Kontrolle. Frank Westermann

Kontrolle - Frank Westermann


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sie und geben ihnen einen Teil der Beute.«

      Er sagte das alles so cool, dass er dabei wohl ganz vergaß, was sie eigentlich anstellten!

      »Jetzt hör mir mal zu, Vic! Ihr schlagt ohne Grund Leute tot, Leute, die euch nichts getan haben, raubt ihnen noch das letzte Hemd und plündert sie aus, und du stellst es so dar, als wärt ihr ne Art Stammtisch!«

      »Ich glaube, du bist da reichlich falsch informiert.«

      »Ja klar, das wird dann immer gesagt. Habt ihr euch mal überhaupt überlegt, was ihr damit gegen das System ausrichtet? Nämlich gar nichts! … Ach, was soll's. Ich habe damit jedenfalls nichts zu tun und lass mich auch von dir da nicht reinreißen.«

      Wenn er glaubte, er könnte mich zu irgendwas überreden, hatte er sich jedenfalls geirrt. Ich stand auf, aber Vic packte mich am Arm.

      »Bleib hier, du verstehst nichts!«

      »Lass mich los, ich bin nicht einer von deinen Sklaven.«

      Das brachte ihn, ganz schön hoch.

      »Du Blödmann! Am liebsten würde ich dir eine reinhauen. Hör doch wenigstens erst mal zu, was ich will!«

      Aus dem Halbdunkel näherte sich eine Gestalt. Vic ließ mich endlich los.

      »Wird auch Zeit, dass du kommst!«

      »Hm«, machte die Gestalt. »Nun reg dich nicht über mich auf, wenn du Speedy meinst.«

      Ich erkannte die Stimme sofort.

      »Stucker!«, rief ich. »Was hast du hier zu suchen?«

      »Nicht so laut«, zischte er. »Was ist denn bloß los mit euch? Man hört euch ja im ganzen Haus. Wollt ihr unbedingt die Cops anlocken?«

      Der stille, schweigsame Stucker! Ich konnte es kaum begreifen. Ich kannte ihn als einen nachdenklichen, philosophischen Typen. Klein und hager mit einem mächtigen Bart und oft trug er eine alte Mütze. Ich erinnerte mich noch gut an seine traurige, zusammengesunkene Gestalt, als ich Flie und Lucky in der Kneipe getroffen hatte. Was hatte er mit meinem Bruder zu tun?

      »Okay, Stucker. Setz dich hin. Du hast natürlich recht. Wir werden über alles in Ruhe reden.«

      Vic tastete ihm ebenfalls ein Bier. Jetzt war ich natürlich auch wieder neugierig geworden und vergaß, dass ich ja eigentlich gehen wollte. Mein Zorn war auch schon abgekühlt.

      »Um es kurz zu machen, Speedy«, fuhr mein Bruder in seiner Story fort, »wir killen niemand, höchstens in Notwehr. Und wir nehmen nur denen was weg, die sowieso schon genug haben. Die Schauermärchen im Tri-Video sind teilweise erfunden, um die Leute ängstlich und in Schach zu halten, teilweise machen die anderen Gangs diesen ganzen Shit und dafür würden wir sie am liebsten in die Stadt zurückjagen.«

      »Ein moderner Robin Hood-Club, was?« Ich blieb skeptisch.

      »Nun spiel mal nicht den Ironischen», meldete sich Stucker. »Die Tour kennen wir auch schon. Wir geben das Geld schließlich nicht als Almosen an irgendwelche armen Leute, sondern beschaffen uns dafür, was wir zum Leben brauchen und außerdem Waffen und andere Ausrüstung.«

      Langsam merkte ich, worauf sie hinauswollten. Ich begriff es noch nicht ganz. Aber wenn ich richtig vermutete, war es ein gefährliches Spiel. Ein Tödliches.

      »Wir haben ein paar Leute in der Hand, von denen wir Waffen kriegen«, sagte Stucker in seiner ruhigen Art.

      Ich stellte die entscheidende Frage.

      »Und was wollt ihr damit, wenn ihr sie nicht für Überfälle benutzt?«

      »Wir werden sie schlagen!« Vic schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und dann wird sich ganz schön was ändern.«

      »Wen wollt ihr schlagen? Die Regs? Die sind doch viel zu stark«, sagte ich erregt.

      »Nein, nicht wenn es nach unserem Plan geht.« Das Gesicht meines Bruders war ganz nahe bei mir. »Man muss nur die Nervenstellen kennen.«

      »Aber die Cops und das Militär! Sie sind euch weit überlegen. Und die Bevölkerung wird euch bestimmt nicht unterstützen«, gab ich zu bedenken.

