ich in Kurzform in der Mappe, außerdem kann man das ja auch googeln.«
»Ich schreibe dir natürlich nichts, aber es mit dir zu analysieren wird mir eine Freude sein.«
»Aber Papa!«
»Aber Leon! Schicke mir lieber eine Nachricht mit dem Titel des Gedichts. Aber was anderes, wohin gehst du denn mit deinen Freunden heute Abend?«
»Weiß noch nicht, wir treffen uns zunächst bei Elias, dann schauen wir weiter.«
»Na gut, dann viel Spaß und bis morgen. Wie wär’s mit Tafelspitz zu Mittag?«
»Lieber Kaiserschmarren oder Palatschinken. Bis morgen dann!«
Einige Minuten später kam die Nachricht, »Waldeinsamkeit«. Albert blätterte bereits in Heines gesammelten Werken. Da war es, »Waldeinsamkeit«, 39 Strophen! Sofort versank er darin. Als junger Student hatte er dieses Gedicht geliebt, seitdem aber fast vergessen. Besaß er nicht eine Schallplatte, auf der Oskar Werner es so wunderbar vortrug? Es wäre schön, diesen Künstler wieder einmal zu hören, doch die Nadel seines alten Plattenspielers war verschlissen, die Stimme käme kaum zur Geltung. Umgehend musste er sich eine neue Nadel besorgen. Ob so etwas jetzt noch aufzutreiben war? Und wo? Leon hätte bestimmt mehr Freude an dem Gedicht, wenn sie es miteinander anhören könnten. Er schaute auf Harolds Seiten, um ein Fachgeschäft zu finden. Bei der Gelegenheit checkte Albert seine Mails, zwei neue im Posteingang, beide von Verlagen. Die erste war wieder mal eine freundliche Absage bezüglich seines Exposés über den »Glöckner von Notre-Dame« nach Victor Hugo. Es kamen nur noch wenige Absagen, seit er fast ein Jahr zuvor das Angebot an alle Verlage verschickt hatte, die er finden konnte. Die meisten waren bald darauf eingetrudelt, viele Verlage hatten gar nicht erst geantwortet. Desillusioniert öffnete er die zweite Mail.
›Sehr geehrter Herr Alden,
wir danken Ihnen für Ihr Angebot. Die Geschichte Quasimodos aus Ihrer Perspektive klingt interessant, vor allem auch die Beschäftigung dieses Werkes der Weltliteratur nach dem tragischen Brand in der Notre-Dame letzten April. Wir bitten Sie, uns das Manuskript zur unverbindlichen Begutachtung zu senden und werden uns danach wieder bei Ihnen melden.
Mit freundlichen Grüßen‹
Albert starrte auf den Bildschirm, las die Mail mehrmals. Er hatte es schon aufgegeben, seinen Roman je veröffentlichen zu können, und nun das. Wo war die Freude? Wo die Begeisterung? Selma fiel ihm ein. Sie hatte das Manuskript Monate zuvor von ihm bekommen, es war ihr erstes und einziges Date gewesen, einsilbig, etwas unbeholfen seinerseits, doch auch sie hatte angespannt gewirkt.
»Ich freue mich darauf«, hatte sie gesagt und, »Ich melde mich wieder, sobald ich es gelesen habe.«
Wie dumm er doch war! Hatte er wirklich geglaubt, sie interessiere sich für seinen Roman? Vielleicht sogar für ihn? Warum freute er sich nicht über die Aussicht auf eine Veröffentlichung? Stand und fiel sein Ansporn mit Selmas Reaktion oder besser gesagt mit ihrem Schweigen? Emma, seine Ex, hatte das Manuskript in wenigen Tagen gelesen und es für gut gefunden, sogar Leon fand es spannend. Drei Testleser, zwei davon verwandt, eine hatte es offenbar noch nicht angeschaut oder so schlecht gefunden, dass sie ihn lieber nicht kontaktierte.
»Verdammt noch mal! Jetzt bekomme ich eine Fast-Zusage und kann mich nicht einmal richtig freuen!«
Etwas verbissen vertiefte er sich noch mal in Heines »Waldeinsamkeit«.
»Der