Siehdichum. Anne Dorn

Siehdichum - Anne Dorn


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war.

      Sie litt nach dem Begräbnis des Vaters und der Todeserklärung des Brudes einige Wochen an einer Mittelohrentzündung, aber eigentlich an einer sich tiefer fressenden, bohrenden Leere.

      Vor gut zwei Wochen, am 14. Oktober 2000, nachmittags 15:30 Uhr, bei bestem Sonnenschein, war Martha in Warschau/Warszawa gelandet. Verblüffend glatt waren ihre Vorbereitungen verlaufen, nun rasch in den Bus, das Gepäck irgendwie – sie hatte einsehn müssen, dass es damit vorbei war. Der Taxifahrer, der sofort bereit stand, sprach ein nuscheliges Englisch. Sie zeigte ihm vier Finger: »Vierzig Zloty, ja?« Ihr Gepäck war schon im Wagen. Sie fuhren eine ganze Weile. Vor dem Hotel setzte der Mann sich auf den Kofferraum und wollte siebzig, machte dabei eine grimmige Miene. Auch Martha war wütend, sie verlangte, dass er dann ihr Gepäck bis zur Hotelrezeption zu tragen habe. Sofort verwandelte sich sein Gesicht: Mit unterdrücktem Lachen schleppte er die Koffer an Ort und Stelle, und ganz schnell – an den mit festen Tritten paradierenden Hotelportiers vorbei – lief er, fünfzig Zloty in den Händen, zurück zu seinem Wagen. Tür zu, ab.

      Martha durchfeuerte in dem großen, gut möblierten Hotelzimmer das abenteuerliche Gefühl, hier einer anderen, besseren Sorte Mensch zuzugehören. Durch die Fensterfront sah sie hinab auf die Straße: Links aus dem Dämmergrau kam ein Strom von Lichtern auf sie zu, und rechts floss ein rot aufglühendes Band von Rücklichtern von ihr fort. Dies alles schien geräuschlos vor sich zu gehen, pure Illumination, dem Hotelgast zu Ehren. Mit Freude packte sie aus und brachte ihr Gepäck so unter, dass Platz genug für Constanze blieb, die einige Tage später eintreffen wollte. Seit ihren Kindheitstagen existierte in Martha ein seltsamer, innerer Befehl, dem sie gehorsam war: Immer und auf jeden Fall hatte sie als erste den Weg durch die Büsche zu bahnen, die widerspenstigen Schlingpflanzen zu zerreißen und die Dornen zu zertreten. Sie wusste ganz gut, und in Warschau in besonderem Maße, dass es keine Notwendigkeit mehr für ihren vorauseilenden Eifer gab. Auch schnitt sie sich damit ins eigene Fleisch, weil sie auf diese Weise ihren erwachsenen Kindern die Möglichkeit nahm, ihr zu helfen. Trotzdem, und aus welcher Angst auch immer, sie konnte nicht davon lassen, im vorhinein Äpfel neben Constanzes Bett zu stellen, im Badezimmer die Handtücher zu befühlen und das vermeintlich weichere für die Tochter zu bewahren. Sie probte sogar die Begrüßung und zündete eine Kerze an.

      Constanze war ihr Wunschkind. Marthas Mann, Constanzes Vater also, den Martha wenige Jahre nach Kriegsende in Westdeutschland traf, hatte mit seiner Schlacksigkeit, seinen hungrigen Augen und seinen verdeckten, wohl frühen, bitteren Erfahrungen an ihre Beschützerinneninstinkte appelliert. Gleichzeitig war etwas Rätselhaftes an ihm gewesen, was sie einfach stehenbleiben und Halt machen ließ. Nicht gar so in Reichweite, immer etwas in zumindest innerer Distanz. So entbehrte sie von Anfang an ein Gegenüber für ihre Wärme, ihr Zutrauen, ihre Zuversicht. Constanze kam an einem Wintertag zur Welt. Es schneite, der Nußbaum vorm Fenster zeigte sich rein und hell, das Baby war einfach bezaubernd. Es wurde Martha nur schwer, das Leuchten des Anfangs über Constanzes weiteres Leben und das ihrer Geschwister auszudehnen. Krankheit, finanzielle Not, wachsendes Misstrauen gegenüber dem Vater der Kinder brachte sie in Konflikte; auch das Vorhaben, ihre Kinder niemals zu ängstigen, trieb sie in selbstquälerische Zweifel.

      In jenem Warschauer Hotel, als die für Constanzes Ankunft gedachte Kerze schon einmal zur Probe angezündet wurde, blieb Martha Zeit genug und auch Ruhe, über die Einladung an die Tochter »Komm mit nach Polen!« nachzudenken. Es war dann so gelaufen, dass Constanze gleich nach der Ankunft vorschlug, dass jede jeden Morgen die gleiche Summe in ein Portemonnaie gibt, woraus dann alles bestritten wird, was man gemeinsam unternimmt. War die gemeinsame Kasse leer, legten beide wieder die gleiche Summe ein. Das war eine gute und brauchbare Idee gewesen, Marthas verrückte Furcht, in ewiger Bringschuld gegenüber ihren Kindern zu sein, schien mit dem forschen Vorschlag Constanzes abgeschafft. Aber war es nicht endlich Zeit, miteinander zu streiten?

