Siehdichum. Anne Dorn

Siehdichum - Anne Dorn


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wurde gemäht, die staubigen Landstraßen dehnten sich in die Weite. Ab Jüterbog waren plötzlich Lastkraftwagen mit aufgesessenen Infanteristen treue Begleiter. Kraftradfahrer, Kübelwagen, Geschütze auf Lafetten, Panzer. Stunden um Stunden rasselten und klirrten Soldaten neben dem Mädchen Martha. Viele Tage bevor ›die polnische Soldadeska‹ den Sender Gleiwitz überfallen haben sollte, war eine Dreizehnjährige der Reichshauptstadt auf der Spur. Der ›Führer des deutschen Volkes‹ befand sich dort, nicht mit gezwirbeltem Schnurbart, aber zurechtgestutzt auch er, mit zur Fliege geschnittenem Barthaar. Berlin, also, – leise und ein bisschen ernüchtert, setzt Martha den Rundgang: Membraninstrumente. Die dünnen, glatt geschabten Häute und dann das Spannen. Immer bis an die Grenzen, immer eine Zerreißprobe.

      ›Auf die Pauke hauen‹ kann Martha nicht besonders gut. Dafür müsste sie ja überzeugt davon sein, dass es richtig ist, was sie denkt und tut. Wenn allerdings fünf Kesselpaukenschläge Sängerinnen und Sängern den Mund öffnen, damit das »Jauchzet, frohlocket –« unaufhaltsam die Wände und Herzen durchdringt, – als Altstimme im Chor des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach überkam Martha stets das unnachahmliche Weihnachtsgefühl, eine bestimmte Freudigkeit, ein deutsches Wohlsein. Man hat ihr auch erzählt, russische Soldaten wären der Meinung gewesen: ›Zu Weihnachten greift der Fritz nicht an! Er kann es nicht! Es ist wider seine Natur!‹

      Im November 1944 schickte Marthas Mutter einen Brief an die Tochter ins Salzkammergut: »Schau zu, dass du Weihnachten nach Hause kommst. Sie müssen dir frei geben. Du bist doch kein Soldat!«

      Nein, Martha war Pflichtjahrmädchen, leistete ihren Dienst in einer Familie, deren Männer ›im Felde‹ standen. Sie steckte den Brief der Mutter weg und kam am Silvestertag heim. Das nachgeholte »Oh du fröhliche« war entsprechend kläglich. Im Dorf krachten die Jungen mit Karbidbüchsen. Johannes gestand seiner Schwester, dass sie zwei, drei Platzpatronen verschossen hatten.

      In jener Silvesternacht, als noch niemand wusste, dass Johannes fünfzehn Tage später ›einrücken‹ musste, blies unten im Dorf wer Trompete. Es war der Sohn vom Friseur, der im Lazarett gewesen war, und nun wieder ›diensttauglich‹. Vater, Mutter und Martha umarmten sich, Punkt 12 Uhr, oben auf dem Berg. Sie wünschten sich, dass der Krieg zuende wäre. Von weiter her hörten sie Kirchenglocken, aus dem Dorf aber das Gekrach der Jungen und dieses ›Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen!‹.

      Vor Martha liegt ein gewaltiges Bronzehorn. Sie liest auf Englisch, es sei eines von den vieren, die es auf dieser Welt noch gibt, vorchristlich und entsetzlich schwer. ›Wenn die Drommeten erschallen‹ und ›Wenn die Posaunen von Jericho erklingen‹.

      Sie lehnt vornübergebeugt, als müßte sie ihr Gesicht verbergen, an der Vitrine der sanften Blasinstrumente. Da liegt eine Elfenbeinflöte; mehrere mit Intarsien oder ziselierten Klappen geschmückte Schalmeien, Oboen, Fagotte, Klarinetten, alles Waffen für intime Auseinandersetzungen: Schülerbands, Betriebs-Bläsergruppen, Feuerwehr-Blasorchester legen sich damit ins Zeug. Wer bläst wen unter den Tisch? Jazz-Formationen blasen zur Matinee. Am Abend in Koblenz, bevor die Kino-Hauptvorstellungen beginnen, mühen sich ukrainische, sibirische oder rumänische Bläser auf der Straße, ihre Mützen liegen umgekrempelt vor ihnen auf dem Pflaster, ein bisschen Silber ist drin. Pisa und Wien. Brüssel und Danzig. Paris und Prag. Geburtsorte für Blasinstrumente. Und ihre Familiennamen: Denner, Grundmann, Nowowiejski, Arciszewski. Martha übt leise die Aussprache. Ihr Mund bewegt sich, sonst nichts. Sie kann plötzlich nicht denken: Der Filz in der Vitrine vor ihr ist grün, Rohrflöten glänzen gelbbraun, wie Schilfrohr am Bach, im Teich oder im See. Die Samenkolben nannten sie Kanonenputzer. Wenn sie den langen Stengel kurz vor dem Kolben kappten, konnten sie das dicke, braune Ding wie eine Zigarre in den Mund nehmen und paffen.

      Johannes konnte, als er noch in gestrickten Hosen mit anknöpfbarem Leibchen durch die Welt marschierte, überhaupt nicht rauchen! Aber die Lippen aufstülpen, die Milchzähne blecken. Er hatte schon als Kleinkind ein wildes Getue, wenn er am Waldrand entlangstapfte. Packte er einen Frosch, drohte er ihm: »Pass auf! Pass auf!« Und Martha stand dabei und staunte. Sie nahm dem Bruder den Frosch nicht weg. Schaute ihm zu, wie er ihn auf den Stein klatschte, die Froschbeine dabei nicht aus den Fingern ließ und einen Stein nahm, oder ein Stöckchen, um langsam zu ›säbeln‹.

