Der Televisionär. Группа авторов
können die Produzenten des Alternate-Reality-Millionenspiels im Millionenspiel nur durch Schummeln – durch stete Täuschung des Publikums – die Kontrolle über den Ablauf einigermaßen behalten. Für die fiktiven Mitspieler aber gilt: Dieses Spielen wie das digitaler Games »can be seen as part of a disciplinary reconfiguration of attention along the lines of postindustrial production.«69
Über die zeitgebundene Fernseh- und Kulturkritik hinaus gelang dem Millionenspiel damit langfristig Wesentlicheres: Es verlieh dem zeitgenössischen Prozess der Medialisierung, der Zurichtung des Alltags durch und für die Massenmedien, in provozierender Überzeichnung eine ästhetische Gestalt und machte sie damit für die Zeitgenossen allererst sichtbar. Daraus resultierte sein bleibender Einfluss auf die Fernsehmacher selbst. Trotz des hinderlichen Umstands, dass der Fernsehfilm auf Grund von Urheberrechtsproblemen – der WDR hatte die Verfilmungsrechte von einem deutschen Verlag erworben, der sie gar nicht besaß – über drei Jahrzehnte nicht ausgestrahlt oder auch nur öffentlich gezeigt werden durfte70, beeinflusste Das Millionenspiel wie »kaum eine andere fiktionale Produktion des deutschen Fernsehens [...] die Entwicklung der deutschen Fernsehfiktion – auf direkte wie indirekte Weise.«71
6 Spiel mit der Faktionalität III: Smog und F for Fake
Verhältnisse, die ihrer Realisierung noch harrten, imaginierte Wolfgang Menge auch in der dritten Faktion, die er um die Zeit schrieb, als Das Millionenspiel zum ersten Mal ausgestrahlt wurde: einen Smogalarm im Ruhrgebiet. Das Thema war für die damalige Zeit ungewöhnlich. Die Umweltschutzbewegung steckte erst in ihren Anfängen, ungehemmte Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung waren die industrielle Regel, die Partei der Grünen musste erst noch gegründet werden. Bis in kleinste Details folgte das Drehbuch zu Smog72 tatsächlich existierenden Notfall-Planungen. Wie diese Authentizität zustande kam, erzählte einmal Redakteur Peter Märthesheimer:
»Wir hatten ein Gespräch mit dem Referenten im nordrhein-westfälischen Innenministerium – es war übrigens das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, aber es ist ungefähr das Innenministerium –, und diesem Referenten war es erlaubt worden von seinem Minister, dem WDR diesen Smog-Alarmplan zu zeigen, zur Einsicht, aber nicht, ihn mitzugeben. Und da hat der Menge das Kunststück fertiggebracht, genau dieses Dokument zu stehlen – aus einem nordrhein-westfälischen Ministerium. Ich habe es dann zwei Tage später zurückgeschickt mit einer höflichen Entschuldigung, dass wir das leider versehentlich eingesteckt hätten. Wir hatten es ja mittlerweile auch kopiert ... Es war ja nur im Interesse des Ministeriums, weil auf diese Weise haben wir die Maßnahmen des Ministeriums auch wahrhaftig dargestellt.«73
Der Fernsehfilm wurde von – dem damals noch unbekannten – Regisseur Wolfgang Petersen für 700 000 Mark mit einem Aufwand realisiert, der schon wenige Jahre später nicht mehr denkbar gewesen wäre: Drehzeit zwei Monate, 85 Originalschauplätze, 80 Rollen – darunter einige bekannte TV-Journalisten, die sich selbst spielten.74 Als faktionales Gerüst zur erzählerischen Aufbereitung des Notfallplans diente wiederum ein Fernsehformat: das Regionalmagazin des WDR. Freilich hielten sich, anders als in der Dubrow-Krise und dem Millionenspiel, jene Teile, in denen die mediale Verarbeitung eines Smogalarms simuliert wurde, mit Elementen klassischer TV-Narration die Waage. Gegliedert in drei Tage – Akte – schilderten Menge und Petersen in einem naturalistisch radikalisierten Stil von Familienserie und Fernsehspiel die Versuche verschiedener sozialer Gruppen, die Notsituation zu bewältigen: den Kampf einer Angestelltenfamilie um ihr erstickendes Kind, die gleichgültige Reaktion einer Industriellenfamilie, deren Unternehmen zur Umweltverschmutzung beiträgt, das hilflose Handeln der Behördenvertreter, die den Smogalarm so lange verwalten, bis sich das Problem durch wechselndes Wetter von selbst löst.
