Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso
komme ich wieder und bringe dir mehr Geld für sie.«
»Schade, dass wir sie nicht hier aufnehmen können, das würde die Sache erheblich vereinfachen«, meinte Rosa.
»Heimlich auf keinen Fall! Trouillefou hängt sie an den Galgen, so viel ist sicher.«
»Ich weiß. Leider!«
Gemeinsam eilten sie zum Place de Grève, wo die dünne Frau in ihren Lumpen saß und sich sonnte.
»Kommt, Schwester Gudule, ich kümmere mich um Euch«, sagte Rosa mit sanfter Stimme.
»Paquette hat einen Schatz, zwei Teile und einen Schatz. Es ist der wertvollste Schatz«, brabbelte diese und öffnete ein wenig die linke Faust, um Rosa die schmuddeligen Säuglingsschuhe zu zeigen.
Simon war es gar nicht mehr gewohnt, allein im Turm zu sein. Er umarmte seine Mutter, als sie endlich wiederkam. Sie hatte vom Markt etwas Brot und Obst mitgebracht. Nach dem verspäteten Frühstück schrieb sie ihm die wichtigsten Neuigkeiten auf. Enzo bald wiederzusehen freute ihn sehr, aber die Notre-Dame verlassen zu müssen schien ihm unvorstellbar. Seit seinem zehnten Lebensjahr lebte er in dem Turm. Mit nicht einmal fünf Jahren hatte ihn Dom Frollo von der Findlingskrippe aufgelesen und sich um ihn gekümmert. Seitdem war die Kathedrale Teil seines Lebens und die Glocken seine ganze Freude, auch wenn sie ihm das Gehör genommen hatten. Wie konnte ein Leben außerhalb dieser Mauern aussehen? Seine Tauben könnten ihm davon erzählen, aber er war nicht so frei wie sie.
»Bleiben!«, formulierte er. Sophie brach das Herz. Sogar sprachlich bat er zu bleiben, wo er sonst nicht gern Worte aussprach. Dass sie am Abend wieder weggehen würde, verstand er auch nicht. So knapp wie möglich notierte sie die Begegnung mit Schwester Gudule, erwähnte aber nicht, dass diese Esmeraldas Mutter war. Simon war auch so schon von all den Veränderungen verwirrt genug. Hoffentlich ging es Schwester Gudule etwas besser. Wieder zum ›Hof der Wunder‹ zu gehen fiel ihr schwer, doch Rosa brach gleich mit ihr auf, um in der Schenke nahe des Place de Grève die Klausnerin aufzusuchen. Unterwegs berichtete sie: »Gudule ist so unterernährt, dass sie kaum Nahrung verträgt. Nach einem langen Bad und nachdem man ihr die Haare kurz geschnitten hat, flößte ich ihr warme Brühe ein, nur das kann sie zurzeit vertragen. Trotz der Sommerhitze in der Stadt war sie über die beiden Kleider und die Schuhe dankbar, die ich ihr gekauft habe. Sie trägt die Kleider übereinander und sieht dennoch aus wie ein Gerippe. Es wird Wochen dauern, bis sie wieder genesen ist, doch mach dir keine Sorgen, Sophie. Solltet ihr drei bald aufbrechen müssen, werde ich mich weiter um sie kümmern.«
Dankbar legte Sophie die Hand auf Rosas Schulter.
Gudule bewohnte eine Kammer im hinteren Bereich der billigen Schenke.
»Ich habe der Wirtin ausdrücklich gesagt, dass dem Gast kein Wein geboten werden darf. Da ich aber täglich vorbeischaue und ihr die Suppe bringe, wird das schon gut gehen. Man war hochzufrieden, als ich für zwei Wochen im Voraus zahlte. Unsere Klausnerin ist hier so etwas wie ein Ehrengast.«
Rosa war stolz auf ihr Verhandlungsgeschick und auch über die pflegende Aufgabe. Sie klopften zaghaft.
»Niemand klopft bei der Klausnerin. Man geht vorbei, schaut kaum herein. Und keiner entdeckt ihren Schatz, den frisch gewaschenen schönen Satz«, hörten sie die brabbelnde dünne Stimme und traten ein.
Wie eine Figur aus Stein saß Gudule auf der Liege. Es war düster in der Kammer, so wirkte ihr fast kahler Schädel mit den tief liegenden umränderten Augen und dem lippenlosen Mund wie ein Totenkopf.
»Schaut nur! Schaut!«, hauchte die Frau und hielt in jeder Hand ein fast rosafarbenes Knäuel.
»Die Tochter lebt!«, flüsterte sie weiter und machte mit den kleinen Seidenschuhen Schrittbewegungen in der Luft.
»Schwester Gudule! Ich hatte Euch gebeten, nicht mehr von Eurer Tochter zu sprechen.«
Esmeralda wurde seit Langem von niemandem mehr erwähnt und so sollte es auch bleiben. Sophie fand Paquettes unbedachtes Plappern bedenklich.
