Der Televisionär. Группа авторов
Kritik reagierte gespalten. Einige Rezensenten fanden Das Millionenspiel schlicht schlecht und misslungen.53 Andere befürchteten, dass es die Zuschauer brutalisiere.54 Wiederum andere hielten für undenkbar, was das Spiel prognostizierte: »Der Autor dieser grauenhaften Zukunfts-Television [...] glaubt, daß bis zur Verwirklichung solcher Vorstellungen nur wenige Jahre vergehen werden. Wahnwitz – möchte man sagen.«55
Die Macher selbst verstanden Das Millionenspiel sowohl als Kritik am aktuellen Fernsehprogramm wie auch als Warnung vor Tendenzen, die sich in der Zukunft realisieren könnten. Der zuständige Redakteur Peter Märthesheimer sagte 1970 in einer TV-Diskussion:
»Das Millionenspiel ist ein Stück konkrete Utopie. [...] Das heißt, gemeint sind gegenwärtige Zustände, die wir etwas übertrieben, überspitzt und in die Zukunft verlängert haben. Wir hoffen, dass den Zuschauern in Zukunft – und da sind wir bei der Frage der Ähnlichkeiten – bei ähnlichen Sendungen etwas die Freude vergehen wird.«56 [Abb. 5]
Und WDR-Fernsehspiel-Chef Günter Rohrbach erklärte dem Spiegel: »Wir haben [...] die jetzigen Verhältnisse übertrieben und in die Zukunft projiziert, um die Gegenwart erkennbar zu machen.«57 Aber nicht nur, dass sich dabei auch die mediale Zukunft abzeichnete, machte Das Millionenspiel zu einem der bekanntesten und wirkungsmächtigsten Fernsehspiele der bundesdeutschen TV-Geschichte. Als zweites bundesdeutsches Fernsehspiel überhaupt wurde Das Millionenspiel mit dem renommierten Prix Italia ausgezeichnet. Der ungewöhnliche Erfolg dürfte sich auch dem ungewöhnlichen Umstand verdanken, dass Wolfgang Menges Drehbuch an gleich drei sensiblen Schnittstellen des kulturellen Diskurses operierte und intervenierte.
Zum Ersten betrieb Das Millionenspiel, was damals neu war: die Kritik des Fernsehens im Fernsehen selbst. Damit begründete Wolfgang Menge einen Trend. In den folgenden Jahren werden »zahlreiche medienkritische Sendungen […] ins Programm gehoben: Die Kritik am Fernsehen hat, gerade weil es sich zum Leitmedium der gesellschaftlichen Kommunikation entwickelt hat, Konjunktur.«58 Ins Zentrum der Debatten wird dabei die Fragwürdigkeit einer Fixierung auf ›Einschaltquoten‹ rücken. Menges Absicht, vor dieser Zukunft zu warnen, wird in den Szenen deutlich, die hinter den Kulissen der Show spielen und demonstrieren, wie das vermeintlich offene Dead-or-Alive-Geschehen im Interesse des Erfolgs der Sendung von langer Hand zu jenem Ende geführt wird, das die höchste Quote garantiert:
»Ich habe in diesem Film ja nicht nur diese Jagd dargestellt, sondern [...] auch dieses ständige Verlesen der Quoten gezeigt. Es wurden laufend die Einschaltquoten durchgegeben. Danach hat sich dann auch immer die Handlung ausgerichtet. Das heißt, die ›Macher‹ dieser Jagd haben, ohne dass der Zuschauer das hätte ahnen dürfen, eingegriffen in diese Jagd [...] wegen der Quote. Das war das Entscheidende. Ich habe mir damals halt überhaupt nicht vorstellen können, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen eines Tages ähnlich verfahren wird.«59
Zum Zweiten inszenierte das Millionenspiel – in seinem Thema wie vor allem auch in seinem Design – das Vordringen der so genannten Lifestyle-Revolte aus den Subkulturen der sechziger Jahre in den gesellschaftlichen Mainstream. Am immer bunteren Leitmedium wirkte dabei nicht zuletzt gefährlich, dass es die Ablösung der auf Arbeit und Verzicht ruhenden industriellen Ordnung noch dort propagierte, wo es scheinbar nur unterhalten oder werben wollte.60 Im Vergleich zur ›alten‹, der kargen Vor-Revolte-Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre, von der noch die Schwarz-Weiß-Verkrampftheit des TV-Studios der Dubrow-Krise zeugte, kam die schöne neue Unterhaltungs-Welt des Millionenspiels so farbig-grell, laut, übertrieben und obszön daher wie die wuchernden Koteletten und schamlosen Sprüche ihres Showmasters. Die »Modernisierung der Gesellschaft«61, die man dem Fernsehen der siebziger Jahre zurecht zuschreibt, implizierte gerade in den Bereichen von Unterhaltung und Information das Verlangen nach Vielfalt, nach Wahl- und Handlungsfreiheit. Die staatlich abgesicherte oligopolistische Verfasstheit des öffentlich-rechtlichen Systems stand damit zwangsläufig zur Debatte.
