Der Televisionär. Группа авторов
insgesamt überdurchschnittlich – konnten Motzki ebenso wenig retten wie das positive internationale Echo. Die ARD-Verwalter hatten schon vor der Ausstrahlung versucht, das Schlimmste zu verhindern:
»Beim WDR, neben dem Norddeutschen Rundfunk an der Produktion mitbeteiligt, ließ man kaum etwas unversucht, die schmerzlichen Wahrheiten von vornherein zu verkleistern. Immer wieder beanstandeten die Kölner allzu drastische Szenen, immer wieder drangen sie auf Änderungen […]«50
Als daher Politik und Medien Motzki, wie die Berliner Zeitung später schrieb, »zu einem Sicherheitsrisiko für das Zusammenwachsen der Brüder und Schwestern verklärten«,51 gab die ARD dem doppelten Druck bereitwillig nach und stellte die Serie nach der ersten Staffel ein.52
Wenn die opportunistische Reaktion ›seines‹ Senders auf den ungeliebten Erfolg von Motzki Wolfgang Menge auch nicht gleichgültig ließ und durchaus ein wenig verbitterte – überraschen konnte sie ihn nicht. Denn bereits in den Auseinandersetzungen um Ein Herz und eine Seele Mitte der siebziger Jahre hatte er erfahren müssen, dass die Gremien, die über die ARD wachten, seine Sehnsucht nach TV-gemäßer liveness primär als unnötiges Risiko wahrnahmen und seinen kabarettistisch-respektlosen Witz als Gefährdung der gewünschten Unverbindlichkeit des Programms. In der Konsequenz opponierte er damals nicht nur frontal, indem er mit dem Fernsehspiel Ein Mann von gestern den unheilvollen Einfluss der Politik auf das Fernsehen als Ende journalistischer Freiheit thematisierte. Gleichzeitig erschloss er sich, da liveness einzig im neuen Freiraum der Talkshow, nicht aber in den Genres des Fernsehspiels oder der Sitcom zu haben war, auch mit einer gewissen List ein komplett neues Arbeits- und Themenfeld, für das sich liveness ohnehin nur simulieren ließ: die deutsche Geschichte. Diese erneute künstlerische Wende korrelierte zeitlich mit einer grundsätzlichen Veränderung des Fernsehens selbst, zu der es um 1980 kam.
3 Spiel mit der Geschichte: Von Was wären wir ohne uns zu Ende der Unschuld
Technisch wie organisatorisch veränderte sich die Television seit ihrer massenhaften Einführung in Großbritannien und den USA während der späten 1940er Jahre kontinuierlich bis in die 1970er Jahre hinein. So wurden Aufzeichnungsverfahren zur asynchronen Versendung entwickelt, die Bildschirme der Empfangsgeräte vergrößerten und verbesserten sich, sie wurden farbig, die Tonqualität steigerte sich von Mono über Stereo auf HiFi, neue Sender und Kanäle erweiterten das Unterhaltungs- und Informationsangebot. Um 1980 jedoch kulminierte eine Vielzahl grundlegender technischer, sozialer und politischer Entwicklungen. Aus ihnen resultierte eine tiefgehende Neuorganisation des medialen Dispositivs Rundfunk und speziell Fernsehen: eine erste, noch analoge Disruption.
Medientechnisch setzte die allmähliche Emanzipation der Zuschauer vom Programm einiger weniger Sender ein. Dazu trug zweierlei bei. Die Einführung und stete Verbilligung des Heim-Videorekorders erlaubte sowohl eine zeitversetzte Rezeption von Programmangeboten wie auch die Rezeption von Audiovisionen, die im Sendegebiet nicht ausgestrahlt wurden – etwa ausländisches Fernsehen – oder unter den geltenden Gesetzen nicht sendefähig waren – etwa (noch) nicht lizensierte Spielfilme oder Pornographie.53 In den USA z. B. stieg der Anteil der Haushalte, die über einen VCR verfügten, von 1% im Jahr 1980 auf 85% im Jahr 2000.54 In der Bundesrepublik besaßen Mitte der achtziger Jahre 22% aller Haushalte einen Videorekorder und zu Beginn der neunziger Jahre bereits 54%.55 Zusätzlich zu dem neuen Distributionsweg Videokassette multiplizierte sich im Laufe der 1980er Jahre auch das Broadcast-Angebot. An die Seite der – durch die Zahl natürlicher Frequenzen begrenzten – terrestrischen Sender trat eine schnell wachsende Zahl von Kanälen, die über Satelliten und Kabel angeboten wurden.56
Ihre schnelle Popularisierung verdankten diese neuen TV-Technologien wesentlich sozialen Entwicklungen im Prozess der Postindustrialisierung, einem Wandel, der in der jugendlichen Lifestyle-Rebellion der sechziger Jahre begonnen hatte und nun die Bevölkerungsmehrheit und die etablierten Institutionen erfasste. Verlangt wurde von einer wachsenden Zahl jüngerer und besser ausgebildeter Konsumenten gerade in den Bereichen von Unterhaltung und Information mehr Vielfalt, Wahl- und Handlungsfreiheit. Damit stand die staatlich abgesicherte oligopolistische Verfasstheit des öffentlich-rechtlichen Systems zur Debatte, insbesondere die immer erdrückendere Kontrolle der Anstalten durch die Parteien und die daraus resultierende Konformität nicht nur der Informations-, sondern auch der Unterhaltungsangebote. Anfang der achtziger Jahre wurden die politisch-juristischen Weichen für die Einführung des dualen Systems aus öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern gestellt. Um die Mitte des Jahrzehnts nahmen mit SAT.1 und RTL die ersten Privatsender ihren Betrieb auf. Nach nur wenigen Jahren überholten sie an Reichweite die ehemaligen öffentlich-rechtlichen Oligopolisten.57 ARD und ZDF beschleunigten ihren Status-Verlust zudem dadurch, dass sie sich einerseits immer tiefer in die Abhängigkeit von der Politik begaben und andererseits – statt auf Qualität und Innovation zu setzen – mit den privaten Anbietern auf die so genannte ›Jagd nach der Quote‹ gingen und dementsprechend ihr Angebot nivellierten.
