Siehdichum. Anne Dorn

Siehdichum - Anne Dorn


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Bruder. Nach ihrer Rückkehr hatte er sich vollgestopft und sie angelacht, mit seinem pickeligen, pubertären Jungensgesicht. Sie selbst war schlank und hübsch gewesen, achtzehn Jahre alt und zuversichtlich. Was eigentlich hatte sie damals gedacht, im Schlitten, unterm Sternenhimmel, und am nächsten, klaren Wintertag, – außer Roderich und Mechthild hatte sie kaum Menschen gesehen. Waren da Polen gewesen? Oder Soldaten? Auch damals, auf der Heimreise, stand eine Waggontür offen. Der Fahrtwind heulte, ein Zugschaffner besah und befühlte mit gierigen Augen und Fingern ihr kostbares Gepäck – und sie allein im gesamten Waggon.

      Schweigsam läuft sie heute stadteinwärts, gerät in Nebenstraßen, und bleibt jetzt neben einer Gruppe von Jungen und Mädchen stehen, die auf dem Bürgersteig wen oder was erwarten. Aus einem Hausflur mit Treppenaufgang tönt Jazzmusik. Zwei von den Jungen drehen sich um und schauen Martha an. »Geht es hier zum Marktplatz? Stary Rynek?« fragt sie, um etwas zu sagen. Man streckt die Arme aus, zeigt die Straße entlang und dreht ihr wieder den Rücken zu.

      Sie bleibt vor dem nächsten, größeren Schaufenster stehen. Schöne Tuche liegen da, geschickt von Ballen abgerollt. Zum ersten Mal zwingt Martha sich, ihren Bruder grauhaarig und im blauen Jackett zu sehen, mit seiner Statur irgendwie dem Vater ähnlich. Und sofort drückt ihr Magen, was er gewöhnlich tut, wenn sie sich etwas zurechtlegt, was so nicht stimmt. Johannes hat für sie auf ewig kein einziges Barthaar. Er riecht ein bisschen verschwitzt und ungewaschen. Jetzt klopft er ihr von hinten auf die Schulter: »Bibsi, sei nett, – leih mir deine Bretter.« In Leipertz’ Grund haben die Jungen eine Schneeschanze gebaut; mit Schiern darüber zu sausen ist eindrucksvoller; als mit dem Schlitten.

      Jahrzehntelang hatte Marthas Begehren, den Bruder neben sich zu empfinden, geschlummert. Ganz überraschend, an einem Ort, der dem Sächsischen Heimatdorf in keiner Weise ähnlich war, lebte es wieder auf: in einer Sechszehntausend-Seelen-Gemeinde im äußersten Nordwesten Deutschlands, mit viel zu großen, alten Kirchen und der entsprechenden Leere in ihrem Dunkel. Ringsum gab es Spargelfelder, Sandboden, Ebene, – mithin eine Landschaft für Radfahrer. Schützenbruderschaften tagten in einer der fünf Kneipen, bei der Niederwildtreibjagd im Herbst wurden, wie man erzählte, gewöhnlich auch Menschen verletzt. Die Grenze zu den Niederlanden war nah, der Schmuggel, der eigentlich nicht mehr lohnte, war zu einer Art Sport mutiert, den die Begabten weiter ausübten. Und an diesem Ort gab es, den Einheimischen fast unbekannt, eine einzigartige, vielsprachig zusammengesetzte Bibliothek. Einzelgänger aus ganz Europa reisten an, blieben drei, vier Wochen, um da zu arbeiten. Der Historiker Krzysztof Jaworski aus Warschau und die vor sich hin experimentierende Filmemacherin Martha Lenders aus Koblenz blätterten dort vor gut vier Jahren zeitgleich in sehr speziellen Nachschlagewerken. Die Öde des Ortes selbst verlockte niemanden, seine Zeit außerhalb der Bibliothek zu vergeuden. Der Pole und die Deutsche wie auch ihrer beider Nachbar aus Spanien (der eigentlich ein Ungar war) aßen mitunter gemeinsam. Martha fabrizierte dann in der Gemeinschaftsküche provencalisches coq au vin, sächsische Quarkkeulchen oder österreichisch-böhmische Marillenknödel. Die beiden Männer sorgten für Getränke und Nachtisch. So war diese kleine Tischgemeinschaft für alle Beteiligten ein Glückstreffer. Da sie zufällig zusammengefunden hatten und jeder von ihnen die mitgebrachte Arbeit voranbringen wollte, erzählten sie meist vom jeweils akuten Problem: einem bockigen Computer, vergessenen Unterlagen oder der Freude, eine gute Idee für den Abschluss des eigenen Vorhabens gefunden zu haben. Als sie sich besser kannten, sprachen sie auch von ihrer Heimat. Zuletzt erzählten sie einander, wovon sie gewöhnlich nie sprachen: So der Professor aus Polen von der Suche nach seiner deutschen Kinderfrau. Sein Bruder und er waren zweisprachig aufgewachsen. Diese Ursula war, über seine Kindheit hinaus zur Familie gehörig, seine Vertraute geblieben. Nach dem Einmarsch der deutschen Armee wurde ihnen beiden der Umgang miteinander bei Strafe verboten! Und sie verstanden rasch, wie ernst das gemeint war. Er erzählte vom Sich-Trennen aus lauter Vorsicht, vom Briefeschreiben mit Deckadressen, vom sich Besuchen an entlegenen Orten, von Befürchtungen und schrecklichen Nachrichten, von absolutem Schweigen und sich Verlieren – und schließlich doch Finden.

