Das Weltkapital. Robert Kurz
Milieu weitgehend feudal organisierter Agrargesellschaften zurück. Deren Organisationsprinzip war jedoch nicht national (territorial), sondern dynastisch bestimmt.
Es konnte also am Anfang noch gar kein nationalstaatlichnationalökonomisches Bezugssystem existieren. Zwar lässt sich die Geburt des Kapitalismus als identisch mit dem Staatsbildungsprozess der frühen Neuzeit beschreiben, in dem die Entfesselung der Geldwirtschaft aus der Monetarisierung der Abgaben hervorging, die wiederum das staatliche Territorialprinzip (an Stelle bloß persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse) hervorbrachte. Ebenso lässt sich zeigen, wie zusammen mit der Territorialstruktur gleichzeitig auch der Diskurs und das Realverhältnis der modernen geschlechtlichen Abspaltungsstruktur sich allmählich herausbildeten. Aber das Territorium der Besteuerung und der embryonalen neuen Geschlechterverhältnisse unter den absolutistischen Regimes war eben noch kein Nationalstaat mit nationalökonomischer Kohärenz im kapitalistischen Sinne. Der entstehende kapitalistische Markt bewegte sich also quer zu den selber erst entstehenden absolutistischen Territorialstaaten. Und vermittelt durch die koloniale Expansion in Übersee stellte er sich von vornherein als Weltmarkt dar.
In Gestalt des frühen Weltmarkts im Kontext des Kolonialsystems war das Kapital wirklich der »fremde Gott« (Marx), der über die Gesellschaften hereinbrach, während gleichzeitig sich komplementär in diesen Gesellschaften selbst zentralistische Territorialstaatlichkeit, moderne geschlechtliche Abspaltungsstruktur und entsprechende Ideologien (Protestantismus) entwickelten; wobei im Sinne einer Ausrichtung der Individuen und einer auch kulturell-symbolischen Fundierung des fetischistischen neuen Gesamtverhältnisses die geschlechtliche Abspaltung eine keineswegs zufällig aus den späteren Reflexionen ausgeblendete Tiefendimension markiert.
Erst auf diese Weise wurden überhaupt die begrenzten lokalen Märkte ohne Konkurrenzprinzip, die in der Agrargesellschaft eine bloße Nischenfunktion (für Überschüsse und Spezialprodukte) hatten, durch anonyme großräumige und sogar transkontinentale Märkte mit blinden Konkurrenzverhältnissen ersetzt. Es fand also nicht ein allmählicher und geradliniger Aufstieg von lokalen und regionalen Märkten zu nationalökonomischen Binnenmärkten und erst von da aus zum Weltmarkt statt, sondern genau umgekehrt brach unmittelbar der Weltmarkt katastrophisch über die agrargesellschaftlichen Strukturen und deren begrenzte Märkte herein, um dann als Folge (statt Ursache) dieser Entwicklung gewissermaßen von oben die Bildung nationalökonomischer und damit nationalstaatlicher Strukturen zu erzwingen, die überhaupt erst eine weitere, daran anschließende Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf ihren eigenen Grundlagen ermöglichten.
Zwar im Kontext dieses Prozesses und mit diesem vermittelt, jedoch ohne darunter subsumiert werden zu können, bildete sich »gleichursprünglich« (Roswitha Scholz) das moderne Geschlechterverhältnis aus, als Abspaltung von der strukturell männlichen Subjektivität der Protoformen »abstrakter Arbeit« und Verwertungslogik. Dieses Verhältnis befindet sich einerseits auf derselben Totalitätsebene wie das »Kapital im Allgemeinen«, dessen Bestandteil es dennoch nicht sein kann; ebenso wenig das »ganz Andere« oder gar Transzendierende; es handelt sich vielmehr um das negativ vermittelte Moment, wie im Kapitalismus das in ihm nicht aufgehende Soziale und Reproduktive dennoch »bearbeitet« wird. Andererseits erscheint dieses Abspaltungsverhältnis ebenfalls in den nationalen Rahmen eingebannt; es schmiegt sich diesem gewissermaßen vielfältig an, ohne eine bloß abgeleitete Funktion desselben zu sein. Die Abspaltungsstruktur befindet sich also auf derselben abstrakten Totalitätsebene wie das »Kapital im Allgemeinen«; sie hat jedoch als konkreten Rahmen im Unterschied zu diesem nicht die beiden Ebenen von Nationalökonomie und Weltmarkt, sondern ihr gesamtgesellschaftlicher Bezugsrahmen kann nur die bürgerliche Nation sein.
