Der Televisionär. Группа авторов
und Fiktion, Wahrheit und Lüge, Kunst und Magie, vorgefundenen und inszenierten beziehungsweise getricksten Ereignissen erst verschwimmen, dann verschwinden. Zu dieser inhaltlichen Absicht fügte sich die formale Realisierung: der – für die Zeit verblüffend – rasante Schnitt und die Nutzung filmischer Bilder verschiedenster Provenienz als arbiträr manipulierbares Rohmaterial. Indem F for Fake mit analogen Mitteln gewissermaßen die Effekte und Qualitäten digitaler Medialität simulierte, entwickelte Welles mit seinem letzten Film nichts weniger als eine neue filmische Form: den schnell montierten und nonlinear argumentierenden audiovisuellen Essay.85 Damit schlug er in der Blütezeit televisionärer Faktionen thematisch wie ästhetisch die Brücke von den Anstrengungen einer früheren Epoche und ihren Medien, dem Radio und dem Tonfilm, zu einer späteren Zeit, deren virtuelle Faktionen allererst zu erfinden waren – und schuf dabei, wie Dan Schneider 2006 schrieb, »a work of art so far ahead of its day that even now, nearly four decades after it was conceived and begun, it still may be more aptly called a work of prophecy than documentary.«86
In ihrer Gesamtheit weisen die damals unternommenen Experimente – die Dokumentation eines Atomschlags auf die britische Provinz; ein Wiedervereinigung-wider-Willen-Szenario als Magazinmosaik; Menschenjagd als in den Alltag entgrenztes TV-Spiel; menschliche Schicksale in der Umweltkatastrophe als Reality-Show; die trickreiche Demonstration der Fabrizierbarkeit aller Originale – auf mediale Praktiken und ästhetische Formen voraus, die heute vertraut sind, damals jedoch kaum erahnt werden konnten. Dies gelingt gerade Wolfgang Menges Faktionen, weil sie, wie Lisa Gotto schreibt, »televisuelles Wissen nicht proklamieren, sondern durch spekulative Verfahren überhaupt erst generieren.«87 Imaginiert und partiell antizipiert wurde dabei dreierlei:
Zum Ersten die Zukunft des Fernsehens selbst – Formate, Erzählweisen, Genres, insbesondere Varianten intimer panoptischer Beobachtung. Diese Sehnsucht, den Alltag medial zu erschließen, trieb um 1970 keineswegs allein TV-Faktionen. Vergleichbare Bemühungen fanden sich etwa im amerikanischen Direct Cinema, in Avantgarde-Filmen wie denen Andy Warhols oder den Techniken intimer (Selbst-) Beobachtung und narrativer (Re-) Konstruktion, mit denen der New Journalism beziehungsweise Gonzo Journalism etablierten Neutralitäts- und Objektivitäts-Idealen opponierten.
Zum Zweiten die Zukunft aller audiovisueller Medien – die sowohl medientechnische wie medienästhetische Überwindung der indexikalischen Referenz fotorealistischer Reproduktion und damit die Aufhebung des industriellen Abbildparadigmas. Sämtliche TV-Faktionen offerierten Bilder ›dokumentarisch-historischer‹ Situationen, die so nie stattgefunden hatten und daher auf die softwaregestützte Herstellung ›unmöglicher‹ audiovisueller Dokumente vorausdeuteten, wie sie erst in den 1990er Jahren zur technischen Machbarkeit fortschreiten sollte, etwa mit den frühen CGI-gefälschten Szenen rund um John F. Kennedy.88 In diesem avantgardistischen Streben partizipierten die TV-Experimente ebenfalls an einer Reihe ähnlich gerichteter Wendungen gegen das Authentizitätsmonopol der industriellen Medien. Die hyperrealistische Malerei der späten sechziger und frühen siebziger Jahre89 etwa nahm – von der handwerklichen Pixeltechnik bis zur simulierten fotorealistischen Qualität – deutlich die digitale Bildproduktion vorweg, den Umstand also, dass, wie zuerst Lev Manovich schrieb, die Herstellung stehender wie laufender fotorealistischer Bilder zu einer Unterkategorie der Malerei werde.90
Zum Dritten die Zukunft der analogen Medien – ihre Aufhebung im digitalen Transmedium.91 Der Ursprung des Genres audiovisueller Faktionen lag in der spezifisch industriellen Erfahrung von Medialität: dass vor allen einzelnen visuellen, auditiven, audiovisuellen Kommunikationsakten und Kunstwerken Medien existieren – die Fotografie, das Radio, der (Ton-) Film –, die sich gleichermaßen und gleichzeitig zu künstlerischen wie kommunikativen Zwecken nutzen lassen, zu Inszenierung wie Dokumentation, Unterhaltung, Propaganda und Aufklärung. Die jeweilige Gestalt der Vermittlung hängt dabei wesentlich an der Beziehung der Medien zu ihrem Gegenstand. Die Bedingungen der Produktion von fiktionaler Audiovisualität – im Tonfilmstudio etwa – unterschieden sich drastisch von den Umständen, unter denen dokumentarisches Material einzufangen war, ob nun in Krieg oder Frieden, in Ausnahmesituationen oder im Alltag. Aus dieser Differenz resultierten bei dem Versuch, alltägliche oder inszenierte Ereignisse medial zu erfassen, sehr verschiedene Formen und Formate, die ihre ästhetische Gestalt, ihre für jeden erfahrenen Rezipienten erkennbare Form, wesentlich einem Kompromiss schuldeten: zwischen den Inhalten, die gestaltet werden sollten, und den Gestaltungsmöglichkeiten, welche die industriellen Medien zum gegebenen Zeitpunkt boten. Mit der Ausbildung formaler Distinktionen war dann deren Hybridisierung prinzipiell gesetzt, wenn sie auch in der Praxis nur schwer zu realisieren war, sozusagen nicht regulär, sondern nur als special effect.
