Kontrolle. Frank Westermann

Kontrolle - Frank Westermann


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wollte, aber das Geld hielt mich zurück. Ich verdiente ganz gut. Außerdem hatte ich Yuka gegenüber sowieso schon ein schlechtes Gewissen, da ich bis zur ersten Abrechnung auf ihre Kosten lebte und sie verdiente auch nur das Nötigste.

      Menschen bekam ich wenig zu sehen. Ein Obertyp, der mir sagte, was ich als Nächstes zu tun hatte, ein paar Techniker, die die Maschinen neu programmierten und mir dauernd vorwarfen, ich würde sie nicht ordentlich warten, und einige Handlanger wie ich für den Abfall. Pausen teilte der Boss nach Belieben ein. Oft gab's gar keine und angenehm war's nur, wenn er ab und zu mal besoffen war. Mit den anderen Typen konnte ich leider auch nicht viel anfangen. Sie sprachen kaum miteinander und schon gar nicht mit mir und hatten anscheinend keine anderen Probleme und Gesprächsthemen, als dass die Zeit zu langsam verging. Was sie sonst machten, erfuhr ich nie, und wenn ich anfing zu reden, zeigten sie mir ziemlich deutlich, dass sie mit mir lieber nichts zu tun haben wollten.

      Yuka sah ich immer erst zu Feierabend. Zum Glück hatten wir zur gleichen Zeit Schluss. Zwischen uns beiden lief es zu der Zeit ganz gut und außer ein paar Reibereien um Kleinigkeiten kamen wir gut zurecht auch in einem Zimmer.

      Anfangs war ich abends total kaputt und konnte überhaupt nichts mehr machen. Ich fragte mich nur immer wieder, ob das jetzt so mein ganzes Leben lang weitergehen sollte. Andererseits wusste ich genau, dass ich das bestimmt nicht durchhalten konnte und wollte. Ich konnte mir aber auch keine Alternative vorstellen, jedenfalls nicht praktisch. Es war einfach alles verbaut.

      Irgendwann zwang ich mich dazu, weiter in dem Buch zu lesen, das ich mir von Lucky geliehen hatte, damit ich es ihm schnell zurückgeben konnte. Es war wirklich eine merkwürdige Story: das Buch zeigte ziemlich genau auf, wie unsere Gesellschaft organisiert war, und wie wir lebten. Wenn es bekannt wäre, hätte es deswegen sicher auf der Liste gestanden. Der Schluss des Buches überraschte mich vollkommen, denn der Verfasser verließ plötzlich die reine Beschreibungsebene. Er machte einen Schritt in die Zukunft und skizzierte einen neuen Weltkrieg, der das System von einer Scheindemokratie in eine offene Diktatur umwandelte. Das Ganze war ziemlich absurd, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, was damit beabsichtigt war. Es schien mir sogar so, als würde der Autor mit diesem diktatorischen Zustand sympathisieren. Schließlich kam ich sogar auf den Gedanken, dass der Inhalt eigentlich ziemlich beliebig war und es auf was ganz anderes ankam. Kurz und gut, ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich davon halten sollte.

      Als ich Lucky das Buch zurückgab und mit ihm darüber sprechen wollte, benahm er sich reichlich cool und sagte nur, er hätte dazu keine Lust, er müsse sich das Buch erst noch mal durchlesen. Ich nahm einfach an, dass er einen schlechten Tag erwischt hatte, denn so abweisend kannte ich ihn nicht.

      Indem ich mich an die Arbeit gewöhnte, mehr Leute zu Besuch kamen, und ich auch wieder öfter wegging, vergaß ich die Sache mit dem Buch eigentlich recht schnell, bis Flie eines Abends ganz aufgeregt hereinstürzte. Yuka war auf Achse, und wir setzten uns bei ner Tasse Tee zusammen.

      »Speedy, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, fing sie an. »Mit Lucky ist der Teufel los. Er spricht kaum noch mit mir, schließt sich in sein Zimmer ein, und wenn er rauskommt, rast er wie wild in der Wohnung rum. Er ist dauernd aggressiv, tut nichts mehr zuhause und geht auch kaum noch zur Arbeit.«

      »Das ist ja ne ganze Menge. Hast du mal mit ihm darüber gesprochen?«

      »Ich habe es versucht, aber er hat es immer abgeblockt. Ich sollte ihn in Ruhe lassen. Er könnte eben nichts dazu sagen … Alle in der Wohnung reden permanent über ihn und er lässt sich nicht mal blicken!«

      Stimmt. Auch ich hatte ihn wochenlang nicht gesehen. Als ich ihn mal besuchen wollte, sagte mir jemand aus der WG, er wäre krank und wollte mit niemand sprechen.

      »Als ich ihm das Buch zurückgegeben habe, reagierte er auch schon so komisch«, erinnerte ich mich.

