Befreite Schöpfung. Leonardo Boff

Befreite Schöpfung - Leonardo Boff


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Fäden, die Seinsformen miteinander verbinden. „Individuen sind die Vehikel von Macht, nicht diejenigen, die sie gebrauchen.“ (Foucault 1980, 98)

      Wie wir schon früher bemerkt haben, bringt Shiva die Ausübung männlicher Macht in Verbindung mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Natur und des Weiblichen als passiv. Da Macht relational ist, hängt Erstere von Letzterem ab. Die Herausforderung besteht nun darin, Macht neu zu bestimmen: Sie soll keine Beziehung mehr sein, in der das Aktive über das Passive, der Unterdrücker über die Unterdrückten, der Ausbeuter über die Ausgebeuteten herrscht, sondern eine neue Beziehung auf der Grundlage von Gegenseitigkeit und Kreativität. Um zu sehen, wie dies verwirklicht werden kann, bedürfen wir einer eher praktischen Analyse von Macht.

      Analyse der Macht

      In ihrem Buch Truth or Dare (1987) arbeitet die ökofeministische Autorin, Aktivistin und Psychologin Starhawk drei Grundtypen oder Formen heraus, in denen sich Macht ausdrückt: „Macht über“, „Macht von innen heraus“ und „Macht mit“.

      Die „Macht über“ wird wohl am besten als Macht beschrieben, die einschränkt oder kontrolliert. So wird Macht üblicherweise in unseren gegenwärtigen patriarchalischen Gesellschaften aufgefasst und ausgeübt. Sie ist im vorherrschenden mechanistischen Paradigma verwurzelt, das später noch näher untersucht wird. „Macht über“ tendiert dazu, sich selbst eine hierarchische Struktur zu geben; sie entfaltet sich über Systeme von Autorität und Herrschaft. Dies ist jene Art von Macht, die es dem patriarchalischen Kapitalismus ermöglicht, sich die Produktion durch Ausbeutung anzueignen.

      Wir sind an die „Macht über“ und ihre impliziten Drohungen in unserem Leben so gewöhnt, dass sie weitgehend auf einer unbewussten Ebene wirkt – so, als ob wir den Gefängniswärter in unseren Köpfen hätten. Im Allgemeinen werden wir uns der „Macht über“ nur in ihren extremsten Formen bewusst, wie zum Beispiel im Fall offener Gewalt. Doch während Macht mithilfe von Waffengewalt oder Zwangsmaßnahmen das deutlichste Beispiel für „Macht über“ ist, entfaltet sie üblicherweise ihre Wirkung mittels subtilerer Mechanismen von Druckausübung, Manipulation und Kontrolle, die in einem gewissen Maß von Furcht motiviert ist.

      Es ist bemerkenswert, dass „Macht über“ in gewissem Sinne tatsächlich „befähigt“. „‚Macht über‘ versetzt Individuen und Gruppen in die Lage, Entscheidungen zu fällen, die andere betreffen, und Kontrolle zu verstärken.“ (Starhawk 1987, 9) Doch „Macht über“ ist in ihrem Wesen negativ. Es ist Macht, die dazu benutzt wird, die Macht anderer niederzudrücken oder zurückzudrängen.

      Eine zweite Art von Macht, welche für Starhawk das genaue Gegenteil der „Macht über“ darstellt, ist diejenige, welche sie „Macht von innen heraus“ nennt. „Macht von innen heraus“ ist die Macht, die alles Leben erhält: die Macht der Kreativität, die Kraft zu heilen und zu lieben. Sie wird in besonderem Maße erfahren, wenn Menschen gemeinsam handeln, um sich der Kontrolle der „Macht über“ zu widersetzen. Von daher ist klar, dass „Macht von innen heraus“ das Zentrum dessen bildet, was oft mit dem Wort „Befähigung“ (empowerment) bezeichnet wird. Somit ist sie auch ein zentraler Begriff für viele befreiende Modelle von Erziehung und politischem Handeln.

