Der Televisionär. Группа авторов
angelangt und dominierte nahezu alle Bereiche des bundesdeutschen Alltagslebens, nicht zuletzt auch die politische Willensbildung. Andererseits aber zeichnete sich immer deutlicher ab – nicht zuletzt im vergleichenden Blick auf die Medienlandschaft anderer entwickelter Demokratien –, dass das öffentlich-rechtliche Oligopol so kaum überdauern konnte. Diese Situation des Mediums und die damit verbundenen Befürchtungen thematisierte Wolfgang Menges Drehbuch.
»Wir begrüßen Sie zum letzten Spieltag des Millionenspiels«, sprach am 18. Oktober 1970 um 20:15 Uhr die den Zuschauern vertraute WDR-Ansagerin Hannelore Vorberg in die Kamera. Sie erläuterte kurz, dass die bereits seit sechs Tagen andauernde Menschenjagd zu Unterhaltungszwecken »im Einklang mit dem Gesetz zur aktiven Freizeitgestaltung vom 7. Januar 1973« stehe: Drei schwerbewaffnete Männer, die so genannte Köhler-Bande, jagen den Kandidaten Bernhard Lotz. Wird der es lebend bis zum Abend in die Osnabrücker Gartlage-Halle schaffen, gewinnt er eine Million D-Mark. Allerdings haben der ausstrahlende Privatsender »Transeuropa-TV« und der Sponsor der Show, der »Stabilelite-Konzern«, auch für den Fall der Fälle vorgesorgt: »Sollte der Kandidat vorzeitig den Tod finden, so erwartet Sie ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm mit vielen beliebten Künstlern.«
Daraufhin wird zu dem Kandidaten geschaltet, der sich in einem Hotelzimmer versteckt, jedoch fliehen muss, weil seine Jäger ihn aufgestöbert haben. Von einem Fenster aus entdecken sie ihn, wie er unter ihnen über ein von milchglasigen Bullaugen geziertes Flachdach davonläuft. Der Anführer der Bande versucht, seine Millionen-Beute mit gezielten Schüssen zu erledigen – und mit jedem dieser Schüsse stoppt für einen Augenblick das Bild. Rhythmisch wird der Kandidat eingefroren, in klassischer Opferhaltung, ein postmoderner Christus, von medialen Manipulatoren ans televisionäre Kreuz genagelt. Bis er – verfehlt! – wieder ein Stück weiter flüchten darf, nun hinein in Maschinengewehrsalven. Auf dem Fernsehbild erzeugen sie, Einschüssen gleich, ornamentale Muster, auf der Tonspur gehen sie in Schlagzeugsalven über. Ein bonbonbunter, psychedelisch animierter Vorspann beginnt zu laufen: »TE-TV präsentiert das Millionenspiel.« [Abb. 3]
Diese ersten Filmminuten offenbaren – zumindest aus heutiger Sicht – zweierlei. Zum einen den Umstand einer gänzlichen Überformung des Realen durch mediale beziehungsweise ästhetische Interessen: Die TV-Choreographie reduziert die vermeintlich abgebildete Realität zum Rohmaterial eines Todesballetts. Zum anderen aber demonstrieren diese Bilder ein Fernsehen, das in seinen Inhalten wie in seiner Optik recht deutlich mit dem öffentlich-rechtlichen des Jahres 1970 kontrastiert. Das panoptische Spiel um Leben und Tod gemahnt vielmehr sowohl an das Reality-TV der 1990er Jahre als auch an Computerspiele, vor allem First-Person-Shooter, beziehungsweise an pervasive und Alternate-Reality-Games, wie sie erst nach 2000 unter den Bedingungen flächendeckender digitaler Vernetzung realisierbar wurden.
Wolfgang Menges Drehbuch beruhte dabei auf der Kurzgeschichte »The Prize of Peril«, die der amerikanische Autor Robert Sheckley bereits 1958 publiziert hatte.42 Im Vergleich von Original und Adaptation fällt die hohe inhaltliche Nähe bei radikaler formaler Abweichung auf – und damit auch die Spezifik von Menges Arbeitsweise. Zentrale Elemente der Kurzgeschichte wurden in das Fernsehspiel übernommen: die Grundsituation einer Fernsehshow mit einem Gejagten und drei Jägern, eine Reihe von guten Samaritern, die dem Flüchtenden helfen, die Verfolgung durch einen Helikopter, die Manipulation der Show hinter den Kulissen, im Interesse der Werbeeinnahmen. Andere Details wiederum sind deutlich verändert worden, insbesondere die Kennzeichnung von Jägern und Gejagtem. Im amerikanischen Original ist der Held ein Jedermann, ein »everyman«. Er heißt Raeder – ein Anagramm von Reader (Leser): »[…] Raeder knew that he had to depend upon the generosity and good-heartedness of the people. He was their representative, a projection of themselves, an average guy in trouble.«43 Die ihn jagen, sind gänzlich anders als er und die Leser, nämlich Berufskriminelle.
