Der Televisionär. Группа авторов
d. h. zu dem Medium, das die Weltwahrnehmung, das Menschenbild und die Wertvorstellungen der Zeitgenossen dominierte.
Diesem nachhaltigen Wandel der Rolle, die das Fernsehen innerhalb der zeitgenössischen Kultur spielte, korrelierten ästhetische Experimente innerhalb des Mediums selbst, die seiner Zukunft wie generell der medialen Zukunft die Bahn zu brechen suchen. Dabei formten sich nicht zuletzt neue Erzählweisen, die dem Fernsehen zuvor unbekannt waren. Zu ihnen gehörte die aufkommende TV-Faktion. Ihr selbstreflexives Spiel mit der eigenen Medialität indizierte ein Sich-selbst-problematisch-Werden des Fernsehens und damit den Punkt seiner medialen Maturität. Gleichzeitig aber versteht sich die Häufung faktionaler Werke auch im Kontext gesamtkultureller Tendenzen zur Neudefinition dessen, was als authentisch begriffen wurde.
Die Reihe der europäischen TV-Faktionen eröffnete 1965 The War Game.32 Das 48 Minuten kurze Fernsehspiel, von Peter Watkins für die BBC geschrieben und realisiert, schilderte im Stil zeitgenössischer Fernsehdokumentationen die verheerenden Folgen eines sowjetischen Atomschlags auf Großbritannien. [Abb. 1] Scheinbar live gefilmte Szenen vom zivilisatorischen Zusammenbruch montierte Watkins mit TV-üblichen Passantenbefragungen und fingierten Stellungnahmen von Experten und Regierungsvertretern. The War Game kombinierte so die – zur Zeit des Vietnamkriegs besonders – brisante Thematik der möglichen Aufheizung des Kalten Krieges formal mit einer ästhetischen Transgression. Das faktionale Schlimmstenfalls-Szenario, präsentiert als Ergebnis journalistischer Recherche, stellte das massenmediale System Fernsehen selbst auf die Probe: seine medienästhetischen Formate wie seine medienpolitische Verfasstheit. Nach langen Auseinandersetzungen mit dem Autor wie mit intervenierenden Regierungsstellen verweigerte die BBC schließlich die Ausstrahlung. Zuschauer fand die TV-Faktion damals nur außerhalb ihres Mediums – in den Filmkunstkinos.33
Zwei Jahre später nutzte Wolfgang Menge, nachdem er schon in der Fragestunde mit den technischen Gewohnheiten und ästhetischen Formaten des Fernsehens gespielt hatte, in seinem nächsten Drehbuch ein solches TV-Format – das Nachrichtenmagazin – als Formprinzip seines Fernsehspiels. Inhaltlich nahm er dabei in Die Dubrow-Krise vorweg, was 20 Jahre später tatsächlich geschehen sollte: die deutsche Wiedervereinigung zwischen Rummel und Reibach, von »Reprivatisierungsansprüchen über die Thematisierung der Währungsunion bis hin zu Fragen der Eingliederung ins westliche System.«34 Durchgespielt wurde dieses historische Szenario im Kleinen, am Beispiel des fiktiven ostdeutschen Grenzdorfs Dubrow.35 Von dessen überraschender Aus- und späteren Wiedereingrenzung durch die DDR-Führung im Zuge einer Grenzbegradigung erfahren wir im Laufe einer vermeintlichen ARD-Sondersendung, die sich die Aufarbeitung der wenige Monate zurückliegenden Krise zur Aufgabe gestellt hat. Im Fernsehstudio diskutieren Zeugen der Krise. Sie stellen das vergangene Geschehen aus ihrer jeweils subjektiven Sicht dar. Der Moderator erläutert ›objektive‹ Hintergründe an Hand von Schautafeln. Immer wieder werden vorproduzierte Beiträge zu einzelnen Aspekten der Krise eingespielt. [Abb. 2]
Zweierlei ›Material‹ lässt sich unterscheiden. Zum einen werden typische Magazinbeiträge simuliert. In ihnen mischen sich ›gefälschte Aufnahmen‹ – etwa inszenierte Straßeninterviews an der Interzonenstrecke oder ein fiktiver Tagesschau-Kommentar – mit genretypischen dokumentarischen (Archiv-) Aufnahmen, die jedoch durch Montage und OFF-Kommentare in einen ›gefälschten‹ Kontext gerückt werden, etwa Interviews mit prominenten westdeutschen Politikern und Aufnahmen des bundesdeutschen Außenministers Willy Brandt sowie des ostdeutschen Parteichefs Walter Ulbricht. Zum anderen aber gibt es eine Vielzahl von Spielszenen mit den Bewohnern des fiktiven Dorfs Dubrow, die deutlich die Magazinform sprengen, da sie nicht einmal als Aufnahmen mit ›versteckter Kamera‹ denkbar sind. Inszeniert mit Schauspielern, die (damals noch) unbekannt waren, demonstrieren sie geschickt die Folgen der ›großen Politik‹ im Kleinen: »Die Dubrow-Krise erzeugt Komik, weil sie die großen Weltkonflikte auf die Niederungen kleiner und letztendlich kleinbürgerlicher Problemlagen zurückführt.«36
