Das Weltkapital. Robert Kurz

Das Weltkapital - Robert Kurz


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Konzerne« (Multis), war das Verhältnis der beiden Totalitätsformen von »Nationalökonomie« und »Weltsystem« ein Streitgegenstand. Wallerstein äußerte sich zu diesem Aspekt, indem er seine Kategorie des »Weltsystems« in eigentümlicher Weise gewissermaßen überdehnte:

      »Was in Europa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zu beobachten war, ist, dass in einem großen geographischen Gebiet, das sich von Polen im Nordosten in westlicher und südlicher Richtung über ganz Europa erstreckte und große Teile der westlichen Hemisphäre einschloss, eine Weltwirtschaft mit einer einzigen Arbeitsteilung heranwuchs, innerhalb derer es einen Weltmarkt gab, für den die Menschen größtenteils landwirtschaftliche Erzeugnisse zu Verkaufs- und Gewinn-zwecken produzierten. Ich denke, dass es am besten wäre, dies als Agrarkapitalismus zu bezeichnen ... Der Kapitalismus war von Anfang an eine Sache der Weltwirtschaft, nicht eine Sache von Nationalstaaten. Es ist eine falsche Deutung der Lage zu behaupten, dass der Kapitalismus erst im 20. Jahrhundert ›weltweit‹ geworden sei, wiewohl diese Behauptung häufig aufgestellt wird, insbesondere von Marxisten ... Hier wird übersehen, dass das Kapital in einer kapitalistischen Weltwirtschaft die Beschränkung seiner ehrgeizigen Ziele durch nationale Grenzen niemals zulässt und dass die Aufrichtung ›nationaler‹ Schranken – generell: des Merkantilismus – historisch betrachtet eine Verteidigungsmaßnahme jener Kapitalisten ist, die in Staaten ansässig sind, welche auf der Rangliste der Stärksten des Systems den zweiten Platz einnehmen. Dies war der Fall bei England gegenüber den Niederlanden 1660-1715, Frankreich gegenüber England 1715-1815, Deutschland gegenüber England im 19. und der Sowjetunion gegenüber den USA im 20. Jahrhundert. Der Prozess beginnt damit, dass zahlreiche Länder nationale Wirtschaftsschranken aufrichten, eine Maßnahme, deren Folgen häufig noch anhalten, wenn die ursprünglichen Ziele längst erreicht sind. An diesem späteren Punkt des Prozesses empfinden die nämlichen Kapitalisten, die ihre nationale Regierung ehedem dazu drängten, die Restriktionen zu verfügen, diese selben Schranken nun als beengend. Das ist keine ›Internationalisierung‹ des ›nationalen‹ Kapitals. Das ist schlicht eine neue politische Forderung bestimmter Gruppen der Kapitalistenklassen, denen es zu allen Zeiten darauf ankam, ihre Profite innerhalb des realen ökonomischen Marktes, des Marktes der Weltwirtschaft, zu maximieren...« (Wallerstein 1979, 45 ff.).

      Es ist nicht zu übersehen, dass diese Argumentation Wallersteins derjenigen Krugmans 20 Jahre später durchaus verwandt ist, wenn auch in Gegensatz zu diesem aus kapitalismuskritischer Sicht entwickelt. Er erklärt Nationalökonomie und Nationalstaat kurzerhand zu unwesentlichen, bloß manipulativen Bezugsgrößen für das grundsätzlich und von Haus aus global orientierte Kapital: Das »Weltsystem« erscheint so als der Raum, in dem sich das Kapital immer schon unmittelbar bewegt.

      Das erkenntnisleitende Interesse ist dabei ein durchaus ehrenwertes: Wallerstein äußert sich vom Standpunkt der Dritten Welt, der damals der Standpunkt auch der westlichen Linken war; ja überhaupt der »Weltstandpunkt« der Kapitalismuskritik in einer kurz vor ihrem Ende stehenden Epoche, die durch den Prozess der »nachholenden Modernisierung« an der kapitalistischen Peripherie geprägt war. Wallerstein hat zwar durchaus einen kritischen Begriff des modernen warenproduzierenden Systems, der ihn immerhin dazu befähigt, etwa die Sowjetunion, das Flaggschiff der »nachholenden Modernisierung« im

      20. Jahrhundert, als integralen Bestandteil des kapitalistischen Weltsystems einzuordnen. Dennoch bleibt seine Perspektive zeitbedingt auf den Horizont der »nationalrevolutionären« historischen Nachzügler, der abhängigen Weltregionen und ihrer durchaus systemimmanenten Interessen beschränkt; zumindest streckenweise stellt sich der Wallersteinsche marxistische Hintergrund dabei als eine Art »reflektierter Maoismus« dar.