Weltmarkt und innerer Selbstwiderspruch des Kapitalismus
Der Weltmarkt blieb bei der Herausbildung der Nationalökonomien zwar die Sphäre, die Wallerstein als diejenige bezeichnet hat, auf die das Kapital seiner Tendenz nach ausgerichtet sei; eine Auffassung, die Marx schon lange vorher als der Logik des Kapitals entsprechend und als eine unveräußerliche Bedingung seiner Existenz dargestellt hatte:
»Eine Bedingung der auf dem Kapital basierten Produktion ist ... die Produktion eines stets erweiterten Zirkels der Zirkulation ... Die Tendenz den Weltmarkt zu schaffen ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke. Zunächst jedes Moment der Produktion selbst dem Austausch zu unterwerfen und das Produzieren von unmittelbaren, nicht in den Austausch eingehenden Gebrauchswerten aufzuheben, d.h. eben auf dem Kapital basierte Produktion an die Stelle früherer, von seinem Standpunkt aus naturwüchsiger Produktionsweisen zu setzen. Der Handel erscheint hier nicht mehr als zwischen den selbständigen Produktionen zum Austausch ihres Überflusses vorgehende Funktion, sondern als wesentlich allumfassende Voraussetzung und Moment der Produktion selbst...« (Marx 1974/1857-1858, 311).
Aber mit der Herausbildung von nationalökonomischen Bezugssystemen hatte sich eine neue, andere Form gewissermaßen vor »die Tendenz den Weltmarkt zu schaffen« geschoben. Diese Doppelstruktur von Weltmarkt einerseits und Nationalökonomie/Nationalstaat samt entsprechender Abspaltungsstruktur andererseits kam erst im 19. Jahrhundert zu ihrer vollen Entfaltung. Blieb der Weltmarkt Voraussetzung des Kapitals, so trat er nun dennoch (im Unterschied zu den Anfängen) erst als sekundäre Sphäre der kapitalistischen Akkumulation in Erscheinung, während der nationalökonomisch regulierte Binnenraum mit den darin ausgebildeten Mikrofunktionen zur primären Sphäre wurde. In demselben Maße, wie das Kapital auf seinen eigenen Grundlagen prozessieren konnte, wurde es auch über einen Zeitraum von fast 200 Jahren hinweg (von der zweiten Hälfte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) nationalökonomisch zentriert. Der Weltmarkt wirkte nicht mehr unmittelbar, sondern gefiltert durch die nationalökonomisch-nationalstaatliche Struktur und das darin enthaltene informelle, aber auch juristisch kodifizierte Geschlechterverhältnis.
Solange dieses neue Verhältnis von Nationalökonomie und Weltmarkt einigermaßen im Gleichgewicht blieb, schien die kapitalistische Reproduktion und Expansion ihre Selbstwidersprüchlichkeit auch einigermaßen im Zaum halten zu können, um sich zwar auf Kosten der Menschheit, aber durchaus im Sinne des zugrunde liegenden Selbstzwecks der »Verwertung des Werts« (Marx) zu entwickeln. Der Weltmarkt erschien nicht mehr als selbständige Sphäre, als der »fremde Gott« des hereinbrechenden kapitalistischen Prinzips, sondern gewissermaßen domestiziert als Sphäre des Warentauschs zwischen den kapitalistischen »Nationen« und ihren binnenökonomischen Funktionsräumen bzw. diversen Pufferfunktionen.
Aber diese scheinbare Übereinstimmung des Kapitals mit sich selbst täuschte. Denn die innere Dynamik der Kapitalakkumulation mußte ihrer Irrationalität gemäß den Selbstwiderspruch auf höherer Entwicklungsstufe erneut hervortreiben. Die Triebkraft dieser Dynamik war und ist die durch Konkurrenz auf anonymen Märkten vermittelte Tendenz, die Produktivkraft über das Fassungsvermögen der kapitalistischen Gesellschaftsform selber hinauszutreiben, wie Marx nicht müde wurde zu betonen:
»Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion. Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse beruhen ... Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muss beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis, und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt« (Marx 1965/1894, 255, 267).
Der nationalökonomische Bezugsraum wird also umso enger, je mehr die kapitalistische Konkurrenz die Entwicklung der Produktivkräfte vorantreibt: Während die Masse der pro Zeiteinheit ausgestoßenen Produkte immer weiter ansteigt, wird die Konsumtionskraft – die in kapitalistischer Form nur als Kaufkraft in Erscheinung treten kann – gleichzeitig durch Arbeitslosigkeit und Druck auf die Löhne (vermittels der Konkurrenz der Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter untereinander) eher eingeschnürt oder kann sich jedenfalls nicht in demselben Maß wie die Produktionskraft entwickeln. Damit ist auch die geschlechtliche Abspaltungsstruktur betroffen, da sich ja die als »weiblich« konnotierten Reproduktionsfunktionen