In Menges Drehbuch hingegen werden alle, Bernhard Lotz wie die drei Mitglieder der Köhler-Bande, zu gesellschaftlichen Außenseitern, Verlierern. Nicht einmal seine Mutter hält wirklich etwas von Lotz. Wichtiger als diese und eine Vielzahl anderer Veränderungen und Verschiebungen ist jedoch die formale Gestaltung. Sheckleys Kurzgeschichte erzählt die Ereignisse gänzlich aus der Perspektive des Gejagten. Von der Fernsehsendung erfahren die Leser ausschließlich durch die Gedanken des Helden. Der TV-Moderator bleibt eine Stimme in seinem Kopf. Menge hingegen bedient sich eines innovativen Kunstgriffs, wie er schon Die Dubrow-Krise auszeichnete: Er adaptiert ein fernsehtypisches nonfiktionales Format. Lieferten 1969 die Konventionen eines Politmagazins dem politischen Szenario das innovative Erzählgerüst, so determinieren nun ein Jahr später die Konventionen einer Unterhaltungsshow das dystopische Unterhaltungsspiel auf Leben und Tod.44 Deren Programm – der von den Mediengewaltigen vorprogrammierte zeitliche und inhaltliche Ablauf der Sendung inklusive der essentiellen Werbeeinblendungen – steuert die fingierte Inszenierung der Realität und ordnet damit den Verlauf des Millionenspiels. [Abb. 4]
Einerseits verzichtete Menge dadurch – wie schon in der Dubrow-Krise – auf »die übliche ›abbildrealistische‹ Form der Narration [...], die klar erkennbar den Traditionen des Kinospielfilms und des Theaterspiels folgte [...]«.45 Die gewonnene Freiheit, jenseits üblicher Spannungsbögen zu erzählen, erkaufte er jedoch mit einer Bindung an die Konventionen einer Live-Unterhaltungsshow. Das den Eingangsbildern nachfolgende Geschehen ist denn auch keineswegs fiktiv im Sinne von unwahrscheinlich. Vielmehr treibt Menges Fiktion die strukturelle Gewalt, die aller Fernsehunterhaltung einbeschrieben ist, zynisch auf die höchstmögliche Spitze: das rücksichtslose Ver- und Vorführen des Publikums, in der Stellvertretung durch die in Spielshows üblichen ›Kandidaten‹. »Einer wird gejagt. Da wird Einer wird Gewinnen zu einer Sache von gestern; und der Goldene Schuss wird scharf gefeuert,« schrieb Alexander Rost in der Zeit.46 Insofern stellt das Millionenspiel in den Vordergrund der Spielhandlung, was sonst nur den verborgenen, wenn auch erahnten Unter- und Hintergrund dieser Art von Fernsehunterhaltung auszumachen pflegt: »Nichts ist hier phantastisch. Was auf den ersten Blick wie ausgedacht erscheint, ist nur zu Ende gedacht.«47 Diese Interpretation bestätigte Wolfgang Menge damals in einem Interview mit der Münchner Abendzeitung:
»Alles, was das Millionenspiel zeigt, gibt es auch heute schon: das Brutalitätsbedürfnis der Zuschauer, den Zynismus der Fernsehroutiniers, die Geldgier der Kandidaten, die für klingende Münze beinahe alles tun. Ich bin sicher: Würden wir mit dem Millionenspiel heute Ernst machen, brauchen wir keine zwei Tage nach einem Kandidaten zu suchen.«48
Zu der zeitgenössischen Wahrnehmung der Fiktion als real trug wesentlich bei, dass Menge und sein Regisseur Tom Toelle zum einen die Rollen von Jäger und Gejagten mit noch unbekannten Schauspielern besetzten, um sie als ›normale‹ Kandidaten zu authentifizieren, zum anderen aber für die Rollen der angeblichen Fernsehmacher prominente TV-Gesichter gewannen: von der vertrauten Ansagerin der Sendung über den populären Showmaster Dieter Thomas Heck bis hin zu den Fernsehreportern Heribert Fassbender, Arnim Basche und Gisela Marx, die sich bei den inszenierten Straßenszenen gewissermaßen selbst spielten.
Das Ergebnis war denn auch, dass bei der Erstausstrahlung viele Zuschauer ungewöhnlich verunsichert waren. Die große Mehrheit durchschaute zwar den fiktionalen Charakter, war jedoch zu einem nicht geringen Teil von der Form wie den Inhalten erbost. »Fast 1000 Zuschauer riefen bei den deutschen TV-Redaktionen an, Hunderte schrieben empörte Briefe an Tageszeitungen oder beschwerten sich bei der Polizei«, berichtete Der Spiegel.49 Die Empfehlungen, wie man mit den Machern solcher Sendungen umzugehen habe, schlossen Mord durchaus mit ein.50 Nicht wenige Zuschauer hielten zudem das Spiel für Ernst, die fiktive TV-Show für eine tatsächliche. Hör Zu, die damals größte deutsche Programmzeitschrift, schrieb unter dem Titel »Ich wär ein guter Killer«: »Noch während der Sendung meldeten sich beim WDR 14 Männer zwischen 17 und 50 Jahren als Todeskandidaten, etliche als Jäger.«51 Und Wolfgang Menge selbst erinnerte sich ein Vierteljahrhundert später:
»Was Aufsehen erregt hat, war eigentlich die Bereitwilligkeit von Leuten, das mitzumachen. [...] Und bei der Wiederholung, als die Leute es wussten, dass es keine Fernseh-Show ist, [da haben sie gesagt]: ›Aber sollte es mal so kommen, melde ich mich jetzt schon an und möchte da mitmachen.‹«52