      Das wird besonders deutlich, wenn er die strukturellen »Ungleichheiten« innerhalb des von ihm in Zentrum, Peripherie und Semiperipherie eingeteilten Weltsystems erfassen will:

      »Sobald es einen Unterschied in der Stärke der Staatsapparate gibt, beginnt auch der Mechanismus des ›ungleichen Tausches‹ zu wirken, ein Mechanismus, den starke Staaten gegen schwache, Länder des Zentrums gegen periphere Gebiete einsetzen. Kapitalismus bedeutet also nicht nur, dass die Produktionsmittelbesitzer sich von denen, die nichts anderes als ihre Arbeitskraft besitzen, den Mehrwert aneignen, sondern Kapitalismus heißt auch die Aneignung des volkswirtschaftlichen Überschusses (Surplus) der gesamten Weltwirtschaft durch die Länder des Zentrums. Und dies galt für das Stadium des Agrarkapitalismus ebenso, wie es für das Stadium des Industriekapitalismus gilt« (Wallerstein 1979, 47).

      Wallerstein zeigt sich hier ganz im klassensoziologisch verkürzten (also nicht kategorial systemkritischen) Verständnis des Arbeiterbewegungsmarxismus befangen, dem es letzten Endes bloß um die politisch vermittelte »gerechte Verteilung« innerhalb des warenproduzierenden Systems geht; dieser immanente, positivistische Interessenstandpunkt wird lediglich um die Dimension der Dritten Welt erweitert. Wie ein in diesem Sinne beschränkter Begriff des Kapitals auf der Ebene der sozialen Beziehungen nahezulegen scheint, dass die den Mehrwert hervorbringende »unbezahlte Arbeit« zu einer »bezahlten« gemacht werden solle, so auf der Ebene der internationalen Beziehungen die entsprechende Vorstellung eines »ungleichen Tauschs«, dass dieser zu einem »gleichen« zu machen wäre.

      Der Selbstzweckcharakter des Kapitalismus, also die Irrationalität des vom Kapital bedingten gesellschaftlichen Systems, kommt gar nicht in Betracht; stattdessen wird bloß der soziologisch definierte immanente Interessenstandpunkt in politischmoralischen Kategorien ausgedrückt. Der in den 70er Jahren populäre Begriff des »ungleichen Tausches« moralisiert und vernebelt damit das Problem der sogenannten »Unterentwicklung«, das schon seinem Begriff nach von kapitalistischen Standards definiert ist. In Wahrheit liegt das Problem gar nicht auf der Ebene der Zirkulation, also des »Tauschs« von Waren, sondern auf der Ebene der Produktion unter kapitalistischen Bedingungen im globalen Maßstab, also der »abstrakten Arbeit«. Gerade wenn Wallerstein seinen Begriff des »Weltsystems« in dieser Hinsicht ernst nehmen würde, müsste ihm dieser Zusammenhang deutlich werden.

      Denn der Wert der Güter wird gemessen nach dem jeweils gültigen Standard der Produktivität, und nur in diesem Sinne findet auf den Märkten ein Warentausch von Äquivalenten (also ein »gleicher« Tausch) statt. Getauscht werden nicht Waren nach ihrem Arbeitsaufwand schlechthin, sondern nur nach dem Aufwand unter den gültigen Bedingungen der Produktivität, die wiederum ihrerseits an einen bestimmten Einsatz von Sachkapital (naturwissenschaftlich fundierter Technologie) gebunden sind. Zwar kann ein Unternehmen, das diese »gültige« Technologie nicht anwendet, durch vermehrten und verbilligten Arbeitseinsatz zeitweilig konkurrenzfähig bleiben, aber die gemäß dem Standard überproportional aufgewendete menschliche Energie wird auf dem Markt nicht als wertbildend anerkannt, d.h. die Waren werden als Äquivalente nur nach dem herrschenden Produktivitätsstandard getauscht. Das unterproduktive Unternehmen (und die entsprechende unterproduktive Nationalökonomie) kann nur durch Unterbezahlung und Auspowerung der jeweiligen Arbeiter mithalten, aber auch das nur zeitweilig.

      Woran aber mißt sich der Standard der Produktivität? Er wird gemessen nach dem gesellschaftlichen Durchschnitt dieser Produktivität, also nach dem durchschnittlichen Grad der technologischen Verwissenschaftlichung der Produktion, die (im Kapitalismus nur unter dem Druck der anonymen Konkurrenz) menschliche Arbeit überflüssig macht. Nun aber kommt die Gretchenfrage: Was ist eigentlich das Bezugssystem dieses »gesellschaftlichen Durchschnitts«? Es ist ganz eindeutig die nationalökonomische Ebene der kapitalistischen »Totalität«. Denn nur im Binnenraum der jeweiligen Nationalökonomie gelten die gemeinsamen Rahmenbedingungen, die so etwas wie einen »gesellschaftlichen Durchschnitt« überhaupt herstellen können. Dazu gehört natürlich auch das, was als äußerliche staatliche Leistung (Infrastruktur, Ausbildungssystem usw.) in die scheinbare »Naturgrundlage« der betriebswirtschaftlichen Produktion mit eingeht; ebenso wie – indirekt – der Grad, die Art und Weise sowie die jeweilige Reichweite des geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses, denn die unsichtbaren sozialen »Schmiermittelfunktionen« setzen ebenso eine Bedingung für den Grad der Produktivität wie das Ausbildungssystem (durchaus erkannt in den neueren Managementtheorien, die auch diese Ressource systematisch ausbeuten wollen).

      Auf der zweiten, höheren Totalitätsebene des Weltsystems, also des Weltmarkts, existieren aber diese (teils staatlich bewerkstelligten oder jedenfalls


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