Kontrolle. Frank Westermann

Kontrolle - Frank Westermann


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war man nicht beteiligt gewesen und steht außen vor. Flucht ist gut, um abzuschalten und sich über seine Identität, seine Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten klarer zu werden. Ab und zu gelingt das.

      Und ich hatte das gerade hinter mir. Es wäre gerade jetzt falsch, es zu wiederholen. Nun gut, ich musste mich erst wieder an die Umgebung gewöhnen, aber ich musste ganz sicher Entscheidungen treffen, wie es für mich selber weitergehen sollte. Die Entscheidung zu arbeiten war ein erster Ansatz, obwohl er durch die Umstände diktiert wurde und mehr ein Zwang war. Außerdem musste ich vor mir selber zugeben, dass meine letzte Flucht in die Einsamkeit mir nur sehr wenig geholfen hatte. Ich war den wesentlichen Sachen nicht nähergekommen.

      Im Grunde wusste ich immer noch nicht, was ich tun sollte. Für mich bedeutete dieser Zustand Hilflosigkeit, Angst und Unsicherheit.

      Ich fühlte mich von Personen und Ereignissen zu Handlungen getrieben. Diese Aktionen gingen aber nicht von mir aus, sie wurden mir aufgedrängt. Und das ist wirklich ein schreckliches Gefühl.

      Ich merkte, dass ich nicht Herr meines Lebens war, noch nicht mal da, wo ich vielleicht die Möglichkeit hätte, es zu sein. Meine Zukunft wurde von anderen verplant und verbaut. Ich hatte nicht die Illusion, vollständig autonom über mein Leben entscheiden zu können. Schließlich und glücklicherweise lebte man immer mit anderen zusammen und musste da was draus machen. Aber im Moment machte ich nichts draus. Ich ließ vielmehr zu, dass andere etwas mit mir machten. Wenn ich meine Identität noch weiter verlor, konnte ich ja auch gleich abtreten. Es musste sich was ändern!

      Alle diese Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, während ich im Eingang des Restaurants stand. Ich sah schon einen Roboter auf mich zukommen, der mich mehr oder weniger höflich auf die Straße setzen würde, wenn ich hier noch länger blieb. Also entfernte ich mich lieber vorher. Hier herumzustehen war ja auch schließlich unnütz. Und unnütze Sachen wurden nicht gern gesehen in dieser Welt.

       They seek us in this unquiet zone

       They chase us on from hole to hole

       They hunt us down like carrion crows

       They search us out like frightened moles

       This surely is a dreadful war

       An awful waste of guts and gore

       An awful waste of human life

       This senseless, bloody, bitter strife

       We huddled close against the ground

       Scared to make the slightest sound

       And all around the great guns boom

       The constant march of pending doom

      Procol Harum - »The Unquiet Zone«

       Zwischenbericht - Vic

      Die Entscheidung war bereits getroffen. Soweit glaubte er seinen Bruder zu kennen. Das Verlangen nach Zeit zum Überlegen hätte nichts anderes zu bedeuten, als dass er nicht mitmachen würde.

      Aber hatte er etwas anderes erwartet?

      Scheiße! Da versuchte er nun, seinem Bruder irgendwie zu helfen, ihm etwas anzubieten, und der Typ schlug es geradewegs ab.

      Vic stieg auf sein Motorrad und ließ es wütend an. Wie hatte er nur annehmen können, dass ein so anderer Mensch als er, in irgendeiner Weise auf sein Angebot eingehen könnte? Nicht, dass er Angst hätte, Speedy könnte etwas verraten, aber diese verschleierte Absage irritierte ihn doch ganz gewaltig, obwohl er sich so was hätte denken können.

      Was sollte man mit so einem Träumer anfangen? Speedy war immer auf der Suche, jagte irgendwelchen Hirngespinsten hinterher. Wahrscheinlich wusste er noch nicht mal, wonach er suchte. Na, es würde auch ohne ihn hinhauen. Schließlich waren sie nicht auf ihn angewiesen, es wäre nur ganz schön gewesen …

      Während Vic die Stadt hinter sich ließ - unbehelligt von Cops -, musste er flüchtig an das Camp denken. vielleicht wäre Speedy dort besser aufgehoben. Er selbst konnte mit den Leuten nicht allzu viel anfangen. Er war überzeugt davon, dass dieses Experiment eines Tages in die Hose gehen würde. Der äußere Druck war einfach zu groß und wirkte sich zunehmend auf die ganze Gruppe aus. Es würde einfach auffliegen, mit einem Schlag. Er konnte daran nichts ändern. Diese Leute konnten höchstens durch das schnelle Zuschlagen der Gangs gerettet werden.