Auf genau dieses Moment, dass er den Konsequenzen politischer Entscheidungen im Alltag normaler Bürger nachspüren wollte, führte Wolfgang Menge im Nachhinein auch die immer wieder gerühmte Hellsicht seiner Fiktion zurück, den Umstand also, dass die Dubrow-Krise so viele Details der späteren tatsächlichen Wiedervereinigung erahnte. Denn besondere Kenntnisse besaß der Autor nicht. Die DDR hatte er vor Abfassung seines Drehbuchs nie besucht, und er hatte auch noch nie in einem Dorf gelebt.37 Im Transit nach Westdeutschland machte er allerdings einmal eine Erfahrung, die den Keim der Dubrow-Krise bildete:
»Ich habe gesehen, wie auf der Bundesstraße von Berlin nach Hamburg ein Lastzug verunglückt ist. Und da habe ich mir gedacht, was würde passieren, wenn dieser Lastzug Schnaps geladen hätte, in der Nähe eines Dorfes, und sie hätten ihm geholfen – und das hätte ein allgemeines deutsch-deutsches Besäufnis gegeben?«38
Auf der Basis der Grundidee, die Wiedervereinigung anhand eines Dorfes durchzuspielen, begann Menge mit einer gründlichen Literaturrecherche. Sie reichte von Fachschriften zur ostdeutschen Landwirtschaft bis zu zeitgenössischen DDR-Romanen.39 Entscheidend für die Genauigkeit – oder auch Authentizität – der geplanten Fiktion war dann jedoch die Anstrengung, die gesammelten Fakten und politischen Rahmenbedingungen auf individuelle Schicksale herunter zu brechen:
»Für ein Fernsehspiel habe ich einen anderen Zugang als Politiker oder Journalisten, die sich damit beschäftigen. [...] Der entscheidende Punkt, warum dieser Film erheblich mehr von dem, was dann später gekommen ist, 89, 90, vorweggenommen hat, ist, weil ich nicht ein Gesamtbild genommen habe, sondern einzelne Personen – den Menschen, der die HO-Gaststätte geführt hat, den Bürgermeister, den SED-Chef da, den Polizisten des Dorfs. Ich habe mir überlegt, was würde denen denn passieren? Und so komme ich, wenn ich mir die Menschen vorstelle, zu ganz anderen Ergebnissen.«40
Die Zuschauer allerdings, die 1969 die Dubrow-Krise sahen, wie auch die Juroren, die dem Fernsehspiel den Grimme-Preis in Gold verliehen, konnten selbstverständlich nicht ahnen, wie authentisch die Fiktion entworfen war und dass sie daher zwei Jahrzehnte später zu einem nicht geringen Teil von der Geschichte eingeholt werden sollte. Sie dürfte vielmehr der damals höchst ungewöhnliche Kunstgriff fasziniert haben, das Fernsehen im Fernsehen zu simulieren. Denn er erlaubte es im Verein mit dem Rekurs auf vertraute dokumentarische Formate, das Szenario des ›Was geschähe wenn ...‹ jenseits der in Spielfilm wie Fernsehspiel üblichen Spannungsbögen zu erzählen. An ihre Stelle trat jene Struktur journalistischer Recherche und Reportage, die schon Orson Welles’ Citizen Kane-Faktion vorantrieb und zusammenhielt, nun allerdings dem Stand des neuen Leitmediums Fernsehen angepasst: Welles tönende Wochenschau wurde bei Menge zum TV-Magazin. Seine Form lieferte das mediale Gerüst, den eher epischen denn dramatischen Erzählbogen. Mosaikartig konstruiert die Dubrow-Krise aus Einzeldarstellungen ein – freilich nicht Fakten dokumentierendes, sondern Wahrscheinliches und Erfundenes mixendes – Gesamtbild. Dessen inhaltliche Aussagekraft zehrt wesentlich von den Konventionen und der Glaubwürdigkeit des etablierten Formats.
Am Ende, in den letzten Sekunden des fiktiven Magazins, geht es folgerichtig auch nicht mehr um die thematische Krise selbst, sondern um den politischen Druck, der auf die öffentlich-rechtlichen Sender ausgeübt wird. „Ihr Intendant möchte ich morgen nicht sein“, warnt einer der Studiogäste, Ministerialrat im Gesamtdeutschen Ministerium, den Moderator der Sendung. Auch darin entsprach Menges erste Faktion der historisch neuen Erfahrung fortgeschrittener Medialisierung öffentlicher Kommunikation und politischer Willensbildung, welche die Durchsetzung des Fernsehens bewirkt hatte.
5 Spiel mit der Faktionalität II: Das Millionenspiel
Jene Selbstreferentialität – die Reflexion des Fernsehens im Fernsehen und mit den Mitteln des Fernsehens –, die sich in der Schlusswendung der Dubrow-Krise andeutete, rückte Wolfgang Menge mit seinem nächsten Drehbuch ins thematische Zentrum. Knut Hickethier bezeichnete Das Millionenspiel daher als ein »frühes Beispiel für einen Einstieg [der Television] in selbstreferentielles Erzählen«.41 Dass dies möglich wurde und zudem starke Reaktionen bei Publikum