Der Televisionär. Группа авторов
Technology and Cultural Form, London: Fontana 1974). Seitdem rückte liveness als medienspezifische Realisierung dieser Flüchtigkeit ins Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Fernsehen. Vgl. z. B: »The ephemerality of broadcasting, encapsulated in the concept of ›liveness‹, has long been identified as a defining characteristic of television.« (Evans, Elizabeth: »Layering Engagement: The Temporal Dynamics of Transmedia Television«, Storyworlds: A Journal of Narrative Studies Vol 7 (2), 2015, S. 111-128, zitiert nach http://eprints.nottingham.ac.uk/30924/1/Evans%20-%20Layering%20Engagement%20(Storyworlds).pdf, S. 10)
IV Im Fernsehen der 1970er und 1980er Jahre: Gegenwart und Geschichte
Um 1970 geriet die bundesdeutsche Fernsehunterhaltung in eine Krise. Die Entertainer der ersten Stunde traten – zumindest vorübergehend – ab. Hans-Joachim Kulenkampff beendete 1969 seine ARD-Show Einer wird gewinnen,1 Peter Frankenfelds Vergissmeinnicht2 wurde vom ZDF, zu dessen Aufstieg die Show wesentlich beigetragen hatte, 1970 eingestellt. Im selben Jahr lief auch Der Goldene Schuss3, die dritte große Säule der öffentlich-rechtlichen Abendunterhaltung, zum letzten Mal. In den Sendern begannen die Verantwortlichen mit einiger Nervosität nach erfolgsträchtigen Modifikationen des Bekannten und jüngeren Entertainern zu suchen. Das Resultat waren ›modernisierte‹ Unterhaltungs- und Quizshows wie Wünsch Dir was4 oder Dalli Dalli.5 Wolfgang Menge hingegen richtete seinen Blick auf eine Form fernsehspezifischer Unterhaltung, die sich im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern im deutschen Sprachbereich noch nicht durchgesetzt hatte.
1 Spiel mit der Echtzeit: III nach 9 und Leute
Im amerikanischen Fernsehen waren Talkshows mit prominenten Gästen, Kabarett- und Musik-Einlagen seit den frühen 1950er Jahren fester Bestandteil des Abendprogramms. Ähnliche Formate kamen Mitte der 1960er Jahre im britischen Fernsehen auf. Wolfgang Menge faszinierte diese Möglichkeit, Tagespolitisches aktuell und live zu verhandeln. In Dieter Ertel, dem Leiter des Programmbereichs Kultur und Gesellschaft beim SDR, fand er einen Partner. Im November 1971 strahlte der Süddeutsche Rundfunk das so genannte »Anti-Magazin« Was gibt’s Neues aus.6
»Wir machten das live im Beisein des Intendanten und Programmdirektors, ohne es vorher zu proben usw. Der Intendant und der Programmdirektor haben danach gesagt: ›Nie wieder kommt ihr uns mit so einer Sendung daher! Das war ja furchtbar!‹«7
Die Anstrengung, die an diesem Abend beim ersten Anlauf scheiterte, hatte eine längere Vorgeschichte. Bereits als Zeitungsjournalist und Radiomacher wie dann auch als Drehbuchautor für den Film hatte Menge unentwegt nach neuen, unverbrauchten und ›realistischeren‹ Darstellungs- und Erzählformen gesucht. Die Qualität, die das Fernsehen – bei all seinen technischen Behinderungen der Frühzeit – dem Film voraushatte, war die Befähigung zur liveness: »Was das Fernsehen spannend macht, ist ja zu einem großen Teil das Live-Geschehen.«8 Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre konzentrierte sich Wolfgang Menges Interesse daher auf das Spielen und Experimentieren mit fernsehspezifischen Live-Formaten wie TV-Magazin (Fragestunde, Die Dubrow-Krise), Spielshow (Millionenspiel) und Nachrichtensendung (Smog). Diese Faszination, die in der damaligen Zeit von liveness ausging, der geradezu magische Reiz, den echtzeitige audiovisuelle Kommunikation auf die Zeitgenossen ausübte, lässt sich unter den Bedingungen digitaler Vernetzung nur noch schwer nachvollziehen. Für Menge, den journalistisch orientierten, auf Aufklärung zielenden Autor, bedeutete live ein »Moment von Überraschung und Unkalkulierbarkeit«9, einen Einbruch von Wirklichkeit ins Medium der Television, mit dem zugleich ein Kontrollverlust der Apparate verbunden war. Danach sehnte er sich:
»Was mich stört immer: dass das [deutsche Fernsehen] Konservencharakter hat, inklusive der Nachrichtensendungen. Selbst da hat man das Gefühl, dieses Ding ist seit vierzehn Tagen fertig, so sauber, nichts von der Atmosphäre dessen, was gerade geschehen ist an diesem Tag, ist auch nur mit einem Hauch in dieser Sendung drin.«10
