Siehdichum. Anne Dorn

Siehdichum - Anne Dorn


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ärgerte sich zugleich.

      Lange blieb es draussen stockdunkel. Keine Ortschaft, erst recht kein Bahnhof. Sie nahm ihre Handtasche und trat in den Gang. Deutlicher noch schlugen und krachten die Räder. Die Pendeltür zum Kopf des Waggons bewegte sich – vom Fahrtwind! Sie griff links und rechts im Gang nach Halt. Als sie die Tür aufstieß, fegte ihr ein heftiger, feuchtkalter Luftstrom entgegen. Nach nur einem Schritt vorwärts war sie stehengeblieben: Der Waggon stand offen!

      Martha sah dicht an dicht kleine Birkenstämmchen, mannshohe Fichten, irgendwelches andere Gehölz auch und direkt dahinter Kiefernwald. Es war eine nur augenblicklich schwach beleuchtete, schwarze Wand, an der der Zug entlangraste. Darauf war sie nicht gefasst – ja, ja, das war der Wald! So plötzlich und unerwartet stand er vor ihr. Keinem Menschen, nicht einmal sich selbst hatte sie dieses Reiseziel genannt. Es gab keinen Grund dafür, nur dieses Gefühl: Im Wald. Im Wald musste es gewesen sein. Johannes, der kleine Bruder, war nie zurückgekehrt. Er war einberufen worden am Ende des Krieges, angeblich zum Reichsarbeitsdienst. Aber die Jungen hatten Waffen bekommen, man hatte sie in der Gegend von Adelnau/Odolanów in Marsch gesetzt. Und ewig, ewig lief der kleine, noch kindliche Bruder vor Martha her, einen Feldweg entlang, über eine Anhöhe – bis diese haltlosen Träume in einem Wald endeten. Er musste dort verscharrt sein, in Polen.

      Jeder Wald war auf seine Art groß, großartig und überraschend lebendig. Für Tote gab es nichts Besseres als einen Wald. Martha starrte ins vorüberziehende, dunkle Gewirr. Sie konnte stürzen, aus dem Türloch fallen. Sie konnte aber auch nicht von der Stelle. Es gab den Zug, den Fahrtwind, eine offene Tür und Wald.

      Vor Monaten hatte sie einen Antrag auf Reisekostenzuschuss gestellt. Ein Ministerium hatte den Antrag genehmigt. In Warszawa, Kraków und Poznań gab es Institute für deutsch-polnische Zeitgeschichte. Vom Wald hatte sie nirgendwo geredet und nirgendwohin davon geschrieben. Niemand hatte sie vor dem offenen Türloch in der Eisenbahn gesehen.

      Zurückgekehrt in ihr Abteil, lauschte sie, und hörte, dass auf der nächsten Station wer die Waggontür schloss.

      Am Montagmorgen wird Martha Lenders hier, im Hotel, von einem Menschen abgeholt werden, der versprochen hat, ihr zu helfen. Gestern, als der Zug endlich in Poznań angekommen war, hatte sie ihn entdeckt, bevor er sie sah. Im gelblichfaden Licht der Bahnsteigbeleuchtung erkannte sie den großen, geraden Menschen. Er trug seinen Trenchcoat und seine schwarze Baskenmütze. Ein einziges Mal hatte der Zufall sie beide am gleichen Ort, zur gleichen Zeit ans Vortragspult gerufen. Zu keiner weltbewegenden Sache: Experimenteller Film. Immerhin in Berlin. Seither nannte Martha den ihr sympathischen Henryk Szaruka insgeheim beim Vornamen. Henryk also hatte sich auf dem Bahnsteig nach ihr umgesehen. Sie hatte versucht, sich möglichst gerade zu halten, bevor er sie sah.

      Statt nach dem Frühstück in die Stadt zu gehen, kriecht Martha im Zimmer 114 noch einmal ins Bett. Die Matratze ist durchgelegen, das Deckbett dünn. In der Nacht schon hat sie ihren Mantel als zweite Decke darübergebreitet. Fest eingewickelt und mit geschlossenen Augen wiederholt sie eine sich selbst gestellte Verpflichtung: Ich suche Johannes.

      Aus diesem Grund ist sie in Koblenz aufgebrochen, nach Warszawa geflogen, hat Kraków und nun auch Poznań aufgesucht. Dieser Drang, sich umzudrehen und nach Osten zu schauen, hat etwas Animalisches, denn in der großen Umarmung aller erdenklichen Örtlichkeiten, die die Spuren des Bruders bewahren könnten, findet sich auch ein winziges Nest südöstlich von Dresden, in dem Martha in einem Bruchsteinhaus zwischen Mühlgraben und Flüßchen das Licht der Welt erblickte. Noch immer hält sie für gut, dass sie vor sechsundfünfzig Jahren das alte Zuhause verließ. Sie konnte nicht ahnen, dass die deutsche Teilung diesem Verlassen Endgültigkeit anhängen würde. Ihre heiße Liebe zu diesem Punkt in der weiten Welt schwelt in ihr, so viel sie auch dagegen andenkt.

      Am Anfang der Reise nach Polen hatte Constanze, Marthas älteste und viel gereiste Tochter aus München, die Mutter begleitet; zehn Tage lang, mehr Zeit hatte sie nicht. Nach Constanzes Rückflug passierte Martha etwas jenseits jeder Erklärbarkeit: Der Bruder war plötzlich da! Das konnte sie genau fühlen, sogar riechen. Sie war immer schon überzeugt davon, dass Menschen nicht nur mit denen leben, die praktisch erreichbar sind. Viel intensiver – und leichter – leben sie mit den Stillen, die nicht erreichbar, doch immerzu gegenwärtig sind, Gedanken lenken, Geschichten mitbestimmen und hören, was die lebende Seele verschweigt. Johannes kam, sobald seine Schwester allein war. Um sie zu begrüßen?

