Kontrolle. Frank Westermann

Kontrolle - Frank Westermann


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Gangs in den Reihen der Bürokratie hatten damals eine äußerst dringende Warnung durchgegeben. Die Aktion der Militärs und Cops stand unmittelbar bevor, und es war die Anweisung erteilt worden, ohne Rücksicht auf Verluste vorzugehen und somit das Problem der Gangs ein für allemal zu beseitigen.

      Und auch hier hatte Change eine wichtige Rolle gespielt. Es war ihr nämlich gelungen, nach harten Redeschlachten und offenen Kämpfen sogar ehemals verfeindete Gangs zu dem Bündnis zusammenzuschließen. Seitdem hatte Change immer wieder die Position des Vermittlers eingenommen, was allgemein unter den Gangs respektiert wurde. Dies Bündnis war aber auch das Einzige, was die Banden zusammenhielt. Die anderen Konflikte wurden weiterhin mehr oder weniger brutal ausgefochten.

      Immerhin wurden die Kommandos der Regs erfolgreich zurückgeschlagen. Anscheinend hatten sie so massiven Widerstand nicht erwartet. Und es kostete die Regs sehr viel Mühe, diese Schlappe vor der Bevölkerung zu verheimlichen. Nach der offiziellen Version war die Niederlage ein Sieg gewiesen, ein Terrorschlag krimineller Elemente, die die Staatsordnung bedrohten, war verhindert worden. Diese in aller Eile zusammengeschusterte Propaganda hatte ihre Wirkung aber nicht verfehlt. In der Stadt regte sich nichts.

      Als dann die Gangs ihrerseits drohten, ihre Streifzüge in die Stadt auszudehnen und etwas großzügiger anzulegen, hatten die Regs nichts Eiligeres zu tun, als den Befehl zur Ausrottung zurückzunehmen und den Gangs zu versichern, dass sie in Zukunft vor Aktionen der Cops sicher sein würden, wenn sie es nicht zu schlimm trieben.

      Vic sah noch das Gesicht von Doc Warwick auf der entscheidenden Zusammenkunft. Unsicher war er gewesen, der hohe Herr. Vic hatte es ihm deutlich angemerkt. Trotzdem machte er sich nichts vor. Gut, die Regs hatten sich zu diesem Zeitpunkt keine offene Konfrontation leisten können. Aber wenn sie gut vorbereitet wären und nicht wie diesmal überrascht werden konnte, würde von den Gangs nicht viel übrig bleiben. Er war sicher, dass die Bürokraten schon jetzt für dieses Ereignis rüsteten. Schon deshalb musste man ihnen zuvorkommen. Es war die einzige Möglichkeit zum Überleben.

      Die gesamte Stärke der Staatssicherheitstruppen war ziemlich genau bekannt. Deshalb war auch der ursprüngliche Plan von Change und einigen befreundeten Gangs, die Stadt offensiv anzugreifen, immer wieder abgelehnt worden. Vic wurde etwas mulmig, wenn er daran dachte, dass er selbst mal hinter dieser Absicht gestanden hatte.

      Aber selbst als Leader hatte er nicht die Macht, den Mitgliedern einfach etwas aufzuzwingen, schon gar nicht eine so lebensentscheidende Sache. Die meisten Gangs waren ohnehin gegen diesen Plan, sodass er nie durchgeführt wurde - zum Glück, wie Vic jetzt wusste.

      Dadurch wurde er daran erinnert, wie Stucker zu ihnen kam. Die Dorados hatten ihn aufgelesen. Er hatte vor Angst und Unsicherheit gezittert, als er Vic gegenüberstand. Und er hatte wirklich unverschämtes Glück gehabt. Wäre er zum Beispiel den Toncs in die Hände gefallen, hätte man wohl kaum seine Leiche wiedererkannt. Aber er hatte es geschafft, bis zu ihm vorzudringen. Woher er Vics Bedeutung innerhalb der Hierarchie der Gangs kannte, hatte er nie verraten. Vic argwöhnte, dass da Speedy eine ungewollte Rolle spielte.

