Das perfekte Wirtshaus. Jürgen Roth

Das perfekte Wirtshaus - Jürgen Roth


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und falls die Flasche nicht poppt, so ploppt sie doch. Es ist noch auf etwas Verlaß in dieser Welt und in diesen Tagen.

      Berwersdorff hat unrecht

      Der Kollege und Freund Michael Tetzlaff schrieb ein Buch, obwohl er nie Lust gehabt hatte, eins zu schreiben, und war, um nicht jeden Abend mit Freunden oder mit mir in irgendwelchen Frankfurter Kneipen herumzuhängen, anstatt an seinem Buch zu schreiben, für zwei Wochen an die Ostsee gefahren.

      Die Ostsee sei ohnehin die einzige Gegend auf der Welt, in der man es aushalten oder die man erreichen könne, ohne fliegen zu müssen, hatte Herr Tetzlaff vor der Abreise gesagt. Ich erkundigte mich dann täglich telephonisch über den Fortgang der Arbeit und darüber, wie es an der Ostsee im großen und ganzen bestellt sei, und Herr Tetzlaff sagte, es habe an der Ostsee eine Menge Wasser, das kalt sei, er fürchte zu sterben, springe er ins Wasser, des weiteren habe es diverse Kliniken, ein FDJ-Heim, das zum Superbumshotel oder zu was auch immer umgebaut worden sei, und das Bier sei ja auch nicht mal das schlimmste, Rostocker Bier, das könne man trinken.

      »Hast du noch genug Zigaretten? Soll ich dir zehn Stangen vorbeibringen?« fragte ich Herrn Tetzlaff, aber die Verbindung brach ab.

      Am nächsten Morgen kaufte ich zehn Stangen Zigaretten und setzte mich neun Stunden lang in den Zug.

      Graal-Müritz ist nicht groß. Ich traf Herrn Tetzlaff in der ersten der beiden Kneipen. Er rauchte Caro-Zigaretten, trank Rostocker Bier, er begrüßte mich, ich begrüßte ihn, anschließend tat ich es ihm gleich.

      Zwei oder drei Tage lang taten wir das (ohne die Begrüßungsgeschichte, die gewöhnten wir uns schnell ab). Während eines Spaziergangs schmiß ich die mitgebrachten Zigaretten in den Vorgarten einer der Kliniken. Herr Tetzlaff merkte das nicht, wahrscheinlich schrieb er im Geiste weiter an seinem Buch.

      Gewöhnlich liefen wir zehn oder zwanzig Minuten am Strand entlang, guckten auf die zähe, zufrieden schwappende Ostsee, fanden das okay und gingen in ein Promenadenrestaurant. Dort spielten wir Mühle bis zum Zapfenstreich und tranken Rostocker Bier.

      Ich kann von mir wirklich behaupten, alles getan zu haben, um die Fertigstellung des Buches zu verhindern. Es ist fertig geworden, Ostblöckchen, dieses zu einem Gutteil ohne meine Kontrolle und trotz meines aufmunternden Kollegenarbeitsbesuches an der Ostsee entstandene Wunder von Buch, ein Geniestreich auf dem Feld der Hochkomik.

      So verdankt die Welt der Ostsee das Ostblöckchen, in großen Passagen zumindest. Ich verdanke der Ostsee außer dem Ostblöckchen, dem wiederentdeckten Feingenuß des Caro-Rauchens an der Meeresluft und der freundschaftlichsten Zusammenkunft beim Bier zudem eine, und dann sind wir bald auch schon wieder durch mit diesem Text, nützliche Belehrung oder Einsicht.

      Denn die Bild-Zeitung darf und kann, wie am 24. Mai 2004 geschehen, schreiben, was sie will; sie darf mitteilen, im Sternbild des Großen Bären sei »die Hölle los«, da sei die Galaxie M82 zugange, brodele »wie ein Hexenkessel« und jage »unvorstellbar große Gaswolken mit 1,5 Millionen Stundenkilometern pro Stunde durch den intergalaktischen Raum«, und sie, die Bild-Zeitung, darf diesen gut recherchierten Bericht (von Hans Berwersdorff) auch mit der genialen Überschrift schmücken: »Achtung, irre Kamikaze-Galaxie!« – aber im oder am Himmel über der Ostsee ist dergleichen nicht zu sehen. Im Himmel über der Ostsee ist alles im Lot, Berwersdorff lügt.

      Am Abend vor der gemeinsamen Abreise gingen wir noch mal an den Strand. Wir wanderten von einem Gasthaus, in dem wir Caro-Zigaretten geraucht und Rostocker Bier getrunken hatten, durch den Kiefernwald am Rande der Ostsee und nahmen einen der mit alten Betonplatten ausgelegten Zugänge zum Wasser.

      Herr Tetzlaff sagte: »Hier muß mal saubergemacht werden.« Er wollte den halb versandeten Weg fegen, das war sicher eine gute Idee. Wir setzten uns aber bloß in den Sand. Der fühlte sich angenehm an, noch ein wenig erwärmt, und die nur angedeuteten Wellen wechselten sich sehr freundlich, ja irgendwie kommunistisch gesonnen ab in ihrem zwanglosen Herzu-und-Hinweg-Getue.