      Die dritte Weise, in der sich Macht ausdrückt, ist die „Macht mit“ bzw. die Macht des Einflusses oder die Macht als Prozess. Ihre Quelle ist die Bereitschaft anderer, unsere Gedanken anzuhören. Sie ist „Macht mit“, die uns befähigt, gemeinsam zu handeln und echt partizipatorische Organisationen zu schaffen. Während die „Macht über“ die Autorität einer bestimmten Position benutzt, um den eigenen Willen durchzusetzen, indem sie Gehorsam verlangt, hat die „Macht mit“ persönlichen Respekt zur Grundlage, der praktisch erworben wurde. „‚Macht mit‘ ist subtiler, flexibler und zerbrechlicher als Autorität. Sie hängt von persönlicher Verantwortung, von unserer eigenen Kreativität und unserem Mut sowie von der Bereitschaf anderer ab, darauf zu reagieren.“ (Starhawk 1987, 258) Joanna Macy, eine buddhistische ökologische und Friedensaktivistin, betrachtet diese Art von Macht als eine Art Synergie auf der Grundlage der Offenheit gegenüber anderen. „Die Ausübung von Macht als einem Prozess erfordert es, dass wir alle Zwangsausübung, die der Teilhabe von uns und anderen am Leben zuwiderläuft, entlarven und zurückweisen.“ (zitiert bei Winter 1996, 258)

      Macht als Prozess lädt uns dazu ein, unser Empathievermögen zu stärken. Aktivitäten wie etwa Volkserziehung oder die Organisation von Basisbewegungen setzen diese Art von Macht ein.

      In der Praxis existieren alle diese drei Formen von Macht nebeneinander und sind in jedem konkreten Stück Wirklichkeit miteinander verflochten. So zum Beispiel vermischen sich die „Macht über“ und die „Macht von innen“ oftmals miteinander, obwohl sie begrifflich das Gegenteil voneinander sind. Herrschaft muss sich letztlich auf ein gewisses Maß an Kreativität stützen, so entstellt diese auch sein mag. Oftmals zwingt jemand einem anderen seine eigene Kreativität auch auf und verwandelt so „Macht von innen heraus“ in „Macht über“. In ähnlicher Weise kann sich „Macht mit“ auch in „Macht über“ verwandeln. Starhawk schreibt, dass in der herrschenden Kultur beide leicht miteinander verwechselt werden. Einfluss kann sehr leicht in Autorität umschlagen, insbesondere deshalb, weil wir alle so sehr durch Macht als Herrschaft indoktriniert wurden.

      Die Tatsache, dass „Macht mit“ oft mit „Macht über“ vermengt und mit ihr verwechselt wird, wurde tiefgehend von der Philosophin Hannah Arendt analysiert. Im Zusammenhang mit ihrer Reflexion über Gewalt, der extremsten Form von „Macht über“, und der Macht, gemeinsam zu handeln (was Starhawks „Macht mit“ entspricht) schreibt sie:

      „Obwohl Macht [Macht mit] und Gewalt [Macht über] ganz verschiedenartige Phänomene sind, treten sie zumeist zusammen auf. Bisher haben wir nur solche Kombinationen analysiert, wobei sich herausgestellt hat, dass in ihnen jedenfalls die Macht immer das Primäre und Ausschlaggebende ist. Dies ändert sich jedoch, sobald wir unsere Aufmerksamkeit den selteneren Fällen zuwenden, wo sie in Reingestalt auftreten […]. Auch die größte Macht kann durch Gewalt vernichtet werden; aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann. Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht […]. Politisch gesprochen genügt es nicht zu sagen, dass Macht und Gewalt nicht dasselbe sind. Macht und Gewalt sind Gegensätze: Wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überlässt man sie den ihr innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht […]. Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen.“ (1970, 53–54; 57)

      In ähnlicher Weise sagt Starhawk, dass „Herrschaftssysteme die ‚Macht mit‘ zerstören, denn diese kann nur unter solchen wirklich existieren, die gleich sind und auch anerkennen, dass sie gleich sind“ (1987, 12). Im Gegensatz zu „Macht über“ kann die „Macht mit“ jederzeit von der Gruppe selbst widerrufen werden; sie verletzt die Freiheit der anderen nicht.

      Das Verhältnis von „Macht mit“ und „Macht von innen“ ist vielleicht klarer. Innerhalb einer Gruppe, in der die Meinung einer jeden Person Wertschätzung erfährt (das heißt, wo wir es mit „Macht mit“ zu tun haben), ist es wahrscheinlicher, dass wir unsere „Macht von


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