Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso
ihres Vaters gegeben hatte. Thaddäus griff nach dem kleinen Brett und der Kreide, welche auf dem Laufboden mit den Glockenseilen bereit lagen, damit er sich mit dem Schwerhörigen verständigen konnte.
»Der Abt gab mir diese Geldkatze mit dreißig écus darin für deine Dienste und bittet dich, dieses Papier zu unterschreiben und dann spätestens morgen mit deiner Mutter den Turm zu verlassen. Es tut mir sehr leid!«
Er legte die Hand aufs Herz und verneigte sich traurig vor Simon. Dieser las die Notiz auf dem Brett, dann das Pergament, welches auf Latein verfasst war, doch das Wenige verstand er:
»Der Glöckner Quasimodo erhält 30 écus und verlässt
morgen für immer die Kathedrale von Notre-Dame.
Gegeben am 18. Mai im Jahr des Herrn 1487
Pater Bonifatius, Abt des OSB zu Paris«
Fassungslos starrte Simon auf das Schreiben. Ein so großes Blatt mit so wenig Text. Es war das erste Dokument, welches er unterzeichnete. Der junge Ordensbruder Thaddäus überreichte es, nicht einmal einer der Küchenbrüder kam, um sich von ihm zu verabschieden. Womöglich war es ihnen untersagt worden. Vom Laufboden blickte er tief hinab, konnte einige Säulen des westlichen Seitenschiffes erkennen. Meine Notre-Dame, meine Glocken. Ich kann nicht fort!, dachte Simon, den Tränen nahe.
Neben Thaddäus stand eine kleine Kiste, kaum größer als ein Holzscheit. Er öffnete den Deckel und entnahm ein Fass Tinte und eine Feder. Der Deckel diente als Unterlage, welchen der Mönch hielt, während Simon die Feder in die Tinte tauchte und mit »Quasimodo, Simon, der Glöckner von Notre-Dame« unterschrieb. Als er seinen eigenen Namen auf dem Dokument mit den wenigen Worten stehen sah, perlten Tränen über seine Wangen. Thaddäus verschloss das Tintenfass wieder mit dem Holzstöpsel, wischte die Feder mit etwas Spucke und dem Lappen ab, der in der Kiste lag, verschloss die Kiste und nahm dann beide Hände des Glöckners in seine, schloss die Augen und legte seine Stirn darauf. Als er sich wieder aufrichtete, hatte auch er Tränen in den Augen. Auf die Tafel schrieb er:
»Gottes Segen für dich und entbiete bitte deiner Mutter einen Gruß von mir.«
Trotz der Vorfreude auf Chartres fiel es auch Sophie schwer, die Notre-Dame für immer zu verlassen. Vor allem sorgte sie sich um Simon, denn durch Städte und größere Dörfer zu wandern würde ihrem menschenscheuen Sohn sicherlich schwerfallen. All die Gaffer, Kinder, die ihm schreiend und lachend hinterherliefen, verängstigten oder erschreckten ihn bestimmt. Doch nur in Ortschaften oder Städten konnten sie günstige Nahrung kaufen und Quartiere beziehen, also würden sie belebtere Orte nicht gänzlich meiden. Enzo hatte sich bereits seit Tagen reisefertig gemacht. Er kannte die Menschen und das Denken der Geistlichen und wusste, dass der Abt die erste Möglichkeit ergreifen würde, Quasimodo wegzuschicken. Ein Glück nur, dass der Mai fast sommerlich warm war und sie vielleicht so manche Nacht im Freien verbringen konnten. Der Abschied von der ehemaligen Truppe und den anderen im ›Hof der Wunder‹ war herzlich. Man gab den Reisenden Schinken, Brot und einen Weinschlauch mit. Quasimodo wartete einstweilen mit Rosa in Gudules Kammer. Er hätte so viele Leute auf einmal nicht verkraftet. Allein auf der Straße angegafft zu werden ertrug er kaum. Die Klausnerin saß auf ihrer Liege und starrte ihn an. Rosa versuchte ein wenig zu plaudern, gab das Unterfangen aber bald auf. Simon und Gudule wirkten wie ein einziger Bannstrahl, ihre Blicke knisterten fast.
