Der Televisionär. Группа авторов
»Hinzu trat noch eine dritte Gruppe derjenigen, die die 50er Jahre gar nicht selbst erlebt hatte und daher über keine direkten Erinnerungen verfügte. Gerade die letzte Gruppe nahm dabei, demographisch gesehen, immer weiter zu und umfasste 1977 mehr als ein Viertel der westdeutschen Gesamtbevölkerung.«63
Insofern die fünfziger Jahre in den Siebzigern allmählich Geschichte wurden, aber gleichzeitig die etablierte Geschichtswissenschaft sich für das, was wir heute Alltags- und Mentalitätsgeschichte nennen, noch kaum interessierte,64 ergab sich für Wolfgang Menge die günstige Gelegenheit, Geschichten aus diesem vergehenden Alltag zu recherchieren und zu erzählen. Ins Zentrum seines Vierteilers stellte er die ›Normalfamilie‹ Baumann – Vater, Mutter, Tochter –, deren Lebensweg er von 1950 bis 1953 verfolgte. Thematisiert werden zeittypische Probleme wie Schwarzmarkt und Wohnungsnot, die Ankunft von Flüchtlingen und Spätheimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft, die Wiederbewaffnung, die Angst, der kalte Krieg könne heiß werden, sowie natürlich der wirtschaftliche Aufschwung und neue Wohlstand.
Zur Darstellung wählte Menge jedoch nicht die konventionelle Form eines Fernsehspiels. Vielmehr kreierte er eine neue »historiographische Mischform«65, die in der Folge durchaus »stilprägend für die dokumentarische Form der Mosaiksendungen« wurde.66 In ihrem Zentrum steht ein Moderator oder Erzähler. Seine Kommentare verbinden die unterschiedlichen fiktionalen und nonfiktionalen Elemente der historischen Rekonstruktion: zum Ersten Spielszenen, inszeniert im Stil einer Familienserie; zum Zweiten dokumentarisches Material, präsentiert im Stil einer Kinowochenschau; zum Dritten Showeinlagen mit kabarettistischem Einschlag; zum Vierten Szenen einer simulierten und verfremdend eingesetzten liveness, in denen der Moderator die Charaktere der Spielszenen direkt anspricht und wie in einer Talkshow interviewt:
»In solchen Momenten wurde die Handlung durch den Moderator zu einem dokumentarischen Live-Dokument stilisiert, in dem die Figuren direkte Auskunft über ihr Leben und Fühlen in den 50ern geben können, wodurch der Aspekt der Konstruktion von Geschichte durch Vergegenwärtigung immer wieder eine Thematisierung erfuhr. [...] In Was wären wir ohne uns wurde also die Erinnerungsperspektive mehrerer Generationen genutzt, um typische Bilder der 50er Jahre erzeugen zu können.«67
Der Vierteiler, inszeniert von Ulrich Schamoni, einem Vertreter des Neuen Deutschen Films, »erreichte für Geschichtssendungen ungewöhnlich hohe Einschaltquoten zwischen 39 und 44 Prozent; bis zu 16 Millionen Zuschauer verfolgten die einzelnen Teile.«68 Dieser Erfolg ging nicht zuletzt auf die aufwändige, erinnerungsträchtige Authentizität schaffende Ausstattung zurück. Insbesondere Konsumartikel der frühen fünfziger Jahre wie Kühlschränke, Radio oder Fernseher wurden mit einer zwischen Trödelladen und Museum angesiedelten Nostalgie präsentiert. Die kritische Reaktion war – wie meist bei Menges Fernsehspielen – gespalten, in diesem Fall zwischen der Bewunderung für gelungene Unterhaltung und Kritik an einer detailverliebten und vermeintlich allzu positiven Geschichtsdarstellung. Die letzte Folge jedenfalls endete damit, dass Menge die Raison d’Être von Was wären wir ohne uns offenbarte, indem der Conférencier sich direkt an das Fernsehpublikum wendet: »Ist es vielleicht so, dass unsere Sorgen von heute erst dadurch entstanden sind, dass wir damals in falsche Richtungen gegangen sind?«
Dieser Frage ging Menge auch in seinem nächsten, gleichfalls von Schamoni inszenierten Historien-Mehrteiler So lebten sie alle Tage nach. Das »Preußen-Potpourri«, aufbereitet als »üppige Multi-Media-Show«69, war ein Prestigeprojekt des WDR:
»Gedreht wurde die 3-Millionen-Mark-Produktion an 18 verschiedenen Orten und in 33 Dekorationen, zum Teil an Originalschauplätzen. Einige Bauten, wie das frühere Brandenburger Tor und eine bereits damals, Ironie der Geschichte, trennende Berliner Stadtmauer, wurden maßstabsgerecht nach einem Stich von Chodowiecki nachgebaut.«70
