Siehdichum. Anne Dorn

Siehdichum - Anne Dorn


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das Maß

      Des Erträglichen. …

      Wie soll ich leben in diesem Land,

      Wo mein Fuß an die Knochen

      Der nicht begrabenen Verwandten stößt?

      …

      Von diesem Augenblick an lebte sie in einer Art Verwirrung: Was so ergreifend auf sie wirkte, waren Gedanken von Czesław Miłosz. Ein polnisches Mädchen wird da besungen, das seinen Bruder sucht. Aber sie musste, in Koblenz, auf offener Straße weinen.

      Sie begann, ihren Kindern und Enkeln von der Bekanntschaft mit dem polnischen Professor zu erzählen. Wirklich offene Ohren hatte ihre älteste Tochter, Constanze. Sie sagte am Telefon: »Krakau möchte ich sehen.«

      Martha erzählte ihnen auch von einer großen, großartigen Fahrradtour in ihren Sommerschulferien, als sie ihre Freundin Mechthild, die Schwester des ›jungen Herrn‹, zum ersten Mal auf dem schönen Gut in der Nähe von Posen besuchte. Von Dresden nach Posen: Die weiten Felder, die riesigen, duftenden Wälder. Hitze, Stille, breite, von Fischen blitzende Flüsse. Martha im klaren Wasser, angeschmiegt an die schwingenden Bärte der Wasserpflanzen und über ihr – Piwiii – der langgezogene Schrei des Bussards.

      In Berichten von Überlebenden der Arbeitsdiensteinheit 3/401 ist von einem Rathaus die Rede. Heute umrundet Martha das in Reiseführern als bemerkenswert erwähnte Rathaus von Poznań. Einige niedrige Häuser, dem italienisch anmutenden Gebäude zugeordnet, bilden die kurze Gasse, in der sie, durch kleine und größere Schaufenster, Uhren, Hüte, Wäsche und Antiquitäten bestaunt. Schöne Möbel, Spiegel, Porzellan, Kristall und Silber. Mitten im kostbaren Wirrwarr drei Männer: Zwei am Biedermeiertisch spielen Schach, der dritte beugt sich sichtbar in Spannung auch über das Brett, seine linke Hand packt einen Adler, der mit ausgebreiteten Schwingen auf einem hölzernen Pfosten hockt. Martha steht und schaut. Wie schön sind die über die Zeit geretteten Dinge, und die in die Zeit hineingerettete Lust, zu spielen! Der das Spiel beobachtende dritte Mann blickt unvermittelt auf. Dabei trommelt er mit den Fingern auf den hölzernen Adler. Er kann nicht wissen, was in Martha jetzt vor sich geht, er sieht nur, dass sie erschrickt.

      Nervöses Gefinger, – das polnische und doch auch preußische Wappentier und eine Grafenkrone. Der ›junge Herr‹ war damals über den Dienstboteneingang ins Gästezimmer gekommen. Leise, schüchtern. Er legte sich nicht zu ihr ins Bett, stand am Kopfende und fingerte an der eichenen Heraldik. »Schön, – was?«, mehr brachte er nicht über die Lippen. Und sie hätte ihn gerade seiner Schüchternheit wegen umarmen mögen. Am vorangegangenen Mittag hatte sie die wirklichen Grafen gesehen. Roderichs Vater hatte, auch wenn er das Bonbon, dieses schwarzweißrote Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz am Hemd trug, nicht alle gutbäuerlichen Sitten abgelegt. Sonntags lud er mitunter die eigentlichen Eigentümer zu Tisch. Martha hatte miterlebt, wie sie kamen: Graf, Gräfin und eine noch jugendliche Tochter. In Pommern hatte der neue Hausherr wohl keinen Umgang mit dem Adel. Er wollte es nun lernen. Sonntags kamen auch keine Parteigenossen unangemeldet vorbei. Der kleine, dickliche Mann, dem die Frau vor einigen Jahren gestorben war, verließ sich besonders an Sonntagen auf die polnische Köchin. Sie reichte, in Ausnahmefällen, persönlich die Speisen. Ihrer alten Herrschaft hielt sie mit unbeschreiblicher Würde vor. Roderichs Vater ermunterte: »Bittesehr!« Die gräflichen Familienmitglieder antworteten nacheinander mit »Dankesehr«. Hatten sie denn wirklich etwas genommen? Es gab mehrere Schüsseln. Und immer: »Bittesehr!« »Dankesehr!« Das hatte den alten Pommern verwirrt, er hatte die Kontrolle über sich verloren und barsch gefragt: »Dankesehr ja oder Dankesehr nein?« Daraufhin hatten die Adligen sich erhoben, hatten grüßend genickt und waren gegangen.

      Martha war der Bissen im Halse stecken geblieben. Nur Roderich hatte gegessen, gegessen.

      Martha erinnert sich an den glutroten Kopf von Roderichs Vater, an das gräfliche Bett im eigentlich gräflichen Gut, auch an die Remise: dieses Grüppchen kleiner, hölzerner Gebäude, in denen die polnischen Grafen zu jener Zeit hausten.

