Das Weltkapital. Robert Kurz

Das Weltkapital - Robert Kurz


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einbilden, mit ihren Abstraktionen unmittelbar die komplexe Wirklichkeit einfangen, ummodeln und ihr diktieren zu können, so besteht umgekehrt die Hybris der Praktiker darin, dass sie sich einbilden, sie wären die ersten, die auf dieser Welt Erfahrungen machen, und diese allein wären in ihrer falschen Unmittelbarkeit das Maß des Begreifens.

      Die Theorie ist so gesehen nur ein reflektierter Ausdruck der Erfahrungen selbst mit größerer historischer Reichweite und auf einer begrifflichen Abstraktionsebene. Eben deshalb kann sie niemals »fix und fertig« sein, um den Aktivisten des Protests dogmatisch »übergestülpt« zu werden. Theoriebildung ist selber ein historischer Prozess, parallel zum Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung, solange sich dieser in der Form blinder, fetischistisch objektivierter Gesetzmäßigkeiten bewegt. Und in dieser Geschichte theoretischer Reflexion ist heute eben der berühmte Paradigmenwechsel angesagt, der erarbeitet und ausgekämpft werden muss. Die soziale Bewegung ist in diese Aufgabe mit involviert, sie kann sich dazu nicht ignorant verhalten.

      Bové predigt eine solche Ignoranz geradezu und will dabei die Intellektuellen überhaupt verteufeln als »gewisse Leute«, die immer »von außen« kommen, um »die Bevölkerung« in »abgehobene Theorien« auf hinterhältige Weise »hineinzutreiben«. Diese Art der Denunziation ist von den Polizeibehörden bekannt, die stets »intellektuelle Rädelsführer« und Rattenfänger ausmachen, die »von außen« kommen, um die an sich »gute und treue Bevölkerung« zu verführen. Es schwingt aber auch der ideologische Affekt gegen das »Abstrakte« der Theorie mit, der antisemitisch konnotiert ist: Der »abgehobene Intellektuelle« wird in der modernen Ideologiegeschichte immer wieder mit dem »volksfremden Juden« identifiziert.

      Nicht umsonst verfällt Bové so in doppelter Weise dem antisemitischen Syndrom: Wie er den Gegenstand der Kritik, die Krise der dritten industriellen Revolution und die kapitalistische Globalisierung, mystifiziert zum Machwerk bösartiger »Parasiten« und »Geldjunkies«, so mystifiziert er auf der Seite der Kritik selbst die theoretische Reflexion zum Machwerk »abgehobener Intellektueller«. Die Parole, dass die Welt keine Ware sei, schmiegt sich so an die in 200 Jahren affirmativer und mörderischer Ideologiegeschichte ausgebrüteten Parolen an: nicht nur, dass der Jude den Menschen zur Ware mache, sondern dass die theoretische Abstraktion ebenso ein jüdisches Teufelswerk sei. So etwas kommt heraus, wenn die falsche Unmittelbarkeit der bloßen Erfahrung gegen die weitergehende Reflexion ins Feld geführt wird: nämlich die barbarische Verwilderung der Abstraktion selbst, nicht die vermeintlich »konkrete« Einsicht.

      Obwohl sich Naomi Klein in dieser Hinsicht nicht derart offen reaktionär und antisemitisch wie Bové artikuliert, will auch sie die reflexive Abstraktion auf möglichst niedrigem Niveau halten und verfällt ebenso in einen Zungenschlag, der als im Kern theoriefeindlich interpretiert werden muss. Der Affekt gegen eine »zu weit gehende«, »abgehobene« Reflexion (tatsächlich muss man in gewisser Weise abheben, um das Ganze überschauen zu können) versteckt sich nur in anderer Weise als bei Bové hinter der Abwehr von »Bevormundungen«, Dogmatismus und missionarischen Haltungen:

      »Gott sei Dank sind die demokratieorientierten konzernkritischen Aktivisten nicht in ... blutigen Kreuzzügen engagiert. Vielmehr stellen sie zentralisierte Machtsysteme grundsätzlich in Frage und stehen linken zentralstaatlichen wie rechten marktwirtschaftlichen Einheitslösungen gleichermaßen skeptisch gegenüber. Häufig wird geringschätzig vermerkt, dass die Bewegung keine Ideologie, keine übergreifende Botschaft, keinen Gesamtplan habe. Dies ist absolut richtig, und wir sollten dafür ausgesprochen dankbar sein. Im Moment sind die konzernkritischen Basisaktivisten von Möchtegernführern umringt, die nur auf die Gelegenheit warten, sie als Fußsoldaten zu rekrutieren. Es spricht sehr für diese junge Bewegung, dass sie bis heute alle derartigen Programme und großzügig verteilten Manifeste abgewiesen hat und sich stattdessen auf einen annehmbar demokratischen, repräsentativen Prozess verlässt, um das nächste Stadium ihres Widerstands zu erreichen« (Klein, a.a.O., 519 f., Hervorhebung von Klein).

      Wenn hier diffus von »Ideologie«, »übergreifender Botschaft« oder »Gesamtplan« die Rede ist, dann soll damit leicht durchschaubar eine Theoriebildung über den unmittelbaren Erfahrungshorizont hinaus von vornherein mit pejorativen Formulierungen belegt werden. Naomi Klein versucht den Begriffsapparat theoretischer Abstraktionen per se denunziatorisch in die Nähe »zentralisierter Machtsysteme« zu rücken, ohne sich mit dem Theorieproblem ernsthaft auseinanderzusetzen. Sie vermengt dabei die nicht zu bestreitende Tatsache, dass es alle möglichen Weltverbesserungssekten und restmarxistischen Gruppierungen gibt, die als »Möchtegernführer« unbedingt »Fußsoldaten« rekrutieren möchten, unzulässigerweise mit der Frage der Erarbeitung eines neuen theoretischen Paradigmas nach dem Epochenbruch seit Ende der 80er Jahre. Die Sektenprediger, Parteiideologen und Altmarxisten, die sie hier als abschreckende Beispiele bemüht, sind in Wirklichkeit Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Soweit sie theoretische Abstraktionen repräsentieren, sind es die Begriffsruinen des 20. Jahrhunderts: im wesentlichen Restbestände der gescheiterten Modelle »nachholender Modernisierung«, bei denen die Theorie tatsächlich den »zentralisierten Machtsystemen« von Entwicklungsdiktaturen unterworfen worden war. Ein gespenstisches Residuum dieser Geschichte bildet etwa das nordkoreanische Regime. Aber auch im Westen selbst hatte die traditionelle Arbeiterbewegung die Theorie politischen Parteiapparaten untergeordnet, eben weil ihre verkürzte, auf die »Anerkennung« innerhalb des warenproduzierenden Systems beschränkte Vorstellung von Emanzipation über die bürgerliche politische Form nicht hinauskommen konnte.

      Indem nun die Globalisierung die ihrem Begriff nach nationalstaatlich eingegrenzte Form der Politik überhaupt obsolet macht, stellt sich unausweichlich die Frage eines neuen theoretischen Paradigmas, das dieser veränderten Situation Rechnung trägt. Naomi Klein subsumiert aber die Theorie überhaupt unter die vergangene Epoche ihrer Anbindung an die bürgerliche Politik, wie Bové die Theorie überhaupt »hundert Jahren« der »Niederlage und Selbstaufgabe« zuschreibt. Ein derart unhistorisches Unmittelbarkeitsdenken ist zum Scheitern verurteilt. Klein und Bové merken nicht einmal, dass sie selber die theoretische Reflexion wieder einer Art Politik unterordnen wollen, nur eben keiner traditionellen Parteipolitik mehr.

      Wenn Bové der Theorie die »gemeinsamen Erfahrungen« der Aktivisten gegenüberstellt und wenn Klein gegen die Theorie einen »demokratischen repräsentativen Prozess« beschwört, dann geraten beide verdächtig in die Nähe der Vorstellungen von Ulrich Beck, der sich die Angestellten der Weltbank, die Finanzjongleure auf den globalisierten Finanzmärkten und die Wirtschaftsjournalisten als eine Art kollektiven Theoretiker zurechthalluziniert. So wenig aber die »Macher« der kapitalistischen Praxis aus ihrem distanzlosen immanenten Handeln heraus jemals eine theoretische Reflexion hervorbringen werden, ebenso wenig werden die »Macher« der sozialen Bewegung dazu in der Lage sein, wenn sie sich auf die falsche Unmittelbarkeit der »Erfahrungen« beschränken. Die affirmativen Instinkte der bloßen Selbsterhaltung im Dschungel der »zweiten Natur« kapitalistischer Gesellschaftsformen sind so nicht zu überwinden.

      Aus tausend bloß aufsummierten Erfahrungen des sozialen Leidens wird ebenso wenig eine zureichende neue Theorie wie aus tausend demokratischen Meetings und Abstimmungen von vor sich hin räsonierenden Meinungsidioten. Heute sperrt sich die Aufgabe der Theoriebildung mehr denn je dem Fetisch der Demokratie, der selber der obsoleten politischen Form angehört und rein formal ist wie das bürgerliche Recht überhaupt. Das hat nichts mit »zentralisierten Machtsystemen« zu tun oder damit, dass den Aktivisten des Widerstands angeblich »abgehobene« theoretische Dogmen »übergestülpt« würden. Theorie ist ihrem Wesen nach machtlos im äußeren Sinne. Dies konnten die Modernisierungsdiktaturen nicht ungestraft ignorieren, aber dasselbe gilt für die globale soziale Bewegung.

      Theorie im Sinne kritischer und selbstkritischer Reflexion weiß um ihre eigene Beschränktheit, aber sie ist auch nicht zu umgehen. Nach dem Ende der linken Modernisierungstheorien im Kontext von Arbeiterparteien und Entwicklungsdiktaturen gibt es keine mit administrativer Macht ausgestattete Theorie mehr. Niemand kann dazu gezwungen werden, irgendein Dogma nachzubeten. Es sind die berühmten Erfahrungen selbst, die heute das Bedürfnis nach theoretischer Reflexion über den eigenen Horizont hinaus wecken. Es genügt nicht, das unmittelbare Erleben mit einem vagen antikapitalistischen Gefühl zu verbinden. Eine neue Erklärung der Logik und Geschichte des Kapitalismus ist gefragt, eine neue Analyse der Entwicklung des Weltmarkts,


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