Der Televisionär. Группа авторов
Rückgriff auf Niklas Luhmann, folgerichtig als ein Glücks-Spiel mit Komplexität durch Multiplikation der Elemente – mehr Talkmaster, mehr Gäste, mehr Raum, mehr Zeit plus Integration einer präsenten Technik und Regie. III nach 9 habe so »das Live-Prinzip in einem gewissen Sinne ausgereizt, indem aus jedem Element der Talkshow ein Maximum an Möglichkeiten generiert wurde.«18 Von der Kritik wurde III nach 9 begeistert aufgenommen. Besondere Beachtung fand nicht zuletzt auch Wolfgang Menges erstes Gespräch: eine kuriose Konfrontation des intellektuellen ›Glatzkopfes‹ mit dem leicht befremdeten Friseur des Bundestags.19
Acht Jahre, von 1974 bis 1982, wirkte Menge schlagfertig, respektlos und bissig in III nach 9. »Er ist verletzlich«, schrieb sein Freund Günter Rohrbach auf dem Höhepunkt von Menges Talkshow-Ruhm. »Seine Attitüde ist darum eher rau, seine Annäherungsweise bevorzugt giftig. Das hat ihm als Talkmaster nicht immer gute Noten eingetragen, der Sendung hingegen hat es meistens genützt.«20 Menge sah das nicht anders: »Es ergibt sich ohnehin die Frage: Soll ein Moderator beliebt sein? Ich begnüge mich mit der Frage.«21 Nicht wenige der von ihm meist antagonistisch geführten Gespräche wurden denn auch legendär, etwa die detailorientierte Debatte mit der Erotik-Händlerin Beate Uhse, die er zu ihrer Verblüffung mit eigenhändig eingekauften Sexartikeln konfrontierte, um listig deren genaue Funktionsweise und Preisgestaltung zu erkunden.22 [Abb. 1]
Nach dem Abschied von III nach 9 moderierte Menge mit Gisela Marx und am Ende auch Elke Heidenreich die SFB-Talkshow Leute.23 Sternstunden blieben auch in dieser Sendung nicht aus. »Der Reiz einer Talk-Show besteht darin, daß in ihr alles das möglich ist, was überhaupt das Fernsehen leisten kann«, schrieb Menge 1982.24 Als erinnerte er diese eigenen Sätze, erlaubte er im Dezember 1983 seinem alten Freund, dem von Drogenmissbrauch gezeichneten Kabarettisten Wolfgang Neuss, eingeladen zur Feier seines sechzigsten Geburtstags, ein angeblich vom – anwesenden – Regierenden Bürgermeister Berlins und späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker abgeschicktes Glückwunschtelegramm zu verlesen, das in dem Satz gipfelte: »Auf deutschem Boden darf nie mehr ein Joint ausgehen!« Und auch als Neuss, sichtlich nicht mehr nüchtern, sich später aus dem Publikum heraus in das Gespräch einmischte, das Marx und Menge mit von Weizsäcker führten und sich gar selbst in die Gesprächsrunde einlud, blieb Menge souverän und ließ ihn gewähren. Das Ergebnis war eine Konfrontation zwischen Neuss und »Richie«, wie der Kabarettist Richard von Weizsäcker adressierte, die nicht nur zu den denkwürdigsten Talkshow-Szenen des deutschen Fernsehens gehört, sondern auch zu einem wichtigen Erlebnis für von Weizsäcker wurde: »Es gibt kaum eine andere Veranstaltung dieser Art«, bekannte er ein Vierteljahrhundert später, »an die ich mich so lebhaft erinnere und so dankbar dafür bin, dass ich sie eben erlebt habe.«25 [Abb. 2]
Talkshows erlaubten Wolfgang Menge, ein Talent auszuspielen, das er wie wenige besaß, das jedoch in der Arbeit als Fernsehautor kaum Vorteile bot: die Fähigkeit, Situationen blitzschnell einschätzen und ebenso klug wie witzig reagieren zu können. In den insgesamt dreizehn Jahren, in denen er nebenberuflich als Talkmaster tätig war, gelang ihm daher etwas, das seiner Berufsgruppe im Unterschied zu Schauspielern oder auch Regisseuren normalerweise versagt bleibt: Er wurde zum Fernsehstar, zu einer populären TV-Ikone, dessen hohe hagere Gestalt mit dem kahl rasierten Schädel nahezu jedermann auf der Straße erkannte. Gleichzeitig blieb er jedoch primär Autor.
»Menge war ein außerordentlich guter Host; er stellte geschickte Fragen, schaffte eine interessante Atmosphäre und brachte seine Gesprächspartner zu ungewöhnlichen Antworten. Menge war aber nicht nur ein guter Host, weil er Talent hatte als Gesprächsführer; er war auch ein guter Host, weil er das Medium verstand. Weil er das Fernsehen kannte.«26
Aus demselben Grunde – weil er ein versierter Fernsehautor war – beschränkte sich Wolfgang Menges Streben zu tagesaktuelleren Live-Formen auch keineswegs auf seine Talkshow-Moderationen. Früh schon, noch vor dem Einstieg in Radio Bremens III nach 9, hatte er sich bei seinem Haussender WDR ein weiteres neues Format erschlossen, das ihm liveness so weit ermöglichte, wie es im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Systems damals möglich schien.