      Egal, als er jedenfalls dastand, hatte er vor Stottern kaum einen Satz hervorbringen können. Er hatte viel drumrumgeredet, bis Vic ihm zu verstehen gab, dass er offen sprechen konnte. Hier würde ihm keiner die Kehle aufschlitzen. Und dann rückte Stucker mit dieser erstaunlichen Idee heraus: ein Angriff auf ausgewählte Ziele, der den Verteidigungsapparat der Stadt lahmlegen sollte. Vic und die anderen von Change waren zunächst sehr misstrauisch gewesen: ein Spion hätte keinen besseren Vorschlag machen können. Dann hatten sie Stuckers Vergangenheit durchleuchtet, ihn pausenlos verhört, seine Freunde befragt und seine Wohnung peinlich genau durchsucht. Es hatte sich jedenfalls kein Hinweis ergeben, dass Stucker nicht der war, für den er sich ausgab: ein Typ, der die Schnauze von dem erbarmungslosen Leben in der Stadt voll hatte und sich einige umstürzlerische Gedanken zur Veränderung dieser Situation gemacht hatte.

      Und Stucker besaß vorzügliche Informationen. Er hatte Connections zu allen möglichen behördlichen Stellen und kannte selbst Leute bei den Cops und im sogenannten Parlament. Daher wusste er auch, wo die Nervenstellen der Regs lagen: die Computerzentrale, die Ausweichstation, das Robot-Lager, die Befehlssektion usw.

      Der Plan war lange diskutiert worden, bis er von der Mehrheit akzeptiert wurde. Und dann kam noch die lange Zeit der Vorbereitungen: die Suche nach Verbündeten, das Beschaffen von geeigneten Waffen-, die Organisation von Störmanövern und strategischem Vorgehen.

      Zu diesen Vorbereitungen gehörte auch, dass Vic Stucker mit zum Camp nahm. Er hoffte, dass diese Leute sich vielleicht beteiligen würden, wenn sie Stucker zugehört hatten. Aber es war vergebliche Mühe gewesen. Sie hatten eben einen anderen Weg eingeschlagen. Es bestanden zwar lose Verbindungen zwischen Change und dem Camp, aber die Auffassungen waren zu verschieden, als dass gemeinsame Aktionen möglich gewesen wären. Außerdem vertrat die Mehrheit im Camp die Ansicht, dass der Plan nicht zum Erfolg führen könnte - aus fadenscheinigen Gründen, wie Vic fand.

      Und nun stand die Offensive kurz bevor. Selbst Vic hatte ein merkwürdiges Gefühl, wenn er daran dachte. Schließlich war es die zweite Entscheidung, die sein Leben grundsätzlich verändern würde. Der erste Schritt war sein Eintritt bei Change gewesen. Doch das war lange her und gehörte schon der Vergangenheit an, über die er nicht mehr nachdachte.

      Vic bog um die Ecke eines Trümmerblocks und überquerte eine aufgerissene Straße. Er überlegte kurz, ob er bei Moro vorbeifahren sollte. Aber er hatte irgendwie keine Lust, sie zu sehen. Wenig später stoppte er vor der verborgenen Einfahrt: das Quartier von Change!

       Millions have cried for millions that died

       Oh that's right

       Oo that's right

       For things that they strived, more millions just sighed

       Oh that's right

       Oo that's right

       Made excuses and lied, stood numb stupified

       Oh that's right

       Oo that's right

       And they're wondering which side of the fence they should fall

       Rats in the cellar their backs to the wall

       Cornered, a rat can be very tall

       No Solomon wisdom around

       I just might

       Burn it down

       I just might …

      Streetwalkers - »Burn It Down«

       5.

      Ich entschied mich, Yuka aufzusuchen, obgleich ich vor diesem Schritt etwas zurückschreckte. Er bedeutete wieder etwas Unbekanntes, vielleicht ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Ich brauchte immer ziemlich lange, bis ich mich an unbekannte Sachen oder Leute rantraute. Ich hatte mir zwar schon oft vorgenommen, das zu ändern, aber bis jetzt hatte es nur selten hingehauen.

      Ich raffte mich endlich auf und nahm wieder den Bus. Diesmal fuhr ich gezwungenermaßen schwarz, weil ich einfach keinen losen Buck mehr hatte. Die Fahrt endete in einem Bezirk, den ich ziemlich genau kannte.

      Hier in der Nähe hatte ich mal fast ein Jahr mit Winnie zusammengewohnt. Die Erinnerung daran löste immer ein beklemmendes Gefühl in mir aus, das ich nicht abschütteln konnte. Auch jetzt kam es wieder hoch, als ich die Gegend wiedersah und durch die einigermaßen leeren Straßen ging - es war Essenszeit. Damals hatte ich noch in diesem abscheulichen Prunkbau namens Universität studiert. Damit gehörte ich zu einer privilegierten Schicht, die mal was Besseres werden sollte. Der Staat war eben stolz auf seine Studenten, sorgfältig ausgesiebte Nummern, denen die herrschende


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