      Jetzt sitzt Martha, so gut das geht, auf den Handgriffen ihrer Gehstöcke und drückt die Stockenden in den Spalt zwischen Rathausfundament und Posener Marktplatzpflaster. Sie möchte hier irgendwo richtig sitzen, und vielleicht auch essen. Aber das sachte Pendeln auf den Gehstöcken ist auch eine Verführung. So ruhten sie und Johannes sich aus, wenn sie lange im Wald unterwegs waren. Immer schnitten sie sich gleich zu Anfang Stöcke, verzierten im Gehen die oberen, dicken Enden mit kreuzweisen Einschnitten. Im Wald konnten sie gut die dünnen Enden unter Wurzeln oder größere Steine zwängen, und dann auf ihren wippenden Sitzgelegenheiten miteinander rasten. Das war ehrenhaft, weil sie dabei doch standen, also nicht zugaben, müde zu sein.

      Es gab für Bruder und Schwester nur eine Möglichkeit einander schwach zu zeigen: Sich im gleichen Augenblick auf den Waldboden fallen zu lassen und mit Geheul die geheim vereinbarte Tapferkeit zum Teufel zu schicken!

      In einem der schmalbrüstigen Posener Bürgerhäuser dem Rathaus gegenüber, bedeckt eine Tafel ein kleines Parterre-Fenster. In goldenen Buchstaben ist darauf das Wort ›Musik‹ zu lesen, und hinter den Fenstern dieses Hauses schimmert Licht. Martha liest die auch auf Englisch verfasste Mitteilung, dass sich hier das Posener Instrumenten-Museum befindet.

      Instrumente! – Schnell durch die Tür und den Wolldecken-Windfang! Die Garderobenfrau und Kassenwartin hütet eine einzige Jacke, – vielleicht ist das ihre eigene. Martha zahlt. Sie redet in Englisch auf die Frau ein, beklagt, dass es so wenige Museen für Instrumente gibt, so dass die Frau, die kein Wort versteht, ergeben nickt, die ungestüme Besucherin aber im Auge behält. Martha will alles sehen!

      Schon immer hat es sie beschäftigt, wieso Menschen aus Schafsdärmen, Roßhaar, Tannenholz, Harz, Blech, Elfenbein, Ziegenbälgen, Schweinsblasen, Schilfrohr und einfach allem Dinge fabrizieren, Geräte formen, um ihrem Drang, etwas zu sagen, was nicht in die Sprache passt, eine Brücke zu bauen. Ein spezifischer Druck der Seele verschafft sich Luft – und die Luft, die diesen Menschen umgibt, beginnt, wenn er ein Instrument bedient, zu schwingen. Nicht irgendwie! Da muss es nach Marthas Vorstellung noch eine Sucht nach Genauigkeit geben. Und man hat geschnitzt, gesägt, geklopft, gebogen, gezogen, gebohrt, geklebt, geschabt und was noch mehr. Welche Herrschaft der Töne, dass sie diese Liebesdienste verlangen! Was sind das für Menschen, die das Verlangen der Töne entschlüsseln und Musikinstrumente bauen?

      Martha mit dem kleinen Bruder im Mai in den Wiesen: Jeder sucht nach dicken Stengeln der Löwenzahnblüte. Schnell ein kinderfingerlanges Stück von der Blütenstengelröhre abgeknipst und ein Ende davon zwischen Daumen und Zeigefinger platt gedrückt. Jetzt pusten sie durch das gequetschte ›Mundstück‹ und der Stengel jault, jammert, furzt, – im hohen Bogen die ›Flöten‹ in die Luft geworfen und neue fabriziert. Töne suchen, – aber alle sind sich so ähnlich! Am Rand der Wiese angelangt, wischen Martha und Johannes den Blütenstaub und die Spuren des milchigen Pflanzensaftes von den Fingern. Eine Weile noch bleibt ihnen der Rhythmus, dieses durch-das-Gras-laufen, sich Bücken, Pusten, die Arme in die Luft Werfen, –

      Der Rundgang im Posener Instrumentenmuseum beginnt enttäuschend, im ersten Raum stehen Musik-Automaten. Martha konnte Jukeboxes nie viel abgewinnen: »In the Summertime …«

      Ein Objekt allerdings, – sie beugt sich darüber, hockt sich davor hin, steht wieder auf, legt beide Hände auf das Glas der Vitrine: Eine Schreibmaschine für Komponisten! Herr Rundstatler in Berlin hat dieses Notoskript genannte Ding im Jahre 1900 erfunden. Man spannt Notenpapier ein. Vielleicht haben die Editeure sich lesbare Autographen erhofft. Martha hat nie davon gehört, dass jemals ein Komponist, über das »Notoskript« gebeugt, komponiert hätte. Herr Rundstatler mit dieser phantastischen Idee kam aus Berlin: Um 1900 gehörte Poznań zu Preußen. Händler reisten von Berlin nach Osten, also auch nach Posen. Von Osten waren Händler unterwegs nach Westen, also auch nach Berlin. Um 1900 war der Preußenkönig auch deutscher Kaiser. Wilhelm II baute in Posen um 1900 ein Schloss. Er war der Kaiser, der so albern aussah mit seinen gezwirbelten Bartspitzen.

      Nach dem ersten Weltkrieg waren Poznań, Berlin und das gesamte Deutschland kaiserfrei. Marthas junge Eltern in Sachsen besaßen ein Radio. Ein Kino eröffnete in für sie erreichbarer Nähe. Sie hörten Charleston, sahen Pola Negri auf der Leinewand schluchzen und jubeln, hörten und sahen in Dresden die »Dreigroschenoper«. Das Berlin der zwanziger Jahre pumpte Farbe in die Republik. Aber ein Sachse reiste nie nach Berlin. Marthas Vater und Mutter: Niemals!

      Martha


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