      Noch immer beobachtet der dritte Mann die Frau vor dem Fenster und redet zugleich auf einen der Spieler ein. Das mag der Ladenbesitzer sein. Er bedeutet mit großer Geste, man möge bitte nicht stören. Wenn er nicht aufpasst, verliert er die Partie. Martha geht, und der dritte Mann schaut ihr nach. Sie glaubt, dass er sie durchschaut, ein Gefühl dafür hat, warum sie geht.

      Der Adler, die Grafenkrone, das Gut, auf dem sie zweimal für eine kurze, wunderbare Zeit dank der Freundin, aber vor allem dank der Liebe des ›jungen Herrn‹ herrschaftlich lebte – Martha hat Henryk Szaruka davon erzählt. Grünweiler hieß es. Er wollte erforschen, wie es heute heißt.

      Im Januar 1945 floh die ehemals pommersche Familie von Grünweiler westwärts mit gräflichen Pferden. Kamen die Grafen zurück in ihr Schloss? Für wie lange? Oder zogen sie von der Remise aus direkt weiter, und wohin? Haben sie doch erst in ihren Betten geschlafen, aus ihren Schüsseln gegessen? Die Köchin wird gekocht haben, was immer es zu kochen gab. Aber für wen?

      Am 18. Januar 1945 schrieb Johannes Mertens eine Postkarte an seine Eltern: ›Wir sind gut in Adelnau angekommen und sofort eingekleidet worden. Auch haben wir Waffen bekommen und stehen in Alarmbereitschaft. Hier kommen schon die ersten Flüchtlinge aus Litzmannstadt durch.‹

      Martha hat den Ort Adelnau südöstlich von Posen auf dem alten Vorkriegs-Handatlas gefunden, und vor dem Krieg bezeichnete man das als handlich, was auf einen gewöhnlichen Tisch passte. Wie war dieses Ungetüm aus dem sächsischen Elternhaus zu ihr in den Westen gelangt? In den Schulatlanten ihrer Kinder waren die Länder Osteuropas grob dargestellt. Die Lehrer kannten diese Gebiete kaum. Oder sehr gut! Sie schwiegen sich darüber aus. Außerdem hatte Professor Jaworski Martha davon abgeraten, an Ort und Stelle zu suchen:

      Mit wem wollen sie da sprechen? Vielleicht gibt es noch Leute, die sich erinnern, aber dann werden es Erinnerungen sein, über die keiner gern spricht, schon gar nicht auf Deutsch. Brüchige Kenntnis der Sprache genügt für etwas mehr als Kopfschütteln oder Achselzucken, – Geschichten werden anders erzählt.

      Und er war nach Madrid gerufen worden, kurz bevor Martha nach Warschau kam.

      Nicht genug mit diesem unliebsamen Verzicht auf das erhoffte Wiedersehen und seinen direkten Rat, – auch vom Abgeordneten, dem er Marthas Anliegen vermittelt hatte, kam noch nach Koblenz ein kaum lesbares Fax. Martha entzifferte nur, dass sie auch diesen Herrn nicht treffen konnte, weil er wegen der neuen Zusammenstellung des Sejm pausenlos auf Abruf stand.

      Immerhin entnahm sie dem Papier, dass der für ihre Suche Angesprochene weiter ansprechbar blieb. Es stand da etwas von ›im neuen Jahr‹ und ›Hoffnung‹. Und irgendetwas, was ›gern‹ getan werden sollte. Dieses Fax und alle Briefe Krzysztof Jaworskis befinden sich in Marthas Gepäck, im Hotel. Dazu noch die originalen Suchdienstunterlagen des Vaters, seine Bittschreiben auch, und die wenigen zwischenzeitlich freudig verfassten Mitteilungen, dass irgendwer etwas von Johannes wüsste: Deutsche Frauen hatten polnische Frauen gebeten, über vermisste Söhne auszusagen, und dann waren Listen aufgetaucht, auf denen der Name des Bruders klar zu lesen stand. Dann wieder hatte es geheißen, solche Listen habe es nie gegeben. Über Jahrzehnte hin Briefe des Vaters in schrecklichstem Bürodeutsch. Er war Büroangestellter gewesen, Erfahrung hatte er nur mit Rechenmaschinen. In der Mappe liegt auch die Bescheinigung, dass Johannes Mertens für tot erklärt wird. Wie bei einer Hochzeit das Aufgebot, gab es vor der Todeserklärung einen Aufruf am Schwarzen Brett der Gemeindeverwaltung, sich zu melden, wenn wer es besser wüsste. Es meldete sich niemand. Martha war nun amtlich die einzige Überlebende der Familie und konnte einige wenige Dinge aus der Hinterlassenschaft ihrer Eltern von Sachsen über die deutsch-deutsche Grenze nach Rheinland-Pfalz holen.

      Darüber wurde sie krank. Nicht der plötzlichen Nähe des alten Schreibschrankes halber oder wegen der in den zwanziger Jahren vom Vater belichteten, fotografischen Platten, die sie alle gegen das Licht hielt. Es war ihr unheimlich, den Namen des Bruders auf den Antrag zur Todeserklärung zu schreiben, ohne sich mit ihm abzusprechen. Ihr alter Vater war von ihr im Heimatort neben der Mutter beerdigt worden. Er hatte seinen richtigen Platz. Der tot erklärte Johannes saß nun aber der Mutter wieder auf dem Arm oder dem Schoß. Die konnte ihn wieder fragen: »Ist dir kalt? Hast du Hunger?«


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