Ungebremst durch Kermanschah. Maryam Djahani

Ungebremst durch Kermanschah - Maryam Djahani


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lieber als das. Ich trete auf die Bremse. Die Frau zieht das Mädchen an der Hand und öffnet die Hintertür. Der Mann rückt nicht wie andere Fahrgäste zur Seite, um nur ja nicht nass zu werden, sondern nimmt das Mädchen bei der Hand und hilft ihr, schneller einzusteigen. Ich sehe sie durch den Rückspiegel an. Als ob sie einem aufgewühlten Fluss entstiegen wären. Ich drehe die Heizung auf. Als wir weiterfahren, holt der Mann aus seiner Tasche in Goldpapier gewickelte Schokolade und gibt sie dem Kind.

      “Chocolate wärmt. Iss, Kleine.“

      Das Mädchen grapscht nach der Schokolade. Seine Mutter sagt: “Danke, Bruder.“

      Man hört das Schokoladenpapier rascheln. Im Gesicht des Mannes spiegelt sich Zufriedenheit und in dem des Mädchen Hochgenuss vom Biss in die Schokolade. An der Ershad-Kreuzung sehe ich mich um. Keine Spur von Fariba, wo mag sie jetzt sein? Was macht sie wohl?

      Am Azadi-Platz steigt die Frau aus. Ich nehme die Orange vom Armaturenbrett und halte sie dem Mädchen hin. Sie fällt mir aus der Hand unter den Rücksitz. Der Mann bückt sich und findet sie.

      “Hier, Honey. Hau rein und genieß ein bisschen Vitamin C.“ Bevor ich einerseits das „Honey“ und andererseits das „Hau rein“ verdaut habe, lacht das Mädchen schon und zeigt dem Mann ihre Zahnlücke. Der Mann lächelt zurück. Unwillkürlich muss auch ich lächeln. Nicht in Richtung des Mädchens, sondern des Mannes, der in meiner Phantasie zum smarten Supermann wird, der mich im Spiegel anlacht. Und ich weiß nicht, warum ich in genau diesem Moment fühle, dass ich mich vor gut aussehenden Männern fürchte. Vielleicht, weil auch Hamed gut aussah und sehr auf sich hielt, und weil ich allmählich herausfand, wie schnell ihn Gleichförmigkeit langweilte. Eines Morgens hatte ich das Gefühl, ich wäre soeben aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht, an einem fremden Ort. Der Duft von Hameds Nivea-After-Shave war neu für mich. Die Möbel kamen mir bedrückend fremd vor. Auch die frohe Farbe von Hameds T-Shirt und seine cremefarbene Slash-Hose waren mir fremd. Ich fühlte, dass ich weder ihn kannte, noch diese Wohnung. Ich starrte ihn an. Ich dachte, er müsse fragen, warum ich ihn so ansähe. Aber das tat er nicht, sondern verabschiedete sich und ging, ohne auf meine Antwort zu warten. Während er auf dem Weg zum Laden war, starrte ich einige Minuten im bedrückenden Schweigen der Wohnung auf einen Punkt und fragte mich, warum Hamed mir Abend für Abend um Punkt zehn Uhr eigenhändig meine Antibabypille brachte und sie mich schlucken ließ? Warum bedurfte es zum Einschalten seines Handys tausender Kniffe und PIN-Codes wie bei den Schließfächern der Zentralbank? Warum sah er ständig auf die Uhr, wenn er zuhause war, wann es Schlafenszeit war oder Zeit, in den Laden zu gehen? Warum wurde ich nicht Taxifahrerin, sondern vergeudete mein Talent mit dem Kochen zementartiger Ghorme Sabzi oder dem Scheuern von Flecken auf dem Gasherd?

      Wir umrunden den Platz. Im Wagen mischt sich eine angenehme Wärme mit dem Rasierwasserduft des Mannes. Ich trete aufs Gas, um ihn so schnell wie möglich ans Ziel zu bringen. Ich lasse die Abzweigung des Zweiundzwanzigsten Bahman hinter mir. Fahre durch eine Pfütze. Wasser spritzt auf die Scheiben. Der Mann hebt den Kopf.

      “Halten Sie vor dem Internet-Café.“

      Ich zeige ihm die Uhr auf dem Armaturenbrett.

      “Bruder, es ist zwei Uhr nachmittags. Jetzt ist nirgendwo geöffnet.“

      “O.K. Dann fahren Sie langsam. Und schnallen Sie sich an.“

      Und wieder vertieft er sich in seine Zeitschriften. In meinem Hirn haben sich zwei Drähte kurzgeschlossen. Wenn der Typ wüsste, was der Befehlston eines Mannes bei mir verursacht, hätte er sich sicher auf die Zunge gebissen und mich mit dem positiven Bild von ihm weiterfahren lassen. Vereinzelt hatte ich zwar schon ängstliche Fahrgäste, die wollten, dass ich langsam fahre. Aber als Verkehrspolizist hat sich bis jetzt noch keiner aufgespielt.