      »Johannes! Johannes!« Weiter hat sie es nie gebracht, hat sich umgedreht, ist aber bei ihm geblieben. Und wollte nicht wissen, was in dem Frosch drin war!

      Jetzt beginnt Marthas Flucht oder Aufstieg in die erste Etage, zu den Streichinstrumenten, den Lieblingen feinfühliger Leute: Aus Fichte, Ahorn, Tanne – mit ein ganz klein wenig Ebenholz – prunken die Geigen nur wenig, sie verbergen ihre Kostbarkeit bis zu dem Augenblick, in dem ihr Holz zu singen beginnt. Im Wald wäre es jetzt, trotz Spätherbst, sehr schön. Martha bestaunt verwandelte Bäume: Violinen, Bratschen, Celli und Contrabässe. Es rauscht ihr in den Ohren, aber das ist nur das Vielerlei der fremden Stadt im fremden Land, und ihre Unsicherheit, was nun werden wird. Ob Henryk ihr hilft? Wobei genau? Was sagt sie ihm, morgen früh?

      Unaufgefordert hat die Wärterin einen Stuhl gebracht. »Danke, – dzienkuje!« Ganz besonders für die Meisterwerke der italienischen Schule: Cremona. Andrea Amati. Geigen von Guaneri, Girolamo, Guadanini – Es riecht hier nach Firnis, obwohl die Instrumente sehr alt sind. Über die Fußbodenbohlen rennt eine langbeinige Spinne. Martha sieht zu, wie sie in dem Ritz neben dem Astknoten kurz vor der Fußleiste verschwindet. Im Wald sitzen überall Spinnen und Käfer und Larven auf der Lauer. Hier aber existieren sie frech in Gegenwart von Baronen, ja Heiligkeiten! Es kann sein, dass ein junger Geiger oder eine junge Geigerin aus Warschau/Warszawa vorbeikommt und sagt: »Morgen entscheidet sich, ob ich als 2. Violine, stellvertretende 1. Violine im Radio-Synfonieorchester angestellt werde. Geben sie mir eine Burzenski!« Und man nimmt sofort eine aus der Vitrine und gibt sie ihm oder ihr.

      Burzenski, Zwierzynski, Groblicz. Polnische Geigenbauer, von denen Martha nie gehört hat. Sie fragt die Wärterin, ob denn wer deutsch spricht, im Haus. Niemcy. Oder heißt es Niemiecki? Warum klingt die Bezeichnung für deutsch auf polnisch wie eine Verneinung?

      Die freundliche Frau sagt etwas von »Direktorin«. Heute ist sie nicht da. Es kommt Martha so vor, als wolle sich die Wärterin dafür entschuldigen. Das aber ist ihre Sache: »Verzeihung, – ich setze mich hier so hin, es ist bald vier Uhr.«

      Wohin sie auch geht, wo immer sie steht, sitzt oder liegt, sie ist nie ganz dort, wo man sie sieht. Alte Menschen sind nie ganz beisammen. Kindern ähnlich, schrecken sie zurück in den gegenwärtigen Augenblick, sobald man sie ruft. Aber wo sind sie sonst?

      Ganz blöde lächelt sie den Fußboden an. Sie weiß, dass sie altmodisch denkt. Die belichteten, fotografischen Platten des Vaters hat sie noch einmal abgezogen, – ein Geiger war plötzlich zu sehen: Im dunklen Anzug steht er ganz locker da, jung, schlank, mit Violine und Bogen in seinen Händen. War es Vaters Cousin oder nur ein Freund? Jedenfalls Marthas Pate. Irgend etwas ist schief gelaufen, mit diesem Negativ; von unten her ist der Silberbelag zerstört. Abgesehen von diesem Lockenkopf, dem Martha gern zulächelt, bleibt das Abbild ihres Paten ein Gewirr dunkler Flecken. Unwirklich auch seine Geschichte: Er saß unter den 2. Geigen im Philharmonischen Orchester der Stadt Dresden. Außerdem – und besonders gern – stand er des Nachts mit seiner Geige im Café Prag. Ende der zwanziger Jahre kam der Jazz in die Dresdener Cafés, das soll ihn gereizt haben. Dieses Spiel nach lockeren Vorgaben und in ungewöhnlicher Besetzung, mit einer Klarinette als Partner, zum Beispiel. Marthas Mutter sprach davon mit einer gewissen Häme: »Dort hat er sich seine Schwindsucht geholt. Der Zigarettenqualm, die Frauen.«

      Er musste sterben, bevor sein Patenkind ihn selbst nach allem fragen konnte. So oft Martha versucht, sich an ihn zu erinnern, es läuft immer auf das vom Verfall verschonte, hübsche Gesicht und die Lockentolle hinaus. Und da war noch seine Geige! War es nicht eine Dankwart? Warum sonst kommt Martha dieser Name, dem sie hier in den Räumen der Streichinstrumente wie einem polnischen Adelstitel begegnet, so bekannt vor?

      Gleichzeitig hört sie wieder das verächtliche »eh!« der Mutter, was so viel hieß wie: »Die übertreiben gerne!« ›Die‹ waren die Verwandten aus der Familie des Vaters. Sie kamen aus dem Erzgebirge. Vielleicht hatten nicht alle mit silbernen Löffeln gegessen, aber es gab einen Treibemeister in der Ahnenreihe,


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