Siehdichum. Anne Dorn

Siehdichum - Anne Dorn


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Haus geboren, das seinen Eltern gehörte. Der Großvater handelte noch mit Kohlen, als Martha da aus- und einging. Kein Zweifel, die westlich der Elbe Geborenen waren begütert.

      Die Ostsachsen dagegen, die Familie der Mutter, da hatte niemand Pferd und Wagen oder gar ein Instrument! Doch geschah in der Oberlausitz, was Martha sehr beschäftigte: Großmutter, Großtanten und »Woga«, wie die Urgroßmutter genannt wurde, entschwanden in eine andere Welt, sobald sie zusammentrafen.

      Sie sprachen dann wendisch. Martha liebte es sehr, von nicht enträtselbaren Lauten umgeben, dazuzugehören und sich doch in der Fremde zu fühlen. Zumindest so wie im Wald! Man neckte sie, setzte ihr Klöße vor mit unaussprechlichem Namen, schickte sie, etwas zu holen, von dem sie nicht wusste, was es wohl war. Immer seltsame Spiele des Abschieds: Sagte sie der Großtante Aufwiedersehen, wurde gleich mehrstimmig widersprochen: »Nein, die Martha kommt nicht wieder, die kommt nicht mehr in die Polackei!« Und sie dann: »Das ist keine Polackei!« Und die anderen: »Ach so, – na dann vielleicht …« Man umarmte und winkte sich lange.

      Und wo war, wenn ihre Existenz in der Familie des Vaters der Wirklichkeit entsprochen hatte, die ›Dankwart‹ geblieben? Wie überhaupt war sie in die Hände des Paten gekommen?

      Es war nur die kleine, halbe Geige, die der Vater mit nach Hause brachte. »Kinder, eine Geige!« Die Mutter behauptete sofort: »Die ist für Martha zu klein und für Johannes zu groß.« Martha bekam dennoch Unterricht. Es klingt schaurig, wenn sieben Dorfkinder den vom Lehrer auf dem Harmonium vorgegebenen Ton treffen wollen. Also hatte die Mutter leichtes Spiel: »Geh an die Luft, – Geigen bringen die Schwindsucht!« Da war Marthas Lust, zu hüpfen, zu springen, zu fideln; aufgehoben zu sein in der Musik, in den schönen Bewegungen aller, die musizieren, nun ihr Geheimnis. Vielleicht hatte Johannes das gleiche. Sie beachteten sich, wenn sie beieinander waren, fragten sich aber nicht aus.

      Martha geht. Sagt der Wärterin, sie käme noch einmal wieder. Von der Straße her, durch die Fenster, besieht sie nun die Posener Cafés. Jedes wirkt ehrlich, und altmodisch. Altmodisch ist, einer Kaffeekanne den Kaffeewärmer überzustülpen. Altmodisch ist, abends ein warmes Fußbad zu nehmen. Und sich morgens in der Küche in einer Emailleschüssel mit kaltem Wasser zu waschen. Martha zuerst. Dann der Bruder. Er war kein Kind mehr, als sie ihn holten. Im Krieg war ein Mensch mit fast sechzehn Jahren erwachsen. Der Krieg erlaubte ungehörige Gedanken: Ausreißen. Sich von den Zwängen des Elternhauses befreien. Sterben aber, ahnen, dass man sterben muss: Hatte Johannes aus Vorahnung der Mutter beim Abschied seine erste, zur Konfirmation von der Patin geschenkte Armbanduhr zugesteckt? Gewöhnlich – wenn es denn so weit gekommen war – erhielten die Mütter Erkennungsmarke, Notizbuch und Armbanduhr mit der Feldpost.

      Martha besieht nun jede der Seitenstraßen, die vom Stary Rynek abzweigen wie Rinnsale von einem See. Sie versickern im Häusermeer. Menschen treiben die Gehsteige entlang, niemand ist in Eile. Die Straßenbeleuchtung wird eingeschaltet, hier und da auch in Schaufenstern schwaches Licht. Sie bleibt stehen und betrachtet Bücher. In einem Eckhaus mit vier Schaufenstern liegen wild durcheinander Bildbände mit Fotografien vom Alltag auf Preußischen Kasernenhöfen und kolorierte Abbildungen der Süßwasserfische. Landkarten, Radierungen, eine Shakespeare-Gesamtausgabe, »Herz der Finsternis«, französisch, als zerlesenes Taschenbuch. Der Reisende in Josef Conrads Roman findet im Urwald, weit entfernt von anderen Europäern, einen Wahnsinnigen und zerlesene Bücher.

      Es gab, während des Krieges, schmale Bändchen, gerade so groß wie ein Briefumschlag. Martha hätte dem Bruder das eine oder andere ›ins Feld‹ geschickt. Aber der Krieg war schon entlarvt. Johannes hatte vermutlich nicht einmal Zeit nachzufühlen, ob sein Notizbuch noch in der Brusttasche war.

