Das Weltkapital. Robert Kurz
muss der Staat eine ganze Reihe von äußeren materiellen Rahmenbedingungen (so genannte Infrastrukturen) der kapitalistischen Reproduktion, die nicht oder nicht ausreichend als kapitalistische Marktunternehmen betrieben werden können, in seine Regie nehmen oder subventionieren. Vor allem aber muss er als »makroökonomischer Akteur« auch die ökonomischen Rahmenbedingungen des Kapitals selber setzen, indem er virtuell einen gesamtgesellschaftlichen Standpunkt einnimmt (nämlich als »ideeller Gesamtkapitalist«, so der einschlägige Terminus bei Marx), den das per definitionem als betriebswirtschaftliches Unternehmen vereinzelte Kapital als solches nicht einnehmen kann.
Hier wird abermals die Paradoxie und Irrationalität des Kapitalismus deutlich: Es handelt sich um eine gesellschaftliche Produktionsweise, die jedoch aufgrund ihres Charakters als aufgepfropfter Fremdkörper selber nicht gesellschaftlich, ja geradezu antigesellschaftlich agiert und damit permanent ihre eigene Existenz in Frage stellt. So muss neben dem informellen, geschlechtlich bestimmten Abspaltungsverhältnis auf der Mikroebene andererseits der Staat die Funktion der Gesellschaftlichkeit auf der institutionellen Makroebene übernehmen, aber eben nur auf dem Boden und im Vollzug der kapitalistischen Reproduktion, also bloß äußerlich und im Nachhinein.
Einerseits strukturiert der Staat in diesem Zusammenhang das kapitalistische Selbstzweckmedium, nämlich das Geld (als Erscheinungsform der ungreifbaren Wertabstraktion), indem er dessen Garantie in Gestalt der Währung (d.h. des jeweiligen nationalstaatlichen Geldnamens) übernimmt und es über seine Zentralbank durch festgelegte Zinssätze für die Refinanzierung des Bankensystems, durch Kontrolle der Geldmenge, An- oder Verkauf von Devisen usw. »geldpolitisch« reguliert. Auch als (infrastruktureller) Investor spielt der Staat eine regulative Rolle. In bestimmten Fällen kann der Staat auch selber als »Unternehmer« oder (wie im Fall des untergegangenen östlichen Staatskapitalismus) vorübergehend und unter besonderen Bedingungen – vor allem einer gesellschaftlichen Transformation »zum« Kapitalismus bzw. (im 20. Jahrhundert) einer »nachholenden Modernisierung« – sogar als Generalunternehmer des Kapitals auftreten; de facto agieren die einzelnen betriebswirtschaftlichen Unternehmen über den Markt dann allerdings doch wieder im Plural, wenn auch unter der überdimensionalen Käseglocke eines staatlichen Generalanspruchs.
Andererseits ist es wiederum der Staat, der mittels abgeschöpfter Steuern oder Kreditaufnahme an den Finanzmärkten die dem Kapital als irrationalem Verhältnis eigentümlichen Krisen und drohenden Zusammenbrüche sozialökonomisch auffangen muss, z.B. durch sozialstaatliche Bürokratien, akute Notsubventionen usw. Als Welfare-Staat, der seit Ende des 19. Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde, institutionalisierte und monetarisierte der Staat strategisch einige Aspekte, die bislang privaten oder kirchlichen Wohltätigkeitsorganisationen, vor allem aber dem soziokulturell weiblich bestimmten Abspaltungsverhältnis überlassen geblieben waren, während die staatliche »Armenfürsorge« seit dem 17. Jahrhundert einzig und allein repressive Disziplinierungs- und Kasernierungsmethoden gekannt hatte.
Sozialversicherungssysteme, sozialstaatliche Ansprüche und entsprechende bürokratische Zuteilungsapparate waren einerseits Vorbeugungsmaßnahmen gegen die Krisenanfälligkeit des Systems und gingen gleichzeitig konform mit einer zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit, ohne dass dadurch das strukturelle Abspaltungsverhältnis überwunden worden wäre. In den wirklichen Krisen wurden und werden soziale Pufferfunktionen andererseits wieder entstaatlicht, entmonetarisiert und vielfach im Mikrobereich an die Frauen zurückdelegiert. Geschlechtliches Abspaltungsverhältnis und sozialstaatliche Funktionen stehen so als materielle, soziale und soziopsychische Puffer für die Reibungsverluste der gesellschaftlich destruktiven Logik des Kapitals in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander, wobei der nationalstaatlich-nationalökonomische Raum den Rahmen sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makro-Ebene bildet.