      Wieso roch er nach Feuer, gerösteter Gerste und diesem in einer verbeulten Schüssel aufgebrühten Malzkaffee? War einmal noch der von ihnen beiden mit einem Krümel Hefe vermischte Absud in Gärung geraten und den Korken nach aus den Flaschenhälsen in die Luft gezischt?

      Sie saß auf einer der hölzernen Bänke gegenüber den Krakauer Tuchhallen, als das Gefühl von der Nähe des Bruders jäh wieder erlosch. Von Tauben umtrippelt und umflattert, mit den regelmässigen, zagen Anpreisungen einer Krakauer Blumenfrau im Ohr, fühlte sie sich ertappt: Seit dem Beginn ihrer Suche nach Spuren des Bruders, hielt sie mit einigen neu in ihr Leben eingetretenen Menschen Kontakt, der verschwundene Bruder half ihr noch einmal, in die Welt zu treten.

      Nie war es ihre Art gewesen, Urlaub zu nehmen, einfach so. Touristen hielt sie für Übeltäter. Ihrer Meinung nach sollten Menschen nur dahin fahren, wo sie zu tun hatten. Sie reiste gewöhnlich, wenn man sie rief. Dem Gerufensein half sie mitunter nach –

      Ihre Kinder sind heute erwachsen, sie hat keinen Partner mehr. Ins Leben verflochten blieb sie bislang, weil sie rechtzeitig vor dem Ende ihres Grafikerinnen- und Hausfrauendaseins eine Arbeit nur für sich selber erfand: Dreißig Jahre ist es her, dass im Westen von »mehr Demokratie« die Rede war, und »nicht alles so sein musste, wie es immer war«. Damals schickte sie zweiundzwanzig Minuten Schmalspurfilm einer neu gegründeten Fachhochschule zu. Die Dozenten rätselten: Auf dem Streifen waren Gegenstände zu sehen, und die oft nur halb. Der Text, den der Betrachter zu hören bekam, enträtselte die angeschnittenen Bilder kaum, und doch war es so, dass diese Halbheiten zusammen mit dem Ton neugierig machten. Immerhin, sie hatte Menschen beeindruckt. Das war ihr gelungen, obwohl sie die Regeln, wie man filmisch Eindrücke schafft, nicht kannte. Sie hatte sich nicht geschämt, ihr Unwissen zuzugeben und vor den Hochschuldozenten darüber zu lachen! Natürlich, das war närrisch gewesen. Damals hatte sie sich entschlossen, noch einmal anzufangen.

      In Poznań, am dritten Ort ihrer Reise, begegnet Martha erneut ihrer Einsamkeit. Sie hätte mit ihrem Reisestipendium England als Ziel wählen können, sogar Australien. Kanada. Peru. Für eine Reise in diese Länder hätte sie mehr Geld gebraucht – und auch bekommen. Es ist den Kollegen im Berufsverband und den Geldgebern gleichgültig. Wollte sie ihr restliches Leben einfach wegschlafen, kein Hahn krähte nach ihr. Tiere verkriechen sich im Dickicht, beim Sterben und beim Gebären. Martha denkt an diesem Sonntagmorgen immer wieder an das offene Türloch im dahinbrausenden Zug und an den Wald, der so dicht hinter den Gleisen stand. Und sie hat noch das Heulen des Fahrtwindes im Ohr, fühlt noch den Sog, hinaus und hinab ins Schwarze.

      Martha Lenders steht am 29. Oktober des Jahres 2000 gegen ein Uhr mittags in Poznań auf der Straße. Breit fließt dieser uralte Weg links von einem Hügel herunter und verschwindet im Bogen zwischen den Häusern. Wie leicht und geräuschlos flöge ein Schlitten darüber hin! Vom Bahnhof hügelab und hinaus vor die Stadt. Ein gewisser Roderich neben Martha, Sternenhaufen im schwarzblauen Himmel, und es herrscht Frost, der den Atem verschlägt, die Nase stiehlt, jedes Haar, das unter der Mütze hervorkommt, weiß bereift. Die Pferdehufe schlagen den Schnee, Schlittenglocken bewahren vor Schlaf. Martha sitzt neben dem jungen Herrn, beide wärmen ihre Füße unter der einen Decke. Seine Hände halten die Zügel – so war es, als Martha Schulmädchen war. Dieser Bruder von Mechthild, einer Freundin, die für kurze Zeit auch in Sachsen zur Schule ging, hatte lange gewartet. Die Züge aus dem Altreich kamen im Januar 1944 mit großen Verspätungen an, obwohl die Strecken nach Osten noch fast unzerstört waren. Martha erinnert sich an weiße, reine Felder und Wälder. Auch an die Ankunft auf dem Gut: Alle waren zu Bett gegangen, aber in der Röhre des Kachelofens warteten Kartoffelplinsen, eine Scheibe Zwiebel jeweils in deren Mitte eingebacken. Roderich tröpfelte mit Zuckerrübensaft ein großes M auf ihren Plinsen.

      Das Gut lag nordwestlich von Posen. Dass der junge Herr in sie verliebt war, bescherte Martha Probleme.


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