      »Richtig. Aber wir können dir schließlich nicht alles erzählen«, sagte Stucker. »Du bist hier, weil wir wissen wollen, ob du eventuell mitmachst. Hätte Vic dich nicht zufällig bei deinen Eltern getroffen, hätte ich dich gesucht. Überleg es dir. Ich weiß, dass du was tun willst gegen dieses verdammte System!«

      »Es wird nicht funktionieren«, murmelte ich vor mich hin.

      Ich konnte es nicht fassen. Der Gedanke an Gewalt in diesem Zusammenhang war einfach absurd.

      Vic stand auf.

      »Ich muss los. Man sollte uns nicht zusammen sehen. Stucker kann dir noch Einzelheiten erklären.«

      Er ließ sein Bier stehen und ging. Ich hatte ihn nicht wiedererkannt. So hatte er nie vorher zu mir gesprochen. Besser noch: ich hatte ihn bisher nicht gekannt. Ich hatte nicht gewusst, was er dachte, was er tat. Und auch jetzt wusste ich nicht viel mehr. Jedenfalls nicht genug. Obwohl er mein Bruder war, war er mir nie aufgefallen. Irgendwann hatte ich gedacht, dass meine und seine Interessen zu verschieden waren, um sie miteinander vereinbaren zu können. Vielleicht war das falsch gewesen, und ich hätte mich mehr mit ihm auseinandersetzen sollen.

      »Wenn du Näheres wissen willst …«, brach Stucker das Schweigen. »Nein, nein«, wehrte ich ab. »Ich muss ja erst mal überhaupt die Idee akzeptieren. Nur eins: wie kommst du da rein?«

      »Du weißt, ich überlege viel. Und ich hab ja auch Zeit dazu, weil ich mir wegen des nötigen Geldes keine Sorgen zu machen brauche.« Ich erinnerte mich, dass er ne Menge Bucks von seinen Alten bekam. Wenn die wüssten, mit welchen Leuten er zu tun hatte …

      »Eigentlich ist die Sache ziemlich einfach - letzten Endes. Ich sehe jedenfalls nur einen einzigen Ausweg, alles zu ändern: Gewalt. Gewalt gegen die Gewalt, die wir täglich erfahren, der wir immer ausweichen oder unterliegen. Und die Gewalt, der Terror von oben, ist nicht mit den Leuten zu brechen, die sich seit eh und je daran gewöhnt haben, sich angepasst haben und sie sogar als notwendig erachten. Fast alle in der Stadt sind psychisch total unter Kontrolle der Regs. Keine Krise oder Naturkatastrophe kann die Regs überraschen. Auf solche Situationen sind sie vorbereitet. Ein paar Knopfdrücke, und das entsprechende Programm läuft ab, die Bevölkerung ist beruhigt. Die Gegengewalt kann nur von außerhalb kommen und da gibt es nur die Gangs.»

      Er machte eine Pause, trank ein paar Schlucke von seinem Bier.

      »Ich hatte furchtbare Angst. Na, du kennst ja auch die Gerüchte, die über die Gangs verbreitet werden. Aber es gab keinen anderen Weg. Ich ging also nach draußen, und zum Glück traf ich auf jemand, der mir nicht gleich das Messer zwischen die Rippen stieß.

      So bekam ich Kontakt mit Vic und erfuhr, dass die Idee nicht nur auf meinem Mist gewachsen ist, sondern schon seit Langem in gewissen Gangs diskutiert wird. Und der Zeitpunkt ist nicht mehr weit weg.«

      Eine irre Geschichte. Und nebenbei wurde mir mal wieder klar, dass man oft nur eine Seite eines Menschen kennt. Man kennt ihn eben so, wie man ihm immer begegnet.

      Und plötzlich überkam mich wieder dieses Gefühl, das ich in letzter Zeit so häufig hatte: ich musste weg, allein sein, nachdenken. Ich hielt es hier nicht mehr aus.

      »Stucker, ich muss weg. Ich komm zu dir, wenn ich was wissen will. Mach's gut!«

      »Okay. Und sag niemand was!«

      »Ist doch klar.«

      Ich hastete die Stufen runter, immer weiter, immer weiter …

      Ich kam völlig außer Atem unten an. Ich sehnte mich nach draußen, fort von hier. Doch es wurde mir gleichzeitig bewusst, dass dies nur wieder Flucht bedeuten würde. Flucht vor Menschen, vor Entscheidungen, vor Gewohnheit und Arbeit und tausend anderen Sachen. Manchmal braucht man eine Flucht, aber sie ändert


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