Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso
was er verlangte, was gab es da also zu verhandeln? Mögen sich doch Anne gemeinsam mit dem überall mitmischenden Briçonnet um derlei Angelegenheiten kümmern.
»Wofür interessiert sich dieser Duc Raphael eigentlich? Wenn er schon nicht Louis d’Orléans unterstützt, könnte er sich doch deutlicher mit dem Herrscherhaus verbünden, damit würden wir Orléans nachhaltig schwächen, schließlich liegt Chartres strategisch günstig, um eine Barriere gegen ihn zu bilden!«, ärgerte sich Anne.
»Soweit ich informiert bin, interessiert sich Duc Raphael für seine junge Gemahlin, seinen engen Berater Baron de Bonarbre und neuerdings für sein überaus lebendiges Töchterchen Claudine. Dass dem Haus noch kein Erbe beschert ist, liegt vielleicht an der etwas zu intensiven Zuwendung des Duc zu seinem Berater«, grinste der Bischof süffisant, der seine Spitzel im ganzen Reich postiert hatte.
»Es gibt immerhin eine Tochter, da wird wohl auch irgendwann ein Erbe zu erwarten sein. Wenn dieser Duc nach Euren Beobachtungen demnach nicht vom Kampfgeist und den Fanfahrenstößen der Macht erfüllt ist, wäre es doch gelacht, ihn nicht auf unsere Seite zu bringen, schließlich ist jeder Valois letztendlich dem Königshaus verpflichtet.«
»Damit habt Ihr recht, Madame, aber bei einem gemächlichen Landesherrn wirkt Einmischung zuweilen eher kontraproduktiv. Um seine Bequemlichkeit zu verteidigen, müsste er sich vielleicht dann doch mit Orléans verbünden. Geschickter wäre es, Duc Raphaels Interesse möglichst unmerklich in Richtung Königstreue zu lenken. Auf meiner Suche nach Unterstützung des jungen Regenten erinnerte ich mich eines Benediktiners, der größtes Vertrauen unseres seligen Königs genoss.«
Anne de Beaujeu lachte gequält auf und schnaubte: »Mein Vater vertraute niemandem! Seine Stärke war es eher, aller Welt zu misstrauen, sogar seiner eigenen Familie. Am liebsten hätte er auch den Dauphin bekämpft, aus Furcht, er könnte ihm die Krone streitig machen.«
»Ich weiß, verehrte Madame de Beaujeu! Umso bedeutungsvoller ist die Tatsache, dass König Ludwig XI. jenen Geistlichen, der überdies auch politischen Einfluss in Paris innehatte, regelmäßig zu Gesprächen in die Bastille holte.«
»Ja, die Bastille! Wie ein kleiner Soldat verschanzte er sich dort und ließ die Königin und uns Kinder im Palais du Louvre überwachen, als seien wir verdächtige Übeltäter.«
Allein die Erwähnung ihres Vaters ließ unkontrollierbare Bitterkeit in Anne de Beaujeu hochsteigen.
»Nur die Ruhe, Madame! Jetzt ist Euer Bruder König, ein verspielter Jüngling, auch mit seinen siebzehn Jahren. Ihr habt die Zügel in der Hand und mit meinen Erfahrungen und vielfältigen Informationen wird bald ganz Frankreich in Eure Richtung streben.«
»Was schlagt Ihr also vor?«
»Wie ich in Erfahrung bringen konnte, lebt jener Geistliche, Dom Frollo de Molendino, seit nunmehr fünf Jahren als Einsiedler in der Bretagne, nahe Concarneau.«
»Ihr scherzt! Ein Mann von solchem Einfluss lebt als Klausner?«
»Nein, ich scherze nicht. Es gibt zuweilen Mönche, die tatsächlich so etwas wie innere Einkehr suchen. Vielleicht ist es bei Dom Frollo de Molendino so, vielleicht aber hat er sich einfach etwas zuschulden kommen lassen und musste Hals über Kopf Paris verlassen. Doch das spielt für uns keine Rolle. Soviel ich weiß, lebt sein verkrüppelter Schützling noch als Glöckner in der Notre-Dame, womöglich kann der uns Auskunft geben.«
»Ich bin beeindruckt, Eure Exzellenz, Ihr verfügt über ein umfassendes Wissen!«
»Alles eine Frage guter Beobachter in allen Schichten und Häusern«, antwortete der Bischof geschmeichelt.
»Abgesehen von der Befragung jenes Glöckners sollten wir Abt Bonifatius von den Benediktinern bitten, Dom Frollo de Molendino unter irgendeinem Vorwand nach Chartres zu beordern, wo er Einfluss auf Duc Raphael nehmen soll«, ergänzte er noch.