Im Zusammenwirken von technischen Neuerungen, einem Wandel sozialer Bedürfnisse und der politisch gewollten Einführung des dualen Systems vollzog sich so zwischen Mitte der 1980er und Mitte der 1990er Jahre erst in der Bundesrepublik, dann in Gesamtdeutschland eine Disruption des medialen Dispositivs Rundfunk. Ihr zentrales Kennzeichen war eine radikale Ausdifferenzierung des monolithischen Leitmediums Fernsehen: Die Vervielfachung des Programmangebots durch Privatisierung und Internationalisierung bewirkte eine Zersplitterung des Publikums – der einstigen Fernsehnation – und zugleich auch seine Aktivierung durch gesteigerte Wahlmöglichkeiten. An die Stelle der bis dato vorherrschenden programmierten Gleichzeitigkeit eines rein passiven Konsums von Audiovisionen trat – mehr als ein Jahrzehnt vor der Durchsetzung digitaler Audiovisualität – zunehmend die Freiheit vom Programm und damit die Notwendigkeit zu mehr oder weniger bewussten Rezeptions-Entscheidungen.
Relativ zeitgleich mit dem Beginn dieser analogen Disruption des Fernseh-Dispositivs beschloss Wolfgang Menge, sich als TV-Autor von spekulativ-zukunftsorientierten Faktionen ab- und historischen Rekonstruktionen zuzuwenden. Damit teilte sich seine Arbeit für das Fernsehen in zwei gegensätzliche Teile: in die kommentierende Live-Begleitung des bundesrepublikanischen Zeitgeschehens als Talkshow-Host und als Komplement zu dieser absoluten Gegenwärtigkeit die narrative Rekonstruktion deutscher Vergangenheit als Fernsehspielautor.
Gemeinsam ist den durchweg mehrteiligen Drehbüchern, die zwischen dem Ende der siebziger Jahre und den frühen 1990er Jahren entstanden – über die ersten Jahre der Bundesrepublik, über das Leben in Preußen, den Berliner Alltag der Nazi-Zeit, die Arbeit an einer deutschen Atombombe während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs –, dass sie auf Verfahren journalistisch-wissenschaftlicher Recherche und dokumentarisch-inszenatorischer Aufbereitung beruhten. Sie lassen sich unter dem Begriff einer ›kreativen Alltags-Archäologie‹ fassen. Bei ihr ging es darum, das »Zusammenspiel zwischen Privatem und Politischem« darzustellen, wie es generell zu jener Zeit ins Zentrum des Fernsehspiels rückte.58 Menges Arbeit kennzeichnete dabei »die Rekonstruktion aus Fakten und Fiktionen, Spurensuche und die Arbeit der logischen Phantasie, um das Ausgegrabene, Dokumente wie Erinnerungen, zu Geschichten aus der Geschichte zusammenzufügen.«59 Dies geschah mit dem offensichtlichen Ziel, »politische Aufklärung für ein möglichst großes Publikum zu bewirken, indem die Trennung von Politik und Unterhaltung aufgehoben« wurde.60
Das erste historische Projekt, die vierteilige Aufarbeitung der Gründerjahre der Bundesrepublik Was wären wir ohne uns,61 entwickelte Wolfgang Menge gemeinsam mit Reinhart Müller-Freienfels, dem Leiter der Hauptabteilung Fernsehspiel beim Süddeutschen Rundfunk.62 Im damaligen Diskurs um eine bundesdeutsche Identität waren die fünfziger Jahre eine höchst umstrittene Epoche. Angehörige der Kriegsgeneration, die wie Wolfgang Menge in dieser Frühzeit der zweiten deutschen Demokratie um die 30 Jahre alt gewesen waren, erinnerten das erste Nachkriegsjahrzehnt als eine Aufbruchszeit, in der nach jahrelangen Entbehrungen der Weg in einen nie zuvor gekannten Wohlstand begonnen hatte. Für die zahlenstarke Kohorte der so genannten 68er-Generation hingegen, die im Schmitt 20 Jahre jünger und in den fünfziger