      Die Titel der polnisch verfassten Bücher kann Martha nicht entziffern, bestenfalls Namen: Szczepanski, Zagajewski, Andrzejewski bitten, so wie sie sind, um Einlass in andere Sprachen, haben noch Halme von ihrem Nest am Körper und diesen prickelnden, fremden Geruch. Anders die nackten, in alle Sprachen einfügsamen Namen, zum Beispiel Krall: »Heh, sie! Sind sie wirklich Polin? Ich habe seit Tagen mit niemandem richtig gesprochen, erlauben sie mir, sie etwas zu fragen? Sie sind so viel jünger als ich, wie konnten sie ihre Geschichten schreiben? Sich in Opfer wie Täter hineindenken, obwohl sie weder Opfer noch Täter gewesen sind? Ich glaube ihnen. Helfen sie mir, an andere Wunder zu glauben. An die Engelsgeduld von Toten oder Verschwundenen. Mein Bruder ist vor Jahrzehnten hier in der Nähe verschwunden. Wir haben in einem Zimmer geschlafen, den gleichen Apfelbaum vorm Fenster gesehen, die gleiche Amsel flöten hören, und im Winter jeder für sich unterm Deckbett gewartet, bis das Feuer im Ofen wieder zu hören und zu riechen war. Haben uns Geschichten ausgedacht, in denen ein Ich und ein Du vorkamen, zwei Personen, die wir beide liebten. Sie waren unbedingt anders als wir. Wir waren uns selber zu dürftig.

      Sie haben Kinderherzen beschrieben, die vor Hunger zum dunklen, festen Punkt geworden sind. Und den Arzt, der das sieht und festhält, damit diese Ghetto-Kinder ihre unglaubliche Konzentration als Nachricht weitergeben. Was, meinen sie, bleibt von verschwundenen Menschen, die einfach weg sind, ohne den kleinsten Rest? Es heißt ja, dass »auch nicht ein Haar« auf der Welt verloren geht. Sie reden von ihm und mit ihm, dem die Menschen solche Verheißung andichten, als wüssten sie, wer er ist! Ich weiß das nicht.«

      Es war immer die Rede von einer Feldscheune. Von Partisanen. Und von einem Jungen, der mit einem Lungensteckschuss im Umkreis der Scheune liegen blieb. Zurückflutende Truppen hätten ihn aufgelesen, er sei im Feldlazarett gestorben. Vorher soll er erzählt haben, die Feldscheune sei angezündet worden. Wer von den darin verbarrikadierten Jungen versucht habe, zu fliehen, sei in den Kugelregen gerannt. Und dann immer das Achselzucken von Marthas Vater: »Vielleicht ist doch der eine und der andere davongekommen?« Und der Junge, der das gesehn haben wollte, wie war sein Name? Welche zurückflutende Truppe? Immer der abwesende Blick des Vaters, immer sein Mund in heftiger Bewegung, als wären da Worte verschluckt worden und wollten endlich heraus.

      Statt von der Feldscheune gibt es den konkreten Bericht von einem Rathaus: Es stand auf dem Marktplatz von Militsch. Nein, Milicz. Der Bruder war nicht darin, er gehörte dem 3. Zug der 3/401 an. In Milicz fanden nachweisbar der 1. und 2. Zug seiner Einheit ihr Ende. Ein weißrussischer Arbeitsmann war darunter. Die Russen kündigten an, das Rathaus zu stürmen. Der Weißrusse übersetzte. Ein RAD-Zugführer gab das Kommando: »Rennt! Rennt raus!« Sie benutzten das nächstliegende Fenster, die nächstliegende Tür. Die verbliebene deutsche wie polnische Bevölkerung musste ihnen später ein Massengrab schaufeln. Mit Gefangenen hielt sich die russische Sturmspitze nicht auf. Ein Junge jedoch hielt sich versteckt, im Keller, hinter einem Regal. Die Russen fanden ihn nicht. Aber der Hausmeister. Ein Deutscher? Ein Pole? Ein Deutsch-Pole? Er und der Junge krochen aus dem von herabgestürzten Balken und Toten verdeckten Kellerfenster. Sie nutzten die Schatten des lodernden Feuers. Das Rathaus brannte, Munition explodierte. Die Russen warteten.

      Geradeaus, am Ende der südöstlichen Seitenstraße des Marktplatzes von Poznań, tut sich ein schwarzes Loch auf. Es ist übermannshoch und schwungvoll gerahmt. Dämmrig zerfließen die Flächen links und rechts der Schwärze, enden im Kirchenrosa. ›Ohne den Katholizismus ist Polen nicht zu verstehen.‹ Diese Predigt der Reiseführer hat Martha geärgert. Sie stellt sich jetzt vor, das Portal sei der weit geöffnete Mund eines Rufers, oder eines Sängers. Sie hört sein »Komm, komm, es gibt hier Kirchenbänke!« Da ist sogar noch der zittrige, letzte Orgelton einer Ausgangsmelodie. Er schwingt – vor und hinter der Bretterwand, die das Kirchenschiff vor dem Dreck der Straße schützt, – durch den schwach erhellten Raum. Gerüste stützen die Deckengewölbe im Mittel- und Seitenschiff, überall die Gerüstfüße, metallene Schößlinge der Säulen. Der Kirchenraum hat etwas Erdiges. Martha sucht gleich in der hintersten Bankreihe einen Platz. Von der Orgelempore ein schussartiger Knall. So klingt es, wenn einem ein Gehstock auf die Dielenbretter fällt. Jetzt tappt da wer. Während Martha die Beine ausstreckt, kommt ein von Schals umwickeltes Wesen, gebückt, Schritt vor Schritt, genau wie sie mit links und rechts einem Stock in der Hand, aus dem Seitenschiff. Der Organist! Breiter Schädel, darauf ein Hut mit Krempe. Jetzt der Knicks vor dem Altar: Wie geschickt er das macht, stützt sich links und rechts auf seine Stöcke, wippt leicht in den Knien. Martha dagegen wagt nicht, ihre Beine zurückzuziehen und die Knie anzuwinkeln. Sie hatte es schon geahnt, der Krampf kommt und überfällt sie: Plötzlich straffen sich ihre Muskeln


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