      »Wir überlegen schon, ob wir ihn rausschmeißen sollen«, fuhr Flie fort. »Denn so kann man es wirklich nicht aushalten. Und es wird immer schlimmer. Gestern hat er nen Wutanfall gekriegt, nur weil Arno ihn fragte, ob er nicht auch mal abwaschen wollte.«

      »Vielleicht ist das Ganze nur ne vorübergehende Phase. Er hat irgendwas, kann darüber aber nicht sprechen, weil er vielleicht selbst überhaupt nicht durchblickt.«

      »Die Phase dauert aber schon ganz schön lange.«

      »Dann weiß ich auch nicht, was ihr machen könnt.«

      »Ich dachte, du könntest vielleicht mal mit ihm reden, auf ner ganz anderen Ebene. Du bist irgendwie sehr fest mit ihm verbunden.«

      Sie fing an zu weinen, und ich fühlte eine dumme Hilflosigkeit, weil ich mir die Lage nicht so recht vorstellen konnte. Aber die Geschichte klang wirklich zum Heulen, und ich verspürte ganz von selbst den Drang zu prüfen, was mit Lucky wirklich los war. Flie beruhigte sich dann wieder etwas.

      »Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, was eigentlich bei Lucky anliegt. Es kam alles so plötzlich und ich konnte keinen äußeren Anlass erkennen. Er muss irgendwas Besonderes erlebt haben.«

      »Mal sehen. Ich werd mal zu ihm hingehen. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass er sich nicht mit mir unterhält. Schließlich kennen wir uns lange genug und wissen, was wir voneinander zu halten haben. Er hatte noch nie irgendwelche Privatgeheimnisse. Er muss ja mal mit jemand drüber reden, sonst kommt er ja selbst auch nicht weiter.«

      Ich konnte Flie mit dem ganzen Gerede aber nicht beruhigen und mich selbst auch nicht. Ich machte mich dann gleich am nächsten Abend auf den Weg.

      Ich kam an und er war auch zu Hause. Er erzählte mir, dass ich wieder gehen sollte, er wäre müde und hätte noch was zu tun. Normalerweise wäre ich auch sofort abgehauen, aber diesmal wusste ich, dass was anderes dahintersteckte.

      Lucky sah aus wie eine wandelnde Leiche, blass und kaputt, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Sein Gesicht war ne Mischung aus Hass, Trotz und Resignation.

      Ich machte also einfach die Tür hinter mir zu und setzte mich auf sein Bett. Das fiel mir allerdings unheimlich schwer, denn es kam mir vor, als wollte er sich gleich auf mich stürzen. Wenn er nur endlich irgendwas Vernünftiges sagen würde!

      Doch stattdessen brach er total zusammen. Er fiel vor mir auf den Boden und fing an zu schreien wie wahnsinnig. Irgendwas von Schmerzen und seinem Kopf. Ich war vollkommen perplex, als er sich da herumwälzte, und bekam furchtbare Angst. Er musste irgendwie krank sein. Endlich sprang ich auf, um Flie oder jemand anders zu holen. Ich fühlte mich der Situation echt nicht gewachsen Doch da setzte Lucky sich hin und hielt mich fest.

      »Bleib hier!«, rief er. Schweiß und Tränen liefen ihm in die Augen.

      »Was ist los, Lucky? Was ist bloß los mit dir?« Ich zitterte ebenfalls.

      Er war völlig erschöpft und kraftlos und brachte kein Wort heraus, obwohl er es versuchte. Ich setzte mich neben ihn, streichelte ihn und redete leise auf ihn ein. Es schien ihn zu beruhigen, denn das Zittern hörte nach einiger Zeit auf. Er lehnte sich an mich und strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Irgendwann ging er zum Waschbecken und hielt seinen Kopf unter Wasser, dass ich dachte, er würde ertrinken. Er setzte sich wieder neben mich, jetzt einigermaßen gefasst und begann hastig zu sprechen.

      »Irgendwie hast du es geschafft, Speedy. Ich wäre da allein nicht rausgekommen. Aber ich kann nicht sagen, wie lange dieser Zustand anhält.«

      »Wie bist du überhaupt in alles reingeraten?«

      »Es liegt an dem Buch.«

      Zuerst wusste ich gar nicht, was er meinte.

      »Welches Buch?«

      »Na, das ich dir geliehen hatte. Es hat irgendeine psychische Wirkung in mir ausgelöst. Ich lese es immer wieder und es treibt mich fast zum Wahnsinn. Ich weiß oft gar nicht, was ich tue. Ich spüre immer einen Drang, dass ich irgendwo hingehen soll, aber ich will nicht. Und wenn ich versuche, mit jemand darüber zu sprechen, bekomme ich diese entsetzlichen Kopfschmerzen.«

      »Und das alles soll mit dem Buch zusammenhängen?,


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