Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
mit unserer Umgebung aus, atmen Sauerstoff ein und nehmen Wasser und Nährstoffe auf, die einstmals Teil anderer Kreaturen waren. Alles Leben auf Erden hat denselben genetischen Kodierungsmechanismus gemeinsam. Alle anderen Lebewesen sind „unsere Beziehungen“.
Wir sind also dazu aufgerufen, von einem Anthropozentrismus zu einer „biozentrischen“ oder „ökozentrischen“ Perspektive überzugehen. Der Anthropozentrismus ist von seinem Wesen her eine egozentrische Geisteshaltung. Doch wir sind dazu aufgerufen, unser Empathievermögen auf alle Lebewesen auszudehnen, ja sogar auf den Boden, die Luft und das Wasser, die ebenfalls ein Teil von uns sind.
Eine anthropoharmonische Alternative
Stephen Scharper (1997) schlägt als Alternative zur anthropozentrischen Geisteshaltung eine „anthropoharmonische“ vor. Anstatt die „Natur zu erobern“, müssen sich die Menschen in Harmonie mit der umfassenderen Ökosphäre entwickeln. Das heißt nicht, dass wir bestreiten müssten, dass der Mensch in gewisser Hinsicht einzigartig auf Erden ist. Wir sollten unsere Einzigartigkeit feiern und dabei unsere Abhängigkeit von allen anderen Kreaturen anerkennen. Es heiß auch nicht, dass die Menschen niemals andere Lebensformen töten können, denn es gibt tatsächlich keine andere Möglichkeit zu überleben, als andere Organismen aufzuzehren.
Doch eine anthropoharmonische Ethik leben meint, einen tiefen Respekt und Liebe gegenüber allem Leben zu entwickeln. Es heißt, damit aufzuhören, Herrschaft auszuüben, zu manipulieren und die Erde zu verbrauchen und zu verschmutzen, als ob sie unser Privateigentum wäre. Und es heißt, nicht mehr zu verbrauchen, als für ein Leben in Würde und Gesundheit nötig ist – und folglich damit aufzuhören, nach grenzenloser Akkumulation zu streben.
Arne Naess behauptet, dass uns die Tiefenökologie letztlich dazu herausfordert, neu zu definieren, was es heißt, Mensch zu sein. Dabei geht es nicht darum, dass wir unsere Identität verleugnen (sie ist ja der einzigartige Anteil, den wir an der sich entfaltenden Evolution haben), sondern vielmehr darum, sie in den umfassenderen Kontext des „ökologischen Selbst“ zu stellen. Eine solche Umorientierung muss weit über die Ebene der bloß verstandesmäßigen Akzeptanz hinausgehen, sie muss jede Facette unseres Seins und Handelns durchdringen. Insbesondere fordert sie die Menschheit dazu auf, das Streben nach Erwerb, Konsum und Herrschaft aufzugeben, da dieser Weg niemals zur echten Verwirklichung der Menschheit führen kann. Stattdessen müssen wir Sicherheit, Liebe und Gemeinschaft in Harmonie mit der umfassenderen Ökosphäre anstreben. Diese Art von Bekehrung zu einer neuen Ethik ist eine sehr tiefgehende Herausforderung, und dennoch eine, die die Menschheit zu einer erfüllteren Lebensweise hinführen könnte.
Ökofeminismus
Der Ökofeminismus vertieft in vielerlei Hinsicht noch die Kritik der Tiefenökologie am Umweltdenken. Gleichzeitig stellt er uns eine breitere Analyse zur Verfügung, die auch das Problem der zwischenmenschlichen Ungerechtigkeit mit berücksichtigt. Eine Art, den Ökofeminismus zu verstehen, ist es, ihn als eine Integration der Perspektiven des Feminismus und der Tiefenökologie zu begreifen, obwohl die Synthese, die daraus entsteht, wahrscheinlich radikaler (im ursprünglichen Sinne des Wortes, das heißt stärker an die Wurzel gehend) und umfassender ist als die Summe ihrer beiden Komponenten.
Der Feminismus für sich genommen ist eine vielfältige und vielgestaltige Bewegung, die man nicht mit einer einzigen Definition angemessen erfassen kann. Für unseren Zusammenhang jedoch können wir Feminismus als eine tiefgehende Kritik am Patriarchat verstehen, wobei Patriarchat hier das System ist, vermittels dessen die Männer die Frauen beherrschen. Radikale Spielarten des Feminismus stellen jedoch einen Kausalzusammenhang zwischen der Herrschaft und Ausbeutung auf der Grundlage von gesellschaftlichen Klassen, Rassen, Ethnien und unterschiedlicher sexueller Orientierung her. Das Patriarchat wird so in einem sehr weiten Sinne verstanden. Ein radikaler Feminismus ist also nicht einfach das Streben nach Gleichheit zwischen Männern und Frauen innerhalb der herrschenden (Un-)Ordnung (was ohnehin nicht möglich wäre); er ist vielmehr eine Kritik aller Systeme, die Unterdrückung und Ausbeutung verstetigen.