Sender und Autor unternahmen zudem eine transmediale Begleitung: Neben den fünf Fernsehspiel-Folgen So lebten sie alle Tage, inszeniert nach dem Mosaik-Muster von Was wären wir ohne uns, gab es ein Buch zur Sendung71, eine Live-Sendung im Dritten WDR-Programm72 und eine Presseoffensive. Menge selbst betonte, dass sein Interesse an der preußischen Vergangenheit wesentlich mit der bundesdeutschen Gegenwart zu tun hatte:
»Ich bin nun mal vom Schicksal geschlagen und in diesem Lande geboren worden, und da mir vieles in diesem Lande missfällt, will ich das auch ein bisschen verändern, damit das vielleicht anderen später weniger missfällt. Das klingt jetzt ein bisschen heroisch. Im Grunde ist es das: Meine Kinder sollen es später besser haben [...]«73
Für diese bessere Zukunft schwebte ihm nicht zuletzt ein anderes Deutschland vor. Im Sommer 1981 beantwortete er die Frage des FAZ-Magazins, was für ihn das größte Unglück darstelle, mit: »Die Teilung Deutschlands.«74 Auf Dauer könne die westdeutsche Demokratie nur bestehen, meinte er, wenn die Deutschen, den Bürgern anderer Nationalstaaten gleich, ein ›normales‹ Verhältnis zu ihrem Staat wie auch zu ihrer Vergangenheit entwickelten:
»Ich habe schon immer das Gefühl gehabt, dass wir – die Leute unserer Generation und die Leute mit unserer Haltung – eigentlich auch die Geschichte schreiben müssten der deutschen Helden des Zweiten Weltkriegs. Weil ich es für gefährlich halte, wenn das alles so versteckt bleibt. Der U-Boot-Kapitän Priem, die großen Jagdflieger, die Helden eben, die jede Nation hat [...] Die Geschichten dieser Leute müssten wir kritisch machen in Verbindung mit der Nazi-Zeit, aber die Abenteuer mitnehmen. Ich gebe zu, es ist eine heikle Geschichte, aber irgendwann werden diese Geschichten gemacht, auch im deutschen Fernsehen, auch in den Büchern, und dann, fürchte ich, werden sie nicht so gemacht, wie wir sie noch gemacht hätten.«75
Preußen bot für eine solche Selbstvergewisserung eine frühe und vergleichsweise unbelastete Tradition, die Wolfgang Menge verlebendigen wollte, indem er für diese Vor-Film- und Vor-Fernsehepoche alltagsdokumentarische Bilder und Szenen schuf. Der Spiegel zumindest meinte, dass sei mit So lebten sie alle Tage nur begrenzt gelungen und bemängelte die »gestelzte Didaktik« des Moderators und »groteske Dialoge« in den Spielszenen.76
Drei Jahre später, zur 750-Jahr-Feier Berlins, nahm Wolfgang Menge eine erheblich problematischere Vergangenheit ins Visier: das Alltagsleben in der nationalsozialistischen Reichshauptstadt zwischen 1938 und 1944 und den aus den Erfahrungen des nachfolgenden Zusammenbruchs resultierenden Identitätsverlust einer ganzen Generation.
»Mein Grundkonzept war: weg von Auschwitz und Juden und Nicht-Juden. Ich wollte eine Liebesgeschichte machen. Meine Helden sind Leute, die überhaupt nicht wahrnehmen, was sich da ereignet, nur zwei, drei Mal bricht die Politik herein. Mir geht es darum, dass immer gesagt wird: die Nazis! Und ich will zeigen, dass es die ganz normalen Leute gewesen sind. Und dass die es heute noch sind.«77
Für den Zweiteiler Reichshauptstadt privat – und die dazugehörigen vier Folgen Sittenspiegel – recherchierten der Autor und sein Redakteur-Regisseur Horst Königstein bei noch lebenden Zeitzeugen:
»›Wir waren Ethnologen, Sammler der letzten Stimmen‹, sagt [...] Königstein über die Besuche des Fernsehteams bei unzähligen Zeitzeugen. ›Wir haben diesen ausgemergelten, einsamen Menschen zugehört, sie haben uns ihre abgegriffenen Alben gezeigt, ihre Ikonen der Vergangenheit. Und immer wieder sagten die Leute Sätze wie ›Ja, es war schlimm, und ich weiß, daß wir mitschuldig waren. Aber meine guten Erinnerungen lasse ich mir nicht nehmen!‹«78
Wer Reichshauptstadt privat damals sah, erlebte die Darstellung einer Generation von Vergesslichen auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ein Protokoll ihres vergeblichen Erinnerns. Gerade in der virtuosen Handhabung der semi-dokumentarischen Form demonstrierten Menge und Königstein die Unmöglichkeit der angestrebten ›Vergegenwärtigung‹. Den Geschichtsverlust, den das Fernsehspiel überwinden wollte, führte es treffend vor, mit Szenen und Sätzen, die man als Nachgeborener nicht so schnell vergessen konnte. Das private Leben ›unter Hitler‹ jedoch blieb unvorstellbar – und sei es selbst, wie im Falle der Helden Anna und Kurt, das eigene gewesen:
»Die Perspektive, aus der die Handlung erzählt