»Das Dämonenkind, welches die süße Agnès gefressen hat«, hauchte die dünne Frau nach unendlich langen Minuten. Er hörte sie nicht, starrte sie nur an. Rosa wusste nicht, dass einst Zigeuner der glücklichen jungen Mutter Paquette Chantefleurie das Töchterchen im Säuglingsalter geraubt hatten und ihr stattdessen den vierjährigen Quasimodo mit seinem Buckel, dem ungewöhnlichen Gesicht und der undeutlichen Sprache hinterließen. Sophie, die vor ihrem gewalttätigen Gatten geflohen war und bei den Zigeunern lebte, hatte man währenddessen betäubt. Sie verlor fast den Verstand, als sie ihren Sohn nirgends finden konnte. Dennoch versorgte sie den geraubten Säugling nach besten Kräften und liebte dieses Kind, die kleine Esmeralda, ebenso wie ihr eignes, doch ihre verzweifelte Suche nach Simon gab sie nicht auf, bis sie ihn fünfzehn Jahre danach in Paris wiedersah. Paquette aber verachtete den Knaben und ging nach Paris, um die Zigeunertruppe mit ihrem Töchterchen zu suchen. Was blieb dem Kleinen anderes übrig, als hinter ihr herzutapsen, hoffend, irgendwann seine Mutter wiederzubekommen, die alle Welt Madame Paloma nannte. Kaum in Paris, verlor Paquette den Knaben in der Notre-Dame, fand aber das Töchterchen nirgends und hoffte auf Gottes Gnade, wenn sie als Einsiedlerin in der Klause beim Rolandsturm am Place de Grève Buße tat. Bald nannte man sie Schwester Gudule. Den Seidenschuh, welchen sie selbst aus lauter Liebe genäht hatte, trug sie stets bei sich. Esmeralda aber trug den zweiten als Talisman, nachdem Sophie ihr die ganze tragische Geschichte vom Kindertausch erzählt hatte.
Nun trafen die beiden wieder aufeinander. Für Paquette war es einerseits ein beklemmendes Wiedersehen, andererseits hatte ihr Geist längst gnädigen Nebel über ihre Gedanken gesenkt. Ab und zu ein heller Moment, den sie aber nicht als solchen erkannte. Sonst aber nahm sie alles wie verschwommen wahr, konnte dadurch die ganze Tragik ihres Daseins leichter ertragen. Auch Quasimodo hatte keine klare Erinnerung mehr an die Frau, die ihn nie mochte und nur geweint hatte, als sie mit ihm nach Paris gewandert war. Er hatte sich ja nicht einmal mehr an Sophie erinnert, nur an Dom Frollo. Dieser war seine ganze Welt gewesen, gemeinsam mit der Kathedrale, den Glocken, den Tauben und später auch mit Jean, den er wie einen kleinen Bruder liebte.
Als Sophie mit Enzo den engen Raum betrat, wusste sie den Blick der beiden sofort zu deuten. In all der Aufregung hatte sie diesen Teil des Schicksals ganz vergessen, dass Paquette nämlich Simon nie so lieben konnte, wie sie ihre verlorene Tochter geliebt hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde bereute sie es, für diese Frau so viel Aufhebens gemacht zu haben. Doch nun wollte sie sich damit nicht aufhalten. Liebevoll verabschiedete sie sich von Rosa, die den écu d’or nicht annehmen wollte, mit dessen Hilfe sie sich weiter um die Klausnerin kümmern sollte.
»So viel wird das doch niemals kosten«, wehrte sie ab. Da erhob sich die dünne Frau, der es inzwischen besser ging, nahm die goldene Münze und den Umhang, den ihr Rosa geschenkt hatte und sagte: »Paquette begleitet die Reisenden.«
Dann stakste sie grußlos aus der Schenke und wartete in der Morgensonne auf die anderen, denen es zunächst die Sprache verschlagen hatte.
»Das kann sie doch nicht machen, dieses dumme Huhn!«, entfuhr es Rosa endlich.
Sophie nickte fassungslos. Quasimodo ging auch nach draußen, in der Kammer war es ihm zu eng und zu stickig. Er stellte sich neben Paquette und begrüßte Enzo, den er lange nicht mehr gesehen hatte. Die Wiedersehensfreude der beiden schob das Problem wegen der sturen Klausnerin zunächst beiseite. Vor der Schenke versammelten sich Leute, um den Buckligen und die Dünne zu bestaunen. Seit dem Verbot jeglicher Darbietungen durch die Inquisition genügte schon ein sonst kaum beachteter Anlass, um Schaulust zu wecken. Als einer der Umstehenden Quasimodo am Buckel berührte, um zu sehen, ob dieser weich oder hart sei, fasste er Paquette am Arm und eilte mit ihr in eine Seitengasse. Erst als niemand mehr in der Nähe war, blieb er stehen und atmete auf. Die Klausnerin war so überrascht, dass sie nicht einmal schreien konnte, bemerkte dann aber, dass der feste Griff um ihr Handgelenk zu ihrem Schutz geschah. Sie rieb sich das Handgelenk und musterte den riesigen Mann mit dem sanften Auge und der Warze über dem anderen. Da kamen schon Enzo und Sophie herbeigelaufen. Sophie schnappte sich das Holz, welches um Simons Hals hing und schrieb mit Kreide:
›Diese Frau kann nicht mitkommen!‹
Er schrieb darunter:
›Doch, sie will ja.‹
»Schwester Gudule, die Reise wird sehr anstrengend und wir können unterwegs keine dünne Suppe für Euch kochen. Ihr habt nicht genug Kraft für so eine weite Wanderung!«, erklärte Sophie genervt.
»Was Paquette will, kann sie auch«, stellte sich die Klausnerin stur und marschierte los. Simon folgte ihr.
»Halt! Es geht in die andere Richtung!«, rief Enzo.
»Wenn die Frau schwach ist, trage ich sie«, sagte Quasimodo, als Sophie ihm nachlief und zur Raison bringen wollte. Auf seine