      Viele Jahre lagen zwischen ihrer letzten Begegnung und ihrem Wiedersehen. Krzysztof Jaworski hatte überlebt, war Historiker und Dozent an einer Hochschule geworden; das Denken in großen Zeiträumen hatte ihm eine gewisse Ruhe gegeben und seiner früher sehr hageren Gestalt etwas Standfestigkeit. Umgekehrt hatte die von ihm Gesuchte ihre Gelassenheit und Zuversicht verloren, und so auch ihre rundliche Figur. Er fand eine abgemagerte Frau vor, mit eckigen Bewegungen und misstrauischem Blick. Beide waren vom nicht vorherbedachten, veränderten Äußeren des anderen überrascht. Und da war noch etwas, was er erst nach und nach in vollem Umfang in seiner Auswirkung begriff: Die merkwürdige Zurückhaltung der Wiedergefundenen beruhte auf einem Verlust. Sie hatte ihr Gehör verloren, war vollkommen taub! Am liebsten hätte er sie einfach umarmt und an sich gedrückt. »Aber ich sah, welche Angst sie hatte. Sie musste am Schluß des Krieges fliehen, obwohl Lodz ihre Heimat gewesen war; vergewaltigt, verletzt, ausgeplündert, betrogen, also auch ihrer Selbstachtung beraubt, war sie in Hannover gelandet« –, das hatten ihm die Schwestern des Pflegeheims, in dem er sie endlich fand, geschrieben.

      Er wusste sehr wohl, dass Opfer gemeinhin nicht geliebt werden, und suchte in seiner Bestürzung nach einem Trost für sie. Und sie begrüßte ihn ohne Nennung seines Namens. Konnte es nicht sein, dass jemand sich einer List bediente? Sich für den ausgab, nach dem auch sie sich sehnte? Ihre tiefe, nun unkontrollierte Stimme nahm ihm die letzten Zweifel an ihrer Identität. Wie sollte das umgekehrt auch für sie geschehen? Er hatte plötzlich die Idee, auf eine ganz bestimmte Art auf einem Bein zu tanzen! So hatte er, als impulsiver, übermütiger Junge, besondere Freude ausgedrückt. Und da packte sie ihn, lachte und weinte zugleich, – Martha malte sich aus, dass wohl auch er vor Freude lachen musste und weinen.

      Nach dem Aufenthalt in dieser besonderen Bibliothek und längst wieder daheim, schrieb sie eines Tages nach Warschau, fragte nach, ob der Professor ihr helfen wolle, Spuren ihres verschwundenen Bruders zu finden. Sie war fast sicher, dass er ablehnen würde, zumindest fragen: »Was versprechen sie sich davon?«

      Jahrzehnte waren vergangen, seit Marthas Bruder verschwunden war. Sie hatte in der Zwischenzeit schon vermieden, anderen Menschen gegenüber einen dereinstigen Bruder zu erwähnen. Krzysztof Jaworski, etwas älter als sie, lebte weit entfernt von Koblenz in der polnischen Hauptstadt. Polen, auf dessen heutigem Terrain der Bruder verschwand, lag besonders für Westdeutsche sehr weit entfernt; weiter, als es die messbaren Kilometer aussagten. Martha schrieb mutig: »Es ist endlich Zeit, dass ich nach dem Bruder frage.« Sie war selbst nicht sicher, wonach sie suchte, nach einem Grab? Einem alten Mann? Einem lebenden Menschen, der wusste, wie alles gewesen ist?

      Alle Papiere, die von vergangenen Suchaktionen des längst verstorbenen Vaters zu finden waren, angefangen von einer Feldpostkarte, geschrieben am 18. Januar 1945 in Adelnau, Unterschrift »Euer Johannes«, über Marthas eigene Suchanträge an das Rote Kreuz in Ostdeutschland wie in Westdeutschland, bis hin zur Todeserklärung des Bruders, die sie selbst in die Wege leiten musste, schickte sie, fotokopiert, nachWarszawa. Und bekam sofort Antwort! Alles schien klar zu sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es Zugang zu bislang unzugänglichen Akten. Auch wollte der Professor für Martha Verbindung mit dem zuständigen Abgeordneten im Sejm schaffen. Plötzlich hatte sie etwas vor sich, eine Art Gedankenweg. Eine Reise hielt sie damals nicht für nötig, vor allem nicht für möglich.

      Die Nachricht, dass es in Warschau wie auch in Posen taugliche Archive gab, war rasch übermittelt. Die Adresse des zuständigen Abgeordneten stand bald in Marthas Adressbuch. Sowohl in den Briefen aus Warschau wie in denen, die dorthin unterwegs waren, wurde der Marillenknödel liebevoll gedacht. Die wollte man unbedingt noch einmal gemeinsam verspeisen!

      Martha gewöhnte sich an, in den Kramkästen der Buchhandlungen nach Polnischem zu suchen. Eines Tages fand sie einige Zeilen, die aus dem grünen Heft heraus ihr in die Augen, ins Ohr und ins Herz griffen:

      …

      Was denkst du hier, wo der Wind

      Von der Weichsel wehend

      Den roten Ruinenstaub fortbläst?

      Du hattest geschworen, nie mehr

      Klagelieder zu singen.

      …

      Doch


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