Der paradoxe Charakter des Kapitals als »ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit«, als illoyaler Fremdkörper und gleichzeitig eigenes, aber gewissermaßen »aufgesaugtes« Dasein der gesellschaftlichen Institutionen und der sozialen Beziehungen sowie als irrationales und doppelbödiges Verhältnis von »innen« und »außen« bringt einen strukturellen Selbstwiderspruch innerhalb des Systems hervor, der auf verschiedenen Abstraktionsebenen festgestellt werden kann: Einerseits ist das Kapital ungesellschaftlich, andererseits bedarf es soziokulturell abgespaltener Momente und einer gesellschaftlichen Formierung für seinen selbstbezüglichen Zweck der Kapitalakkumulation. Einerseits ist es daher seinem Wesen nach grenzenlos, aber eben nur als »ungesellschaftliches Wesen«; andererseits ist es auf einen äußeren, staatlich regulierten und daher immer schon begrenzten gesellschaftlichen Funktionsraum angewiesen.
Innerhalb des nationalstaatlich begrenzten und regulierten Territoriums stellt sich der Kapitalismus als »Nationalökonomie« oder Binnenmarkt dar. Und dieser Funktionszusammenhang ist so entscheidend, dass die Wissenschaft des Kapitals von sich selbst eben nicht als »Weltökonomie« oder »Weltwirtschaftslehre« auftritt, sondern keineswegs zufällig als »Nationalökonomie« oder »Volkswirtschaftslehre«. Sogar der Begründer dieser Lehre, Adam Smith (1723-1790), obwohl er noch abstrakt auf der Ebene des »Kapitals im allgemeinen« argumentiert, nannte sein berühmtes Hauptwerk bekanntlich eine »Untersuchung über den Reichtum der Nationen«, nicht über den »Reichtum der Welt«. Gleichzeitig agiert das Kapital aber über diese nationalökonomischen Grenzen hinaus; jenseits davon stellt es sich als (weitgehend unregulierter) Weltmarkt und damit als (virtuell staatenloses) Weltkapital dar. Und auf dieser Ebene existiert überhaupt kein Puffer für die kapitalistische Destruktionslogik mehr.
Der strukturelle Selbstwiderspruch äußert sich also in doppelter Weise: Zum einen tritt die betriebswirtschaftliche Innenperspektive des einzelnen Unternehmens in Gegensatz zur »volkswirtschaftlichen« oder nationalökonomischen Außenperspektive, innerhalb der akademischen Ökonomie reflektiert als Gegensatz von Mikroökonomie (Gesichtspunkt des individuellen oder unternehmerischen »Wirtschaftssubjekts«) und Makroökonomie (Gesichtspunkt der gesamtgesellschaftlichen kapitalistischen Reproduktion unter Einschluß des Staates), wobei die »stumme«, in den nationalen Raum eingelagerte Voraussetzung der geschlechtlich bestimmten Abspaltungsstruktur begriffslos bleibt und systematisch unsichtbar gemacht wird.
Zum andern aber tritt der begrenzte nationalökonomische Funktionsraum mit seinen auf der Mikroebene eingelagerten geschlechtlichen Abspaltungsverhältnissen in Gegensatz zum unbegrenzten, von allen sozialen Voraussetzungen »befreiten«, nackten Funktionsraum des Weltmarkts. Grundsätzlich wird dabei eine wiederum paradoxe Verschränkung sichtbar: Der Staat bzw. die damit verbundene Nationalökonomie mit ihren staatlichen Regularien (einschließlich juristischer Kodifizierungen des Geschlechter- und damit zumindest indirekt des Abspaltungsverhältnisses, etwa im bürgerlichen Recht, Familienrecht etc.) vertritt dem partikularen betriebswirtschaftlichen Subjekt gegenüber die gesamtgesellschaftliche Universalität – aber nur innerhalb des jeweiligen abgesteckten Territoriums. Gleichzeitig repräsentiert aber eben deshalb das partikulare betriebswirtschaftliche Subjekt umgekehrt den begrenzten staatlich-nationalökonomischen Institutionen und der dazugehörigen, davon eingefärbten geschlechtlichen Abspaltungsstruktur gegenüber die grenzenlose, negativ-irrationale und ungesellschaftliche Universalität des Kapitals.
Wir haben es also mit zwei verschiedenen Ebenen oder Formen der kapitalistischen »Totalität« zu tun: einmal mit der »inneren« Totalität des nationalökonomischen Reproduktionssystems unter Einschluss seiner geschlechtlich bestimmten, informellen Reproduktionsmomente; und einmal mit der »äußeren« Totalität des sozial völlig leeren kapitalistischen Weltganzen oder Weltsystems.
Ein verkürzter Begriff des Weltsystems
Den Topos des »Weltsystems« hat insbesondere der US-amerikanische marxistische Sozialtheoretiker und Afrikanist Immanuel Wallerstein in den 70er Jahren mit seinem mehrbändigen Werk »Das moderne Weltsystem« (Wallerstein 1986/1974; Wallerstein 1998/1974) und zahlreichen einschlägigen Publikationen eingeführt. Da es dabei um die Herausbildungsgeschichte des modernen Kapitalismus vom 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts geht, hat Wallerstein wichtiges und teilweise überraschendes Material über den Konstitutionsund Disziplinierungsprozeß des Kapitals zutage gefördert, das zum Beispiel die liebevoll ausgemalte Legende von der »wohlfahrtssteigernden Wirkung« der wunderbaren Marktwirtschaft