Diesen historischen Stand indizieren die TV-Experimente mit Faktionalität, zu denen es um 1970 kam. Peter Watkins schloss mit The War Game als erster im Medium der Television an die faktionale Tradition des Stumm- und Tonfilms an. Wolfgang Menges Faktionen gingen dann, indem sie im Medium Fernsehen dessen ohnehin hybriden Formen fingierten und dabei nicht zuletzt auch die spezifische mediale Befähigung zur audiovisuellen Live-Berichterstattung simulierten, weit über alles hinaus, was bis dato audiovisuell geleistet worden war. F for Fake schließlich suchte das Genre der TV-Faktion in einer neuen, der industriellen opponierenden Audiovisualität aufzuheben.
Als kollektive Anstrengung bezeugen diese Faktionen daher das verbreitete Bedürfnis nach einer freien Verfügbarkeit und Kombinierbarkeit ästhetischer Formen. Technisch möglich werden sollte sie – eine von materieller Medialität abgelöste Simulation historisch entwickelter Effekte – erst mit der Digitalisierung der Medien, ihrem Aufgehen im digitalen Transmedium. Insgesamt verschoben so die Faktionen, die um 1970 entstanden, den etablierten Grenzverlauf zwischen audiovisueller Fiktion und Dokumentation – und schrieben zugleich mit einiger Hellsicht intra- wie intermediale Entwicklungen in Richtung jener Zukunft fort, die unsere Gegenwart ist.
1976, als Orson Welles’ F for Fake schließlich in die bundesdeutschen Kinos kam, hatte Wolfgang Menge sein Interesse allerdings bereits auf Anderes fokussiert, auf jenen einzigartigen Aspekt televisionärer Medialität, der Radio- wie TV-Faktionen auszeichnete: liveness, die Befähigung der Rundfunkmedien zur Live-Übertragung.92
1 Der folgende Teil basiert auf Freyermuth, Gundolf S.: »Faktion // Intermedialität um 1970. Wolfgang Menges TV-Experimente zwischen Adaptation und Antizipation«, in: Grisko, Michael/Münker, Stefan (Hg.), Fernsehexperimente: Stationen eines Mediums, Berlin: Kadmos 2008, S. 121-147.
2 Žižek, Slavoj: Tarrying with the Negative: Kant, Hegel, and the Critique of Ideology, Durham: Duke University Press 1993, S. 88.
3 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, Amsterdam: Querido 1947.
4 Zitiert nach N.N.: »Einführung ins Reich des Scheins. Die Regeln des Fernsehjournalismus«, Neue Zürcher Zeitung, 23. Februar 2007.
5 Vgl. z. B.: »Inwiefern Filme Authentizität vermitteln konnten, wurde zum Qualitäts- und Beurteilungskriterium vieler Filmschaffender, Kritiker und auch des allgemeinen Zuschauers.« (Rüdiger, Mark: ›Goldene 50er‹ oder ›Bleierne Zeit‹?: Geschichtsbilder der 50er Jahre im Fernsehen der BRD, 1959 - 1989, Bielefeld: transcript 2014, S. 167.)
6 McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man, Berkeley: Gingko Press (Kindle Edition) 2013 (*1964).
7 Zur differenzierenden Definition Fiktivität und Fiktion, Faktizität und Dokumentation vgl. Werle, Dirk: »Fiktion und Dokument. Überlegungen