      Es war eben schon richtig, erst in der Stadt selbst die Verhältnisse zu ändern. Und das war gar nicht mehr so lange hin. Er hoffte, dass diesmal nichts dazwischenkam. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren.

      Diese Gedanken gaben ihm wieder Auftrieb. Vic öffnete den Helm. Er donnerte mit Vollgas über die Brücke, welche die Stadt von draußen trennte. Die Abendluft schnitt ihm ins Gesicht. Manchmal glaubte er, die Cops wagten es gar nicht, ihn zu kontrollieren, da sie die Folgen fürchteten. Aber das war wohl nur eine Illusion. Drohend schüttelte er die Faust gegen das Stadtbild.

      »Du wirst nicht mehr lange so stehen!«, rief er.

      Und dann fühlte er sich wieder zu Hause. Ein warmes, sicheres Gefühl stellte sich ein, als er den gewohnten Schleichweg einschlug. Dies war sein Bereich, hier spielte sich zum großen Teil sein Leben ab, schon lange Zeit. Aber bald brauchten sie sich nicht mehr zu verstecken. Die Stadt und alles andere würde ihnen offenstehen. Es würde sich alles grundlegend ändern.

      Er umfuhr spielend alle größeren Hindernisse und wich den gefährlichen Stellen aus. Hier war es schon dunkel. Kein Licht funktionierte mehr, die Ruinen, Straßenspalten und Steinklötze waren im Mond- und Sternenlicht kaum sichtbar. Aber er kannte sich aus, und es machte ihm wahnsinnig Spaß, die Maschine voll auszufahren, wo es ging.

      Er hatte lange daran herumgebastelt. Wenn die Cops wüssten, was in ihr steckte, würden sie ihn bestimmt nicht noch mal ohne weitere Untersuchung durch eine Kontrolle lassen. Wahrscheinlich würde er nicht lebend durchkommen. Nicht nur die hohe Geschwindigkeit und der eingebaute A-Grav waren gesetzeswidrig, es gab einen Schutzprojektor gegen Energiewaffen und eine getarnte Mini-MP. Und auf unerlaubten Waffenbesitz stand seit eh und je die Todesstrafe. Außerdem war der Schlitten durch seine Kompaktbauweise enorm wendig und bot einen ungemein sicheren Halt. Er war schon ziemlich stolz darauf. Davon abgesehen war seine Gang sowieso eine der Bestausgerüstetsten. Schließlich hatte sie ja auch die Führungsrolle und damit die gefährlichste Aufgabe in der bevorstehenden Schlacht übernommen. Das kam hauptsächlich daher, dass sie die Pläne und die Strategie lange vor den anderen entwickelt hatten. Vic sorgte allerdings dafür, dass die anderen Gangs nicht überfahren oder bevormundet wurden. So etwas wie Streit im eigenen Lager war das Letzte, was sie gebrauchen konnten.

      Er mied wie immer das Tonc-Vicrtel. Die Tonc-Gang war nicht gerade gut auf sie zu sprechen. Man wusste nicht recht, auf welcher Seite sie stand. Seit einiger Zeit gingen die Gangs zwar Auseinandersetzungen untereinander aus dem Weg, aber man brauchte sie ja nicht gerade zu provozieren. Und die Toncs hatten eine extrem andere Einstellung als zum Beispiel die Change-Gang, deren Chef er war. Die Toncs arbeiteten ziemlich offen mit der Bürokratie zusammen. Den Cop-Streifen waren sie manchmal lieber als irgendwelche irren Amokläufer, die sich in den Randbezirken verkrochen hatten. Und natürlich profitierten beide Seiten davon.

      Vics Bemühungen war es schließlich zu verdanken, dass es zu einer Art Waffenstillstand zwischen Toncs und Change gekommen war. Andererseits sahen sich die Toncs nämlich einem wachsenden Druck der anderen Gangs ausgesetzt, die vor kurzem beschlossen hatten, nach dem Grundsatz zu handeln, sich vor von außen drohenden Angriffen gegenseitig zu schützen - egal, welche Differenzen es sonst zwischen ihnen gab.

      Dieser Beschluss war das Ergebnis einer eilig einberufenen Zusammenkunft der verschiedensten Gangs. Nie hatte es vorher eine solche Versammlung gegeben. Diese war notwendig gewesen, als die Entscheidung der


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