2 Spiel mit der Gegenwart:
Von Ein Herz und eine Seele zu Motzki
Die Serienform stand am Anfang von sowohl Wolfgang Menges Radio- als auch Fernsehkarriere. Als Stahlnetz nach zehn Jahren Laufzeit eingestellt wurde, konzipierte er jedoch zunächst keine Serie mehr. Stattdessen begann er, mit liveness zu experimentieren. Erst nach der Dubrow-Krise, dem Millionenspiel und Smog, drei Faktionen, die auf verschiedene Weise liveness simulierten, und dem Scheitern des Liveness -Experiments mit dem »Anti-Magazin« beim SDR Ende 1971 entschloss er sich, eine für ihn wie das deutsche Fernsehen neue Serien-Form zu adaptieren: die vor Publikum live produzierte Situationskomödie. Das Genre geht auf die Anfänge des angelsächsischen Fernsehens zurück, als in Ermangelung technischer Aufzeichnungsmöglichkeiten Sitcoms gleich Theaterspielen live aufgeführt und versendet wurden.
Inhaltlich fokussierte sich Menge auf die bundesdeutsche Gemütslage (oder Gemütsschieflage) der frühen siebziger Jahre. Die von der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre ausgehende Lifestyle-Revolte erreichte damals die gesellschaftliche Mitte. Seit 1969 regierte zum ersten Mal eine Koalition aus SPD und FDP. Unter der Kanzlerschaft des ehemaligen Anti-Nazi-Emigranten Willy Brandt vollzog sich ein spürbarer und hart umkämpfter gesellschaftlicher Wandel. Er reichte von der neuen Ostpolitik bis zur Reform der Paragraphen 175 und 218, die seit 1872 Homosexualität und Abtreibung rigoros unter Strafe gestellt hatten. Diesen Prozess, der eine Mehrheit der Bundesdeutschen aufwühlte und ihre gewohnten Denk- und Lebensweisen in Frage stellte, wollte Menge satirisch begleiten. Vorbild war die britische Familienserie Till Death Us Do Part.27 Von ihr übernahm Menge für Ein Herz und eine Seele28 die personelle Grundkonstellation. Seine Wattenscheider Familie Tetzlaff bestand aus einem reaktionären, rassistischen und hemmungslos-haustyrannischen Vater um die Fünfzig, den jede Veränderung zutiefst erschreckte und erzürnte; einer einfältig-harmlosen Hausfrau-Mutter, einer kaum weniger harmlosen Tochter Anfang Zwanzig plus einem ebenso klugen wie faulen – und in der deutschen Variante zudem noch aus der DDR stammenden – linken 68er-Schwiegersohn.
Mit Ein Herz und eine Seele erfüllten sich für Wolfgang Menge gleich zwei Sehnsüchte. Am Anfang seiner Selbstkonstruktion als Autor hatte die Liebe zum Kabarett gestanden. Über die Jahre hinweg hatte er die Nähe und Freundschaft exzentrischer Kabarettisten gesucht – von Wolfgang Neuss über Helmut Qualtinger bis zu Dieter Hallervorden.29 Nun konnte er im Genre der Sitcom die Qualitäten des Kabaretts mit denen des Fernsehens verbinden. Ein Herz und eine Seele operierte mit einer regelhaft festgelegten Gruppe von Charakteren, die jeweils auf eine klar definierte Spielsituation – »Silberne Hochzeit«, »Die Beerdigung« – mehr oder weniger überraschend reagierten. Die Serie wies damit auf die Muster des Kabaretts zurück. Zudem wurde sie erst am Tag der Sendung selbst vor Publikum live aufgezeichnet. Bis zum letzten Augenblick konnte Menge so Bezüge zu Tagesereignissen einarbeiten. Damit operierte Ein Herz und eine Seele – höchst ungewöhnlich für Serienunterhaltung – mit der Aktualität einer abendlichen Kabarettvorstellung:
»Keine andere Arbeit hat ihm so viel Spaß gemacht wie diese. Es war fast wieder wie in den Tagen seines Zeitungsjournalismus. Bis wenige Stunden vor der Live-Sendung wurde geändert, aktualisiert, man konnte unmittelbar auf politische Ereignisse reagieren.«30
Anders jedoch als die isolierten Sketche und Nummern eines Kabaretts oder auch journalistische Beiträge bot Menges Serie zum einen über das Genre der Sitcom eine kohärente Narration, zum anderen über das Moment der liveness simulierte Einblicke in den wie immer stilisierten Alltag einer bundesdeutschen Familie:
»Die Sitcom ist eine Versuchsanordnung, bei der der Fernsehapparat in einen Raum hineinschauen lässt, der ein mehr oder weniger genaues Spiegelbild des Raumes ist, in dem wir uns gerade befinden. In einem Wohnzimmer mit dem Fernsehen als vierte Wand sitzend, schauen wir genau in ein solches Wohnzimmer hinein, dessen vordere Wand entfernt wurde und in dem die Kamera den Ort des Fernsehgeräts einnimmt.«31
Damit antizipierte Ein Herz und eine Seele die fotorealistisch-panoptische Beobachtung von Menschen in familiär-intimen