Sogleich wurden zwei Geistliche Bischof Briçonnets in die Notre-Dame geschickt, um den Glöckner nach seinem Vormund zu befragen. Da dieser wenige Tage zuvor urkundlich beglaubigt entlassen worden war, wandten sich die beiden an Abt Bonifatius. Dieser verwies auf seinen Mitbruder und Stadtvogt, Pater Gregoire. Er sei für dergleichen verantwortlich. Insgeheim ärgerte sich der Abt aber maßlos über den Fauxpas, Quasimodo entlassen zu haben, denn natürlich war ihm ein gutes Einvernehmen mit dem Königshaus sehr wichtig. Umso bestimmender fiel die Anordnung an Dom Frollo de Molendiono aus, sich umgehend nach Chartres zu begeben, die dortigen Pfarrgeschäfte zu übernehmen und regen Kontakt mit dem Hause de Valois, allen voran mit dem Duc, zu pflegen. Der im augenblicklichen Dienst befindliche Benediktiner, Pater Polycarp, wurde über den Amtswechsel informiert und in die Pfarrei nach Orléans entsandt. Zu beiden wollte Bischof Briçonnet beizeiten Geistliche mit näheren Anweisungen schicken.
»Da!«, hauchte Sophie fast tonlos. Alle blickten in Richtung ihrer ausgestreckten Hand. Aus der Ferne sahen sie das Anwesen der ehemals einflussreichen Grafschaft de Mortain. Es stand auf einer Anhöhe, die weitläufigen Parkanlagen, aber auch Teile der Gebäude waren von alten Bäumen verdeckt. Strahlender Sonnenschein, sanfte Briese. Wie ein Traumbild lag die Landschaft vor Sophie. Einige Felder erstreckten sich zwischen ihnen und dem Anwesen. Jenseits des Hügels lag das Dorf Mortain des Prés. Sophie hatte gedacht, all das längst hinter sich gelassen zu haben, denn nur im Jetzt konnte sie ihre laufenden Pflichten bewältigen. Hätte sie den unnennbaren Schmerz ihres Schicksals ständig vor Augen behalten, wäre sie daran zerbrochen. Nun aber überwältigte sie der Anblick ihrer Heimat und die Erinnerungen an eine Kindheit voller Glück. Ihr Vater, Comte Simon de Mortain, war der gütigste und klügste Mensch gewesen, den nicht nur sie geliebt hatte. Mit ihrer Mutter Adèle und der etwas jüngeren Schwester Elisabeth war jeder einzelne Tag reine Freude, jeder Moment eine Bereicherung gewesen. Doch dann, wie ein nächtliches Gewitter, waren Schergen der Inquisition in ihr Heim eingedrungen und hatten ihren Vater mit sich genommen. Nur wenige Tage später war er auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Ein ähnliches Schicksal drohte seiner Familie, doch ein guter Freund hatte die drei verzweifelten Frauen in Sicherheit gebracht. Kurz vor dieser Tragödie war Sophie fünfzehn geworden.
Friedlich stand das Anwesen da, die Bäume, die verschiedenen Gebäude, Stallungen, auch die Koppel konnte man erkennen. Alle spürten das Feierliche dieses Augenblicks. Seit der übereilten Flucht vor der Inquisition war sie nie wieder in dieser Gegend gewesen. Sie, die mit Zigeunern durch ganz Frankreich und Spanien gekommen war, hatte die Gegend rund um Chartres nie mehr beschritten. Aus unterschiedlichen Gründen mied ihre Zigeunertruppe dieses Gebiet. Nach langen Momenten der Überwältigung setzte sie sich ins Gras, konnte den Blick nicht von ihrem Elternhaus wenden.
»Wer jetzt wohl darin lebt?«, fragte sie ins Leere hinein. Auch die anderen hatten sich zu ihr gesetzt. Sie hatten gewusst, dass sie an Sophies Heimat vorbeikommen würden, ab und zu hatte sie es angedeutet.
»Es lässt sich bestimmt erfragen, wer jetzt dort wohnt«, zeigte sich Enzo wie immer zuversichtlich. In die Freude, ihre ehemalige Heimat wiederzusehen, mischte sich für Sophie Grauen. Nur wenige Tage nach der Flucht war sie mit einem Trunkenbold vermählt worden, dem Marquis Alfons de Sanslieu. Auch ihre Schwester hatte man mit der Kutsche abgeholt, um sie einem Witwer mit mehreren Kindern zu vermählen. Noch immer wusste Sophie nicht, was aus ihr später geworden war, auch das Schicksal der Mutter blieb im Dunkeln, denn ihr Gemahl hatte keinerlei Kontakte gestattet und sie vom ersten Augenblick ihrer Ehe an gequält. Oft hatte Sophie in ihrer Verzweiflung gedacht, dass der Tod wohl ein besseres Los gewesen wäre als die vermeintliche Sicherheit als Gattin eines so grausamen Mannes. Dann wurde Simon geboren, ein noch schutzbedürftigeres Wesen als sie selbst. Er weckte ihre Liebe und damit auch den Lebenswillen. Ihn zu schützen galt ihr ganzes Streben.
Und mit dieser Erinnerung erschien eine Person vor ihrem geistigen Auge, ein Mann mit ebenso sanftem wie entschlossenem Blick. Sie hörte noch den Klang seiner Stimme, sah seine grünen Augen vor sich. Aufgeregt ging er vor ihrer Liege auf und ab, grübelte, wie er ihr und ihrem Neugeborenen wohl helfen konnte, denn er wusste so gut wie sie: Alfons de Sanslieu würde den missgestalteten Knaben töten, vielleicht sogar auch seine Mutter. Und so kam es, dass ihr verstoßener Schwager, der Raubritter Daniel de Sanslieu, sie zu einer ihm befreundeten Zigeunertruppe brachte,