Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso
Tonfall klang mehr gereizt als überrascht. Er nickte nur. Schweigend nahmen sie Seitengassen, mieden größere Plätze und Menschen, so gut es ging. Enzo kannte jeden Winkel dieser Stadt und ging mit Quasimodo voran. Die Häuser, schmutzige Rinnsale, Kinder, die Fangen spielten und geschickt Reitern auswichen, Bettler und Aschesammler, alle hatten ihre Beschäftigung. Es verwirrte Quasimodo, so viele Leute um sich zu erleben. Kinder hüpften um ihn herum, warfen zuweilen sogar kleine Steine auf ihn. Alle starrten ihn an. Als er noch am Turm gelebt hatte, waren Leute kleine wuselige Figuren gewesen, weit weg von ihm. Nun bedrängten ihn ihre Blicke, die Nähe und Gerüche. Die Welt war kein Abenteuer, sie umwickelte ihn wie eine Spinne mit ihrem klebrigen Netz.
Hinter ihm ging Sophie und achtete darauf, dass Paquette Schritt halten konnte und sich nicht zu sehr der Sonne aussetzte, weil sie das ermüdete. Seine Mutter war für Quasimodo das neue Zuhause. Am Stadtrand pflückte Enzo wilde Ranken, flocht daraus mit wenigen Handgriffen einen kranzartigen Hut und setzte ihn Paquette aufs Haupt. Sie nickte zufrieden.
Die Nächte waren so mild, dass sie im Freien übernachten konnten. Sophie erinnerte sich an ihre Zeit bei den Zigeunern und empfand Wehmut, vor allem, weil es die Zeit mit Esmeralda gewesen war. Wie es ihr wohl ergeht? Hat sie einem Knaben oder einem Mädchen das Leben geschenkt? Sophies Sehnsucht nach ihr brannte so sehr wie damals der Drang, der die verzweifelte Suche nach Simon befeuert hatte. Dieser strahlte eine wohltuende Ruhe aus, selbst wenn Kinder in Dörfern schreiend um ihn herumtanzten, schaute er sie mittlerweile bloß gutherzig an. Einmal musste er niesen, als Kinder es wieder einmal allzu bunt trieben. Sie erschraken so sehr, dass sie quietschend davonstoben. Simon lachte laut über sie. Daraufhin kamen sie wieder zurück und lächelten, waren plötzlich sanft wie Lämmer und hörten auf, sich über ihn lustig zu machen. Seitdem gönnte er es sich manchmal, aufgescheuchte Kinder mit einem lauten »Buh!« zu erschrecken, wenn sie allzu wild um ihn herumtanzten oder ihn sogar mit kleinen Steinen bewarfen. Und stets ereignete sich dadurch das gleiche kleine Wunder. Der Bann war gebrochen, sobald sie ihn lächeln sahen, allerdings erst, nachdem sie ihren Spaß gehabt hatten.
Wenn er sonst jemanden anlächelte, erschraken die Leute. Er selbst schien sich nichts mehr daraus zu machen. Menschen waren für ihn wie die Tauben, die kackten ja auch herum, ohne es böse zu meinen. Sophie allerdings litt täglich unter diesen Erfahrungen. Sie atmete auf, wenn sie Wälder und Wiesen durchquerten, wo ihnen kaum jemand begegnete. Paquette war auf der Reise ruhiger geworden. Sie brabbelte kaum noch vor sich hin, steckte ihren Schatz in die Kleidertasche und beobachtete still, was um sie herum vorging. Mittlerweile vertrug sie auch festere Nahrung und mochte vor allem mehlige Rüben, wenn Enzo sie abends am Lagerfeuer kochte. Wenn sie bei unterkellerten Gehöften vorbeikamen, kauften sie manchmal ein wenig von dem Wintervorrat, denn sie mieden Schenken und belebte Dörfer. Enzo und Simon trugen die größten Reisesäcke, weil es darin ein wenig Kochgeschirr, Decken für die Nacht und ein gut eingewickeltes Küchenmesser gab.
Jeder Tag der Reise gestaltete sich für Simon wie ein nie gekanntes Abenteuer. Meist hängte er sich die weichen Lederschuhe zusammengebunden um die Schultern und ging barfuß. Das Gras, das Moos, Wurzeln, Morgentau, lehmig-feuchten Boden unter seinen Füßen zu spüren war eine neue sinnliche Wonne für ihn. Gleichzeitig musste er aber nichts von den Freuden aufgeben, die der Turm ihm geboten hatte: den freien Himmel über sich, Wind, Morgensonne und die Dämmerung am Abend. Auf den Heiden und Waldwegen gab es vielerlei Vögel zu bestaunen, nicht nur Tauben. Wenn die Gruppe rastete, legte er sich mit ausgestreckten Armen auf die Wiese, spürte und roch das erfrischende Gras unter sich und kicherte über Ameisen und Käfer, welche in Heerscharen auf ihm herumkrabbelten. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sie stundenlang am Boden kauernd beobachtet. Während Enzo sehr geschickt Fische aus den Bächen fing, watete Simon in einiger Entfernung in den kühlen Wellen. Seine Welt war nicht nur weiter geworden, sondern vor allem auch bereichert von vielfältigen Vergnügungen.