Vandana Shiva (1989 a und b) behauptet denn auch, dass der Feminismus letztlich eine Philosophie und Bewegung jenseits der Geschlechtergrenzen sei. Er erkennt an, dass Männlichkeit und Weiblichkeit gesellschaftlich und ideologisch konstruiert sind und dass sich das weibliche Prinzip der Kreativität in den Frauen, den Männern und der Natur verwirklicht findet. Die Wiederaneignung dieses Prinzips als eine Herausforderung für das Patriarchat beruht auf einer Integrationskraft, welche die Frauen dazu aufruft, produktiv und aktiv zu sein, und Männer dazu motiviert, ihre Aktivitäten auf die Möglichkeiten der Lebensförderung hin neu zu orientieren. Während Frauen in Gestalt der feministischen Bewegung die Führung übernommen haben – was insofern nicht mehr als recht ist, als Befreiung normalerweise bei den Unterdrückten ihren Anfang nimmt ‒, müssen auch die Männer aktiv für den Feminismus und dessen Herausforderung des Patriarchats Partei ergreifen.
Der Feminismus ist wahrscheinlich eine der wichtigsten und originellsten Bewegungen aller Zeiten. Fritjof Capra (2004) schreibt, dass das Patriarchat bis vor Kurzem als so alles durchdringend und tief verwurzelt erschien, dass es selten, wenn überhaupt, ernsthaft infrage gestellt wurde. Dabei prägte es alle menschlichen Beziehungen und unsere Beziehung mit der Welt um uns zutiefst. Dennoch ist die feministische Bewegung heute eine der stärksten kulturellen Strömungen unserer Zeit geworden. Sie hat nun tatsächlich alle Grenzen und Klassenschranken überschritten und ist in ihrer Reichweite wahrhaftig global geworden.
Die Verbindung von Patriarchat und Anthropozentrismus
Der Ökofeminismus verbindet die Einsichten aus Feminismus und Tiefenökologie zu einer neuen Synthese und behauptet eine dynamische Verschränktheit von Patriarchat und Anthropozentrismus. Aus einer ökofeministischen Perspektive ist es kein purer Zufall, dass das westliche patriarchalische Denken die Frauen mit der Natur identifizierte: Diese gesellschaftliche Konstruktion diente dazu, beide gleichzeitig auszubeuten und zu beherrschen, da sie beide als den Männern unterlegen aufgefasst werden. Vandana Shiva schreibt: Die Metaphern und Begriffe eines Verstandes, der von der feministischen Perspektive unbeeinflusst ist, hatten zur Grundlage, dass Natur und Frauen als wertlos, passiv und letztlich verzichtbar betrachtet wurden.“ (1989 b, 223) Sowohl die Frauen als auch die Natur werden als passiv betrachtet, während die Männer als rational, stark und emotionslos gelten. In einer patriarchalischen Gesellschaft wird die gesellschaftlich konstruierte Rolle des Mannes als überlegen gewertet, während die Frauen und die Natur grundsätzlich als Ausbeutungsobjekte angesehen werden. Deshalb behaupten Ökofeministinnen, dass es weitaus zutreffender ist, von Androzentrismus (Männerzentriertheit) anstelle von Anthropozentrismus zu sprechen. Charlene Spretnak meint:
„Die moderne technokratische Gesellschaft ist vom patriarchalischen Herrschafts- und Kontrollwahn durchdrungen. Beide (stützen) ein Managerethos, welches Produktionseffektivität und kurzfristige Gewinne über alles andere setzt: über ethische und moralische Standards, über die Gesundheit des Gemeinwesens, und über die Intaktheit aller biologischer Prozesse, besonders derer, welche die grundlegende Kraft des Weiblichen ausmachen. Die Experten, die unsere Gesellschaft lenken, wollen sich ihrer Ängste vor der Natur entledigen, mit der sie keine echte Beziehung oder tiefe Verbindung haben […]. Der Ökofeminismus sagt, dass uns dieses System zum Ökozid und zur Selbstvernichtung der Gattung Mensch hinführt, da es auf Dummheit, Angst, Wahnvorstellung und Gier gründet.“ (1990, 9,8)
Für den Ökofeminismus ist daher der Schlüssel für die Befreiung der Frau und der umfassenderen planetarischen Gemeinschaft die Beseitigung der Grundlagen von Patriarchat und Androzentrismus selbst und damit die Beendigung aller Arten von Herrschaft, insbesondere derjenigen der Männer über die Frauen und die außermenschliche Welt. Damit will er den inneren Wert aller Natur ins Recht setzen und gleichzeitig „die Kultur und das Handeln der Frauen aufwerten“ (T. Berman 1993, 16)
Die Analyse erweitern
Zugleich behauptet der Ökofeminismus, dass dieselbe Logik, die der Unterdrückung der Frauen und der Natur zugrunde liegt, mit leichten Abwandlungen auch dazu dient, Unterdrückung aufgrund von Rasse, Klasse und sexueller Orientierung zu rechtfertigen. Genauso wie die Frauen und die Natur als schwach, passiv und von niedrigerem Wert angesehen werden, werden auch „Nichtweiße“ als dem Tierreich näherstehender und