Um zu zeigen, was sich eigentlich nicht zeigen ließ – Smog –, griff der Fernsehfilm zu einer Reihe cinematisch-fiktiver Mittel. Die Handlung spielte etwa entgegen aller Wahrscheinlichkeit durchgängig in äußerst trübem Wetter, und die Luftverschmutzung zerfraß bildträchtig die Fasern von Nylonstrümpfen. [Abb. 7] Der Spiegel beschrieb die Szenerie apokalyptisch:
»Leise rieselt das Gift. Damenstrümpfe zerreißen auf der Straße, in den Blumenkästen sterben die Tausendschönchen ab. Fußgänger torkeln übers Pflaster, Autofahrer hängen bewußtlos am Steuer, Fußballspieler brechen auf dem Rasen zusammen, Säuglinge würgen in Atemnot – Schwefeldioxid liegt in der Luft.«75
Bereits die Ankündigung, dass der Fernsehfilm produziert werde, führte zu größeren Protesten der Ruhrpott-Regionalpolitik gegen den, wie etwa Essens Oberbürgermeister klagte, »reißerisch aufgemachten Science-fiction-Film«.76 Sogar zu einer parlamentarischen Anfrage im nordrhein-westfälischen Landtag kam es. Nach der Ausstrahlung zur besten Sendezeit an einem Sonntagabend im April 1973 meldete die Westfälische Rundschau: »Smog alarmierte die Zuschauer.« 77 Beim WDR waren zahlreiche Anrufe eingegangen, in denen sich besorgte Zuschauer erkundigten, wie sie sich angesichts der gefährlichen Smoglage verhalten sollten. Wolfgang Menge, den das Thema Umweltzerstörung beschäftigte, seit er in den frühen sechziger Jahren Rachel Carsons Silent Spring78 gelesen hatte, sah ursprünglich die Vermischung und auch Verwischung zwischen faktischer Information und fiktionaler Spielhandlung noch radikaler vor:
»Ich hatte das so konzipiert, dass wir gleich nach der Tagesschau anfangen. Schon im Wetterbericht sollte die angebliche Smoglage gemeldet werden. Aber nach den Erfahrungen mit dem Millionenspiel, wo so viele Leute die Sendung Ernst genommen haben, trauten wir uns das nicht mehr. Wenn da irgendwelche Leute mit ihren Kindern auf die Autobahn gegangen wären, um zu flüchten, und dann wären womöglich noch Unfälle passiert! Das konnten wir einfach nicht verantworten ...«79
Das Presseecho auf die ungewöhnliche Produktion war generell freundlich. Die Zeit urteilte etwa unter der Überschrift »Qualm mir das Lied vom Tod«, der Film sei »ganz einfach spannend.«80 Für das Drehbuch erhielt Menge den Fernsehspielpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Sechs Jahre später, als 1979 im Ruhrgebiet tatsächlich der erste Smogalarm ausgerufen werden musste, bestätigte sich dann einmal mehr die so genannte Hellsicht des Smog-Autors, realiter die Genauigkeit seiner Recherchen und sein ungewöhnliches Talent, Alltagsreaktionen auf ›große Ereignisse‹ zu imaginieren. »Wolfgang Menge ist ein Unikum unter den deutschen Drehbuchschreibern«, meinte eine Kritikerin: »Er versteht es nämlich, Tatsachen und Erfindungen zu einem so seltsamen Gemisch zu verbinden, dass die Wirklichkeit durchsichtig wird.«81 Und Günter Rohrbach, unter dessen Ägide als WDR-Fernsehspielchef Millionenspiel und Smog produziert worden waren, schrieb 1984, zu Menges sechzigstem Geburtstag:
»Aufklärung mit dem Mittel spannender Unterhaltung. Menge ist in den Jahren danach häufig kopiert, jedoch kaum wieder erreicht worden. Auch von ihm selbst nicht. Das hat vor allem mit der Gunst der Stunde zu tun. Das Fernsehspiel war damals reif, entdeckt zu werden. Er hat zugegriffen. Es hat vor und nach ihm gute Fernsehspiele gegeben, Filme von großer Virtuosität und Meisterschaft. Doch kaum je wurde die Besonderheit des Fernsehens so genau getroffen wie in diesen beiden Stücken.«82
Zwar verfasste Menge im Laufe der siebziger Jahre noch zwei weitere faktionale Drehbücher, Planübung83 über ein Bundeswehrmanöver und Grüss Gott, ich komm von drüben84 über die denkbare Erbfall-Übernahme eines bundesdeutschen Betriebs durch DDR-Funktionäre. Doch blieben diese Arbeiten eher zweitrangig. Während sich Menge sukzessive von der Faktion als medialer Spiel-Form für Mögliches verabschiedete, gelang einem anderen erfahrenen Faktionen-Autor wenig später die ästhetische Realisierung dessen, was alle faktionalen Experimente seit ihren Anfängen betrieben hatten: die Infragestellung und Dekonstruktion jener indexikalischen Referenz, welche der industriellen Reproduktion von Bild und Ton durch Realitätsabdruck Authentizität garantierte. Mit F for Fake, ursprünglich von einem der Produzenten als TV-Dokumentarfilm über einen Kunstfälscher geplant, vollendete Orson Welles in Paris, was er mit dem Hörspiel War of the Worlds 1938 so spektakulär in New York begonnen hatte.
Wollten Dokumentarfilme – zu jenen analogen Zeiten jedenfalls noch – Wirklichkeit abbilden, so hielt Welles dagegen, dass authentische Abbildung nicht nur prinzipiell unmöglich, sondern auch intellektuell wie ästhetisch wenig wünschenswert sei. Indem er danach strebte, vom Arrangeur des vermeintlich Authentischen zum Entwickler von Einsichten