Als Enzo am Nachmittag des ersten Tages im Bach gestanden war und geschickt nach Fischen geschnappt hatte, wagte sich auch Simon hinein, rutschte aber auf den bemoosten Steinen aus und fiel ins ziemlich kalte Wasser. Nach einem Japser des Schreckens brach er in schallendes Gelächter aus, plantschte und hopste herum und war kaum mehr aus dem Bach zu bekommen. Enzo nahm das zum Anlass, ebenfalls ein Bad zu nehmen. Während anschließend das Gewand in der Sonne trocknete und sie sich in Decken hüllten, nutzte auch Sophie den sanft plätschernden Bach für ein Bad. Nur Paquette saß lediglich am Ufer und benetzte ihre Füße.
»Da!«, rief Simon und zeigte auf eine Libelle, die über dem Wasser tanzte. Gern wäre er ihr nachgeeilt, aber seine Decke sollte nicht auch noch nass werden.
»Ich finde Libellen auch sehr schön. Du wirst noch so viel kennenlernen, Quasimodo!«, rief ihm Enzo ins Ohr. »Ich freue mich, dass du vom Turm heruntergekommen bist, hierher auf die Wiese, hinein in den Bach, in die Wälder, unter Menschen.«
Simon schaute Enzo lange an. Er raffte die Decke um sich und kramte das Schreibbrett hervor. In einer Holzschatulle lagen einige Stücke Kreide.
›Ich freue mich auch‹, schrieb er, ›und ich bin jetzt nur noch Simon. Quasimodo ist am Turm geblieben.‹
Enzo brauchte lang, bis er die Worte entziffert hatte.
»Mein Freund Simon«, rief er endlich. Beide lächelten.
Am Morgen des zweiten Reisetages blieb Simon plötzlich auf einem weiten Brachland stehen, das sie gerade überquerten und schaute zum Himmel empor. Es war noch kühl und nebelig, die ersten Sonnenstrahlen brachten die taubenetzten Halme zum Glitzern. Über ihnen kreisten Tauben, welche sie nicht weiter beachteten, denn es gab derer ja überall. An diesem Tag aber umkreisten sie die Wandergruppe, senkten sich wie Kundschafter herab und segelten dann wieder in die Höhe. Simon ließ seinen Lockruf weithin hörbar erschallen, eine Mischung aus Gurren und Summen. Da kamen sie nacheinander herab, setzten sich auf seine Schultern, ins Gras, auf seinen Kopf. Es waren seine Tauben von der Notre-Dame. Freudentränen verschleierten ihm den Blick, er streichelte die gefiederten Freunde, sprach mit undeutlichen Lauten zu ihnen und suchte fieberhaft nach Krümeln. Miteinander fanden sie einige Brotreste in den Reisebündeln, um dem geflügelten Besuch ein Festmahl zu bereiten.
»Sind wohl Besondere? Also nicht als Braten geeignet?«, fragte Enzo.
»Untersteh dich! Das sind Simons Freundinnen!«, antwortete Sophie entrüstet.
Es war, als hätten die Tauben ihren Freund grüßen wollen, jedenfalls erhoben sie sich bald wieder. Simon winkte ihnen glücklich nach.
»Paquette ist dankbar.«
Ihre kaum vernehmbare, gehauchte Stimme wirkte wie aus einer anderen Welt. Simon hatte die Worte nicht gehört, wandte sich aber zu ihr um, die ihn sanft berührt hatte als sie sprach.
»Paquette ist dankbar für den Glöckner.«
Sophie beobachtete die beiden. Zwischen ihnen herrschte ein besonderer Zauber.
»Es ist gut, dass du mitgekommen bist, Paquette«, sagte Sophie, dann setzten sie ihren Weg fort. Schon am folgenden Tag wollten sie das Gebiet von Chartres erreichen.
Im Palais du Louvre besprach sich unterdessen Anne de Beaujeu mit Bischof Guillaume Briçonnet über bedenkliche Vormachtsansprüche des Duc Louis d’Orléans. Schon ihr Vater, König Ludwig XI., hatte versucht, diesen Strang der Linie Valois zu schwächen und somit die eigene königliche Linie auszuweiten. Da von Duc Raphael aus Chartres keine Ambitionen zu Herrschaftsansprüchen erkennbar wurden, konnte Louis d’Orléans nicht mit dessen Unterstützung rechnen und verlor den Anspruch auf Vormundschaft des damals erst 13-jährigen Königs Karl VIII. Aber auch jetzt noch, vier Jahre danach, musste man auf der Hut sein, obwohl die Generalständeversammlung die Regentschaft für den minderjährigen Sohn Ludwig XI. an Karls Schwester Anne und den königlichen Berater Briçonnet übertragen hatte. Leider war Duc Raphael de Valois in Chartres nicht an einem engeren Zusammenschluss mit Paris interessiert, somit behielt Louis d’Orléans auch ohne dessen Unterstützung ein erhebliches Machtpotential. Der König selbst war froh über den Einsatz seiner um zehn Jahre älteren Schwester, die er erst seit seiner Inthronisation näher kennengelernt hatte. Moderne Kriegsführung und immer besser entwickelte Waffen waren für