      Ich schalte das Radio aus und richte mich im Sitz auf. Ich habe ihn im Rückspiegel. Ich warte, dass er aufblickt, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich vielleicht nur eine an den Absender zurückgesendete Frau und Taxifahrerin sein mag und die Hand vor diesem und jenem aufhalte, aber - mit den Worten meiner Mutter: “Jeder ist Meister seines eigenen Faches.“

      Doch er hebt kein einziges Mal den Kopf, bis wir am Ziel sind, und unsere Blicke treffen sich nicht. Vor einer Gasse mit einem geschlossenen Supermarkt an der Ecke sagt er: “Danke.“

      Ich ziehe die Handbremse, um anzuhalten. Wenn er Bescheid weiß, ist ihm klar, was das bedeutet. Eine Geste der Einschüchterung. Ungerührt steigt er mit einem Armvoll Zeitschriften aus. Bei diesem Auftreten war nicht mehr von ihm zu erwarten.

      “Wie viel macht das?“

      Mein Blick fällt auf die Scheine in seiner Hand. Er hat sie schon vorbereitet. Innerhalb einer tausendstel Sekunde schätze ich die Anzahl ab. Schließlich schreibe ich auf einen imaginären Strafzettel: „Wegen Einmischung in die Angelegenheiten eines verdienstvollen Fahrers fünf Toman Strafgebühr.“

      “Zehn Toman.“

      Ich warte darauf, dass er protestiert. Er tut es nicht. Durch die Scheibe reicht er mir mit zwei Fingern einen Zehn-Toman-Schein. Seine Finger sind weiß und behaart. Wie Hameds Finger. Ich muss daran denken, heute Abend meine Hände in Whitex zu legen. Ich nehme den Schein. Als er sich zum Gehen wendet, deutet er auf den Gurt.

      “Sie haben den Gurt vergessen.“

      Er schlendert davon. Ich steige halb aus und klatsche mit der flachen Hand auf das nasse Wagendach.

      “Hey Bruder…“

      Er dreht sich um. Grüne Augen unter dichten Augenbrauen verleihen ihm das Aussehen eines Wolfes.

      “Bist du etwa dafür angestellt, dass du hier herumkommandierst?“

      “Verehrte Dame, muss man dafür angestellt sein, um auf etwas aufmerksam zu machen?“

      “Es ist nicht nötig, dass du auf was auch immer aufmerksam machst.“

      „O.K….O.K. Sorry. Es war falsch, dass ich mir Sorgen um eine Mitbürgerin gemacht habe.“

      Er schüttelt verächtlich den Kopf und geht. Als ob ich gleich wie eine Schreckschraube aussähe, nur weil ich nicht super-weiblich bin, wie Frauen eigentlich sein müssen. In den letzten Jahren schüttelte auch Hamed auf diese Art den Kopf. Wenn er zuhause war, fühlte ich mich wie eine Küchenschabe, die klammheimlich aus der Kloschüssel gekrochen ist und das Haus und Leben eines Mannes besudelt hat, der und dessen Familie „Klasse“ höher schätzen als Brot im Kasten. Einmal hörte er bei Tisch zu essen auf und sah mich an. Er fragte:

      “Ist jemand hinter dir her?“

      Ich antwortete: “Nein. Wieso?“

      “Warum nimmst du dann so große Bissen?“

      Das Essen blieb mir im Halse stecken. Ich hatte das Gefühl, dass ich gleich an meinem Bissen ersticken würde. Ich schlug mit dem Löffel auf den Tisch: “Du tust so, als ob wir uns erst seit heute kennen würden. Ich weiß genau, wo dich der Schuh drückt. Meine großen Bissen sind es nicht. Das sind nur Vorwände…“

      Den nächsten Bissen nahm ich noch größer, und er fing kopfschüttelnd wieder an zu essen.

      Der Regen rinnt mir wie Tränen über das Gesicht. Und über zwei Haarsträhnen, die aus meinem Schlupfkopftuch herausgucken. Ich sehe dem Mann nach. Er entfernt sich, und ich versäume die Gelegenheit, ihm seine Verachtung heimzuzahlen. Er geht fort, und ich bleibe stehen und werde nass. Ich hebe das Gesicht zum Himmel. Dicke Regentropfen fallen mir auf Wangen, Lippen und Wimpern. Wie lange ist es her, dass ich im Regen gelaufen bin? Wie viele Jahre? Wie viele Jahrhunderte? Das letzte Mal war vielleicht mit Babak, als wir im Regen nach Taqe Bostan liefen. Er fühlte sich erwachsen. Dabei war er noch nicht einmal fünfzehn, aber schon groß für sein Alter. Mit einem Benehmen wie ein dreißigjähriger Mann. Er sagte: “Zieh einen Tschador über, ich will dich ausführen.“

      Ich erwiderte: “Ich komme mit, aber in Hosen und Hemdbluse. Wenn du mich so mitnimmst, gut, wenn nicht, mach was du willst…“

      Er meinte: “Mädchen, dort treiben sich Proleten herum, willst du,


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