Als eine Grundtendenz seiner Arbeit seit Mitte der sechziger Jahre lässt sich insofern das Streben von der vorproduzierten TV-Konserve weg und hin zu tagesaktuelleren Live-Formaten erkennen. Denn als ›normaler‹ Drehbuchautor unterlag er Zwängen, die mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu ›zeitlosen‹ Ergebnissen führten:
»Wenn ich mir heute etwas ausdenke, weiß ich, es ist frühestens in zwei Jahren auf dem Schirm. Als gelernter Journalist stört mich dieser Mangel an Aktualität, dass man Dinge, die einen gerade beschäftigen nicht in irgendeiner Weise verarbeiten kann.«11
Vor diesem Hintergrund versteht sich Menges Rolle bei der Entwicklung einer spezifisch deutschen Variante von Talkshow. Ein neues Live-Format zu entwickeln, war ihm so wichtig, dass er dafür sogar über seinen eigenen Schatten sprang. Als Dieter Ertel und er Ende 1971 das ›Anti-Magazin‹ konzipierten,
» [...] ging es um die Frage, wer setzt sich da nun hin. Und ich habe gesagt: Ich kann das nicht, ich geh’ nicht vor die Kamera. Ich habe ja nicht mal früher im Hörfunk, wenn der Autor vorkam, das selbst gesprochen. Selbst dafür habe ich mir einen Schauspieler geholt. [...] Ich habe immer eine Scheu gehabt, so etwas zu machen. Für die Nullnummer habe ich mich dann bereit erklärt. Es war furchtbar, es war so grauenhaft, der einzige, der es gut gefunden hat, war Walter Jens. Es war einfach chaotisch.«12
Mit dem spektakulären Scheitern der Pilotsendung schien das Experiment zu seinem Ende gekommen. Anderthalb Jahre später unternahm der WDR unter der Ägide von Menges Freund Werner Höfer einen eigenen Anlauf: Im März 1973 moderierte Dietmar Schönherr zum ersten Mal Je später der Abend.13 Zunächst lief die erste reguläre Talkshow des deutschen Fernsehens, ausdrücklich als Kopie amerikanischer Vorbilder konzipiert, monatlich im Dritten Programm. Ende des Jahres rückte sie in das Erste auf. Kurz darauf wechselte Dieter Ertel als Programmdirektor zu Radio Bremen.
»[Er] rief eines Tages an und sagte: ›Lass uns das noch mal versuchen.‹ Und da ich dachte, das wird sowieso nie was, habe ich mir gesagt, das mach‘ ich eben einmal mit. Und dann, muss ich sagen, dann hat es mir Spaß gemacht.«14
Die erste Sendung von III nach 915 begann am 19. November 1974 um fünf Minuten vor zehn. Die Zuschauer wurden, so teilte es die Ansagerin aus dem OFF mit, in eine laufende Sendung zugeschaltet. Was sie dort sahen, war für das deutsche Fernsehen der frühen siebziger Jahre recht ungewöhnlich:
»ein Szenario, das einer Kellerkneipe gleicht. Im Hintergrund unverputzte Wände, in der Mitte ein Podest mit Sesseln, auf denen zwei Männer sitzen, ins Gespräch vertieft. Schräg über ihnen baumelt eine riesige 9, an der Wand hinter ihnen hängt ein Porträt von Karl Marx. Um das Podest sitzt das Publikum, zumeist an Tischen. Zwei große Fernsehkameras sind zu sehen, und im Vordergrund links mehrere Monitore, eine Schreibmaschine, und arbeitsame Menschen dahinter: die Regie.«16
Das Sichtbarmachen des technischen wie organisatorischen Apparats der Show bis hin zu deren Steuerung durch eine Regie, die nicht nur im Raum der Sendung selbst saß, sondern sich auch televisuell durch kommentierende und witzelnde Text-Einblendungen aggressiv bemerkbar machte, war ebenso neu wie die dezentrale Positionierung der drei ›Gastgeber‹ Marianne Koch, Wolfgang Menge und Gerd von Paczensky. Menge, ein begeisterter Brettspieler, der überdies gerade in seinem Millionenspiel das Prinzip des Spielens im Realraum erprobt hatte, verglich gute Talkshows gelegentlich mit Fußball: ein Spielfeld mit wenigen Regeln, eine Anzahl von Spielern und ein schier unendliches Potential von Spielzügen und Kombinationen. Am Ende ist daher das
»wichtigste Element zum Gelingen einer Talkshow [...] Glück [–] weil die Herausforderung so groß ist, oft in Bruchteilen von Sekunden über Erfolg oder Misserfolg entscheiden zu müssen. Eine Nachlässigkeit, ein falsches Wort, ein falscher Satz, und eine ganze Sendung geht den Bach runter oder erreicht das, was Fernsehen im besten Fall erreichen kann: Zuschauer zu unterhalten, zu amüsieren, zu irritieren, nachdenklich zu machen, zu bewegen, mitfühlen zu lassen und aufzuklären.«17