Das Millionenspiel kann deshalb zugleich als eine Kritik und als ein Agent dieses Wandels begriffen werden. Denn jenseits seines kritischen Impetus’ transportierte das Fernsehspiel in seiner Thematik, aber noch mehr in seiner audiovisuellen Anmutung, seinem Look und Sound, eine hedonistische Sinnlichkeit, die der Dekonstruktion industrieller zugunsten postindustrieller Verhaltensweisen und Werte korrelierte – wie im Übrigen auch grundsätzlich das (Farb-) Fernsehen als Medium:
»For if we accept Jonathan Crary’s insight that changes in regimes of perception and technologies of vision (resulting in the constitution of his ›observer‹) in the nineteenth century were related to the move toward machine production, we might also notice that the immanence of television screens to local intervention and manipulation (which games introduce) is a necessary condition of contemporary, computerised work.«62
Damit ist bereits das dritte Moment angesprochen: Das Millionenspiel steht deutlich im Kontext einer grundsätzlichen ›spielerischen‹ Opposition, die sich in diesen Jahren gegen den Industrialismus wendete, gegen seine Logik wie seine Ethik:
»Das allmähliche Aufbrechen der Fixierung auf industrielle Arbeit und ihre Ethik zeigt sich in der Kultur der sechziger Jahre vielfach als Popularisierung des Spielerischen, von Eric Bernes Bestseller Games People Play: The Psychology of Human Relationships (1964) über Joe South’ davon inspiriertem Pop-Hit Games People Play (1968) und Clark C. Abts Buch Serious Games (1970) zum populären New-Games-Movement, das Stewart Brand in den späten sechziger Jahren im Dunstkreis der Hippie-Kultur San Franciscos initiierte.«63
In den USA verband sich das in einem weit höheren Maße als in der Bundesrepublik bereits mit dem Gebrauch analoger und digitaler Elektronik zu spielerischen Zwecken. Diese erste, damals auf den Markt kommende Generation von Spiel-Konsolen für das heimische TV-Gerät entging den deutschen Zeitgenossen zwar weitgehend. Doch der Trend zur ›Aktivierung‹ des Publikums zeigte sich auch hierzulande, zum Beispiel in zahllosen Experimenten der Bildenden Künste wie etwa denen Nam June Paiks.64 Darüber hinaus hatte die Elektronisierung im Umfeld jugendlicher Rebellion Ende der sechziger Jahre zu einer Blüte kritischer Medientheorie geführt.65 Ihr Schwerpunkt lag auf der Behauptung populärer Ermächtigung durch einfach zu handhabende und vergleichsweise billige Apparate zur Ton- und Bildaufzeichnung. Sie sollten passive Konsumenten in aktive Produzenten verwandeln und es ihnen erlauben, die diktatorische Macht der Massenmedien zu brechen, sei’s im Sinne politischer Aufklärung, sei’s im Interesse ästhetischen Selbstausdrucks. Für den Film sprach etwa Robert Sklar von der Möglichkeit eines befreienden »personal cinema within the framework of movie commerce«.66
Für das Fernsehen schien dergleichen Privatisierung und Personalisierung noch utopischer. Doch auch dieses Massenmedium experimentierte mit der Aktivierung des Publikums, etwa durch das Einholen von spielerisch inszenierten Zuschauervoten.67 Das Millionenspiel nahm diese Anstrengung wiederum spielerisch auf – schon in der Ansage mit dem Bezug auf ein fiktives »Gesetz zur aktiven Freizeitgestaltung«. Später werden Hilfestellungen von »Samaritern«, mitspielenden Bürgern also – ob nun echt oder von der Regie vorgetäuscht –, ein zentrales Element des Spielverlaufs. Innerhalb seiner Dystopie entwarf das Millionenspiel damit die Utopie eines aktiven Publikums, das persönlich vor Ort, fernmündlich und auch durch Geldzahlungen mitspielt.
Indem Das Millionenspiel aber die Gewohnheiten von Studioshows in die Realität exportiert, verwandelt es städtischen wie ländlichen Raum in ein panoptisch aufgerüstetes Spielfeld. Zur unbefragten logistischen Voraussetzung hat die fiktive Spielshow eine Überlagerung der Realität mit breitbandigen Kommunikationsstrukturen: Kameraaugen und A/V-Vernetzungen, Telefon- und Funkverbindungen, wie sie erst Jahrzehnte später durch Smartphones und digitale Netzwerke alltäglich werden sollten. Auf diesem dystopisch-utopischen Spielfeld entscheidet vor allem das Mitspielen ›normaler Bürger‹ über Gewinn und Verlust (eines Lebens). Die fiktiven Fernsehmacher werden so zu Game Designern: