Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
der Machtbeziehungen
Es ist ein schwieriger Schritt von der begrifflichen Neubestimmung von Macht hin zu ihrer tatsächlichen Rekonstruktion, doch wir müssen ihn dennoch zu machen versuchen. Die räuberische Produktionsweise des Patriarchats ist von der Ausübung von „Macht über“, der Macht der Herrschaft, abhängig. Wenn man dieser Macht nicht entgegentreten kann, wenn keine neuen Formen entwickelt werden können, die eher lebensförderlich als todbringend sind, dann werden die Möglichkeiten für eine Veränderung der Welt in der Richtung, die die Ökofeministinnen anzeigen, minimal bleiben.
Es ist an dieser Stelle hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass Macht weder statisch noch quantitativ festgelegt ist. Die traditionellen politischen Versuche der Veränderung sprachen von „die Macht übernehmen“. Doch es gibt eine andere Möglichkeit: die Möglichkeit, neue Quellen der Macht zu schaffen und dabei an den Rändern zu beginnen. An einem gewissen Punkt wird eine Konfrontation mit denen, die die „Macht über“ innehaben, natürlich unausweichlich sein. Doch zuerst müssen die Ressourcen der „Macht mit“ und der „Macht von innen heraus“ an der Basis gestärkt werden. Und tatsächlich ist die weltweite Bewegung der Zivilgesellschaft, die sowohl in Volksorganisationen als auch in vielen Nichtregierungsorganisationen Gestalt annimmt, der Beweis, dass eine solche Macht bereits geschaffen und aufgebaut wird.
Ein Weg, um sowohl die „Macht mit“ als auch die „Macht von innen heraus“ zu stärken, ist es also, partizipatorische Organisationen zu schaffen, in denen eine Atmosphäre der Offenheit die Mitglieder in die Lage versetzt, sich frei zu fühlen, so zu sein und sich so zu geben, wie sie sind. Diejenigen, die Veränderungsprozesse zu ermöglichen versuchen, müssen auch ein gewisses Maß an Sicherheit innerhalb der Gruppe gewährleisten, die diejenigen befähigen soll, sich ehrlich, ohne Angst auszudrücken, die am meisten daran gehindert und am verwundbarsten sind. Zu diesem Zweck kann eine Reihe von „Grundregeln“ in manchen Situationen hilfreich sein.
Eine zweite Strategie, um befreiende Macht zu kultivieren, ist es, das Bewusstsein zu stärken. Joanna Macy stellt fest: „‚Macht mit‘ setzt eine aufmerksame Offenheit gegenüber der umgebenden physischen oder geistigen Welt und ein waches Bewusstsein gegenüber unseren eigenen Reaktionen und die anderer voraus. Sie ist die Fähigkeit, auf eine Weise zu handeln, die die bewusste Teilhabe am Leben insgesamt vergrößert.“ (1995, 257) Starhawk schreibt: „Ein waches Bewusstsein ist der Beginn eines jeden Widerstands. Wir können der Herrschaft nur dann widerstehen, wenn wir Bewusstsein erlangen und bewahren: ein Bewusstsein von uns selbst, von der Art und Weise, wie die Wirklichkeit um uns herum aufgebaut wird, von jeder scheinbar bedeutungslosen Entscheidung, die wir treffen, davon, dass wir tatsächlich Entscheidungen treffen.“ (1987, 79)
„Macht mit“ zu entwickeln ist nur im Kontext einer Gruppe möglich. Von ihrem Wesen her ist diese Form der Macht diejenige, die von sich selbst her am stärksten auf Beziehung angelegt ist. Menschen, die an befreienden Initiativen teilnehmen, können ihre „Macht mit“ am besten dann entwickeln, wenn die Gruppe echte Teilhabe und die gemeinsame Verantwortung in Leitungsfunktionen ermöglicht. Starhawk stellt fest: „Um andere mit Fähigkeiten auszustatten, muss eine Gruppe nicht nur so strukturiert sein, dass sie der Befreiung dient, sie muss sich auch dessen bewusst sein, wie sich die Macht innerhalb der Gruppe verteilt und verändert.“ (1987, 268)
Die befreienden Arten von Macht, wie sie in der „Macht von innen heraus“ und der „Macht mit“ Gestalt gewinnen, werden am effektivsten innerhalb von Interaktionen entwickelt, die Wert hervorbringen. Macy spricht insbesondere von „synergetischen Austauschprozessen“, die „etwas [schaffen], das zuvor nicht da war, und die die Fähigkeiten und das Wohlbefinden aller Beteiligten stärken“ (1995, 257). Tatsächlich kann der Begriff „Synergie“ das am besten einfangen, was wir mit „Macht mit“ meinen.
Letztlich aber wird die Neustrukturierung von Macht innerhalb der Gesellschaft als ganzer Strategien erfordern, die über diese Anfänge hinausgehen. Das Patriarchat hat sich im Laufe von Tausenden von Jahren entwickelt, und der weltweite Kapitalismus der Konzernherrschaft, die jüngste Erscheinungsform dieser Herrschaftsmentalität, hat den Großteil der Welt fest im Griff. Um neue Formen von Macht zu schaffen und den alten entgegenzutreten, bedürfen wir tiefer Ressourcen im Inneren, eines neuen Verständnisses dessen, was die Realität ausmacht, und eines neuen Verständnisses von Veränderung selbst.
Unsere erste Aufgabe besteht darin, den Bann zu brechen, den das Patriarchat, der Anthropozentrismus und das gegenwärtige Herrschaftssystem über uns verhängt haben. Wir müssen die Lähmung überwinden, die uns in Unterdrückung, Verzweiflung, Verleugnung und Sucht festhält. Der Weg auf dieses Ziel zu wird im Zuge der nächsten Etappe unserer spirituellen Reise erkundet werden.
17 Genauer noch arbeitet Naess (1989, 29) die folgenden grundlegenden Prinzipien der Tiefenökologie heraus: 1. Das Gedeihen menschlichen und außermenschlichen Lebens auf Erden hat einen Wert in sich. Der Wert nichtmenschlicher Lebensformen ist unabhängig vom Nutzen, den diese für die beschränkten Zwecke des Menschen haben mögen. 2. Der Reichtum und die Vielfalt des Lebens bilden Werte an sich und tragen zum Gedeihen des menschlichen und außermenschlichen Lebens auf Erden bei. 3. Die Menschen haben kein Recht, diesen Reichtum und diese Vielfalt zu mindern, außer um das Lebensnotwendige sicherzustellen. 4. Das gegenwärtige Eingreifen der Menschen in die außermenschliche Welt geht weit über das Maß hinaus, und die Situation verschlechtert sich in raschem Tempo. 5. Das Gedeihen menschlichen Lebens und menschlicher Kultur lässt sich mit einer Abnahme der Bevölkerung in Einklang bringen. Das Gedeihen nichtmenschlichen Lebens erfordert eine solche Abnahme. (Dieses Prinzip scheint von etwas vereinfachenden Annahmen auszugehen. Es wäre besser, es im Sinne einer Abnahme des menschlichen Konsums zu formulieren, was möglicherweise auch einen Rückgang der Bevölkerung im Lauf der Zeit erfordert.) 6. Eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen erfordert eine neue Politik. Dies betrifft die Grundlagen der Wirtschaft, der Technologie und ideologische Strukturen. 7. Die ideologische Veränderung besteht hauptsächlich darin, die Lebensqualität (wie sie Situationen mit einem Wert in sich selbst innewohnt) höher zu bewerten als einen hohen Lebensstandard. Es wird ein tiefes Bewusstsein des Unterschieds zwischen „groß“ und „großartig“ geben. 8. Diejenigen, welche sich mit den bisherigen Punkten einverstanden erklären, haben die Verpflichtung, sich direkt oder indirekt am Versuch zu beteiligen, die notwendigen Veränderungen herbeizuführen.
18 Gleichzeitig sollte festgehalten werden, dass die Suche nach einem idyllischen goldenen Zeitalter, in dem vollkommene Gleichheit zwischen Mann und Frau herrschte, wie man sie in der jüngsten Literatur finden kann, etwas ernüchtert werden muss. Bücher wie das von Eisler, The Chalice and the Blade (1987) haben in jüngster Zeit zu einer Romantisierung der jungsteinzeitlichen Kultur des alten Europa und Anatoliens und auch der vorklassischen Kultur des minoischen Kreta beigetragen, indem sie behaupteten, dies wären Gesellschaften mit harmonischen Geschlechterbeziehungen gewesen. Diese Kulturen werden als solche beschrieben, in denen die Mutter im Mittelpunkt steht (eher matrifokal und matrizentrisch als matriarchal, denn Letzteres würde eine Herrschaft der Frau bedeuten) und die Göttinnen verehren. Sie liefern einen machtvollen Mythos, der die Nicht-Notwendigkeit patriarchalischer und anthropozentrischer Herrschaft belegt. Es ist jedoch schwierig nachzuweisen, dass in diesen Gesellschaften tatsächlich harmonische Geschlechterbeziehungen vorherrschten. Deshalb ist hier ein gewisses Maß an Vorsicht geboten.
19 Die deutsche Ausgabe (Mies 1989) ist mit der englischen Ausgabe (Mies 1986) nicht identisch, sie wurde von der Autorin gründlich überarbeitet. Etliche hier wiedergegebene Passagen finden sich nur in der englischen Ausgabe und müssen daher aus dieser rückübersetzt werden; d. Übers.
20 Dies trifft in besonderer Weise auf die Strukturanpassungsmaßnahmen zu. Frauen nehmen oftmals als Reaktion auf die von den Strukturanpassungsmaßnahmen ausgelöste wirtschaftliche Krise von Neuem unbezahlte Arbeit auf sich. So stellten die Gemeinschaftsküchen (comedores populares) in Lateinamerika