»Es ist nicht die Tochter, von der die Klausnerin spricht. Es ist der Schatz, der ihr geblieben ist. Er ist der lebendige Beweis ihrer Liebe.«
In der Kammer war es stickig und schwül.
»Mich friert’s«, piepste Gudule.
»Morgen bringe ich euch einen warmen Umhang«, versprach Rosa. Ihre Stimme hatte etwas Beruhigendes, Weiches. Sophie schob den Lederlappen von der Luke an der Tür, die auf einen Gang führte, an dessen Ende eine weitere Luke etwas Sonnenlicht hereinließ. Abgesehen davon hatte die Kammer kein Fenster. Ein paar Löffel der warmen Brühe, die Rosa ihr mitgebracht hatte, ließ sich Gudule einflößen, dann sank sie erschöpft auf die Liege und schlief ein. Rosa überprüfte noch, ob der Güllekübel gelehrt werden musste, doch er war sauber und enthielt ein wenig Wasser. Ein Krug mit frischem Wasser stand gefüllt auf dem Tisch, daneben ein Becher. Auf der Liege war eine Decke bereitgestellt, Sophie legte sie über die Schlafende.
Wie konnte sie die letzten Jahre bloß überleben? ging ihr durch den Kopf. Dann verabschiedete sie sich von Rosa, die noch ein wenig bei Gudule blieb. Vor der Notre-Dame kam einer der Budenverkäufer auf sie zu.
»Madame Paloma?«, redete er sie an. Irritiert blieb sie stehen. Warum sprach sie ein Fremder mit Namen an?
»Ich verkaufe hier Waren aus dem Dorf Chemijaune nahe Paris. Mein Nachbar betreut einen Taubenschlag mit Brieftauben. Gestern kam er aufgeregt zu mir, denn Nachrichten aus fernen Städten erreichen uns selten.«
Sophie wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Sie witterte einen Hinterhalt durch Spitzel der Inquisition. Ob man noch immer nach Esmeralda suchte?
»Mein Nachbar ist als Betreuer der Tauben auch ein wenig des Lesens kundig. Hier habe ich also eine Nachricht aus Chartres für eine Madame Paloma, die im Turm der Notre-Dame wohnt.«
Damit überreichte ihr der klobige Mann ein kleines Stück zusammengerolltes Hanfpapier. Sie zitterte leicht. Was konnte das bedeuten? Rasch kramte sie einige Sous hervor, wofür sich der Mann tief verneigte. Erst im Inneren der Kathedrale wagte sie es, das Papier zu entrollen. Es drang gerade noch genug Licht hindurch, um die winzigen Buchstaben zu entziffern:
›Cousin, Mutter und Kind sind wohlauf. Jean de Bouget‹
Sophie hatte kaum Wissen über Brieftauben, eines aber war klar, auch ihre Botschaften mussten verschlüsselt sein, sollte jemand der Inquisition sie in die Hände bekommen. Mit ›Cousin‹ war wohl Frollos junger Bruder Jean gemeint. Auch er hatte vor der Inquisition fliehen müssen. Während weiterer Überlegungen schossen ihr Tränen in die Augen. ›Mutter und Kind‹ konnten demnach Esmeralda mit Kind bedeuten. Führte sie ein glückliches Leben an der Seite ihres Gemahls? Nun drängte es sie regelrecht, aufzubrechen und nach Chartres zu ziehen, sich dort anzusiedeln und in der Nähe ihrer Tochter zu leben. Auf dem Land, abgeschieden von der Vielfalt in Paris, würde sich bestimmt auch Simon wohlfühlen, umgeben vielleicht von Kleinvieh, womöglich mit einem eigenen Taubenschlag.
›Wir brechen so bald wie möglich auf‹, schrieb sie Simon mit Kreide auf die Holztafel, die er immer bei sich trug. Dann zeigte sie ihm feierlich die kleine Nachricht aus Chartres.
›Cousin ist Jean?‹, schrieb Simon auf die Tafel, wo man sofort alles Verräterische abwischen konnte. Sophie nickte. Jetzt konnte auch er lächeln.
»Jean!«, rief er.
Sophie streichelte ihm übers Haar und über die Wangen. Dann legte sie den Zeigefinger an die Lippen und schrieb: ›Sag nie die Namen Jean oder Esmeralda laut und schreibe sie nie auf Papier!‹
Erschrocken schaute er sie an und erinnerte sich an die Turbulenzen, als Jahre zuvor Vertreter der Inquisition, aber auch andere Bürger, die Notre-Dame gestürmt hatten, um überall nach Esmeralda zu suchen. Er selbst hatte die Flüchtende durch einen Geheimgang nach unten geführt. Bald danach war auch sein väterlicher Beschützer, Dom Frollo, weggegangen. Nur Sophie war geblieben. Ernst legte auch er den Finger an die Lippen.
Zwei Wochen danach