      Es war eine klare Nacht, und irgendwann schaute ich in den Himmel, keine Ahnung, warum. Da standen unglaublich viele »schöne, helle, goldne Sterne« (Heinrich Heine). Das gefiel mir, ein wohliges Gefühl stellte sich ein. Da oben ihr, hier unten wir. Ätsch.

      Es war, als hätte ich nie zuvor einen Sternenhimmel gesehen. Das ist natürlich Unfug. Aber hier, an der Ostsee, an einem Meer, das nichts von mir und, so glaube ich, für den Freund und Kollegen Tetzlaff sagen zu dürfen, nichts von uns wollte, an einem Meer, das sich nicht erhaben aufwarf und nicht schäumte und spuckte, hier leuchtete mir zum erstenmal ein, was der Königsberger Kant ans Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft eigens fürs geflügelte Lexikon der Humanität hingeschrieben hatte: »Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« Befriedung, Vernunft, Glück. Mag der Kosmos blöd sein, die Ostsee ist um so klüger.

      Herr Tetzlaff erklärte mir dann die ganzen Sternbilder in ihrem sauber inszenierten »Schlummerleuchten« (Theodor Storm), den Großen Bären und den Großen Wagen, den Kleinen Wagen, den Polarstern und die Seeschlange. Das einzige, was zu diesen »Sternen wie Sand am Meer« (Barbara Häusler) und zu diesem Kant-Gedanken noch fehlte, war ein Rostocker Bier. Das haben wir aber auch noch gekriegt.

      Diffuses Wartegebaren

      Das Plätschern, nein, das Gurgeln und Schnorcheln, das Sprotzeln oder eher Schwörlen des Wolgawassers bei nächtlicher Fahrt über den Spiegel des Wassers der Wolga ist schon – sehr schön. Auch schön ist der Brauch, in Samara am Mittellauf der Wolga Taxis dergestalt zu rufen und zu nutzen, daß man einen beliebigen Daumen raushält, daß umgehend ein Privat-Pkw stoppt, daß man das Fahrziel mit mehr als einem Daumen zu umschreiben versucht, daß man dem Fahrziel im Idealfall im Umkreis von fünf Kilometern nahekommt, daß man einen frei erfundenen Beförderungstarif entrichtet (Rückgeld gibt es nicht) und daß man dann läuft. Immer grob Richtung Wolga. Bis man, nur wenige Gehminuten vom Flußhafen entfernt, auf die Gastwirtschaft Auf dem Grund stößt.

      Nichts schöner, als hier auf Grund zu gehen. Als hier abzutauchen, in aller russischen Ruhe vollzulaufen und schließlich abzusaufen. Dazu bediene man sich eines Getränks, das zu seligen Sowjetzeiten als der Inbegriff dessen galt, was man »Bier« nannte. Das hier verfertigte Schigulevskoje war eine Metonymie, eine mutmaßlich methylalkoholgeschwängerte.

      Bereits unter Breschnew war das Bier als Volksernährungsmittel angepriesen worden, um dem Wodkawahnsinn ein moderates Narkotisierungsprogramm entgegenzusetzen, allerdings mit nicht unerheblichen geschmacklichen Fehlschlägen und Querschlägern. Gleichwohl, der Bedarf nach Bier = Schigulevskoje wuchs rasch, und die Schlangen vor den Kiosken nahmen die bei Vladimir Sorokin beschriebenen Ausmaße an. Da stand man, faltete aus Zeitungen trinkgefäßähnliche Auffangvorrichtungen, schüttete nach Aushändigung des Schigulevskojes das Schigulevskoje in sich hinein und stellte sich als armer Tropf mit tropfendem, aufgeweichtem Bierpapierbecher wieder hinten an. Wozu Zeitungen gut sein können!

      Pivnaja hießen diese Ausschänke, und noch heute gibt es so eine Tränke neben dem roten Backsteingebäude der Schigulevskoje-Brauerei aus dem 19. Jahrhundert. Man lasse mithin die Brauereibar, die über den Haupteingang am Wolschki-Prospekt erreichbar und dem neureichen Geschwörl vorbehalten ist, scharf links liegen, schreite links um die Ecke und wohne dem Hausschanktreiben vor Auf dem Grund bei – dem Lungerleben mit Wolga- und komplementärem Wodkablick, dem Gewusel am Stockfischstand, dem diffusen Wartegebaren der Plastiksackträger, deren Einwegflaschen und Einmachgläser der Befüllung harren, und den sonstwie herumparkierenden Mannschaften, von denen vornehmlich jene überzeugen, die ihre Weibsbilder zum Putzen der Fensterscheiben verdonnern, während sie im Wageninneren ihre Schigulevskoje-Wodka-Tinkturen umnageln.

      Im Auf dem Grund, in jener Lokalität, die in Gorkis Nachtasyl, das auf russisch nicht umsonst Auf dem Lebensgrund betitelt war, in ihrer früheren Topographie abgeschildert wird, kaut man zum betörend blonden Schigulevskoje von Wokano den prophylaktisch extrafetten Stockfisch, getrockneten, geräucherten und geflochtenen Käse sowie durstfördernd gesalzene, geröstete


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