Das perfekte Wirtshaus. Jürgen Roth
sinniert Herr L. Herr R. betreibt Studien über die Möglichkeiten, verschiedene Arten von Durchzug zu beschreiben. Herr T. hat seine dunkle Maßpremiere. Die Brezeln sind kroß und gut wie nirgendwo sonst. Bald wird jemand von einem Tablett erschlagen. Schnaps und mitgebrachte Speisen sind verboten.
Dicke Frauen, mitteldicke Männer, dünne Damen, Schweinsbratenbäuche, Fräuleinwunder. Die Räume sind karg, die Tischdecken gemustert, die Pegel steigend. Draußen versinkt die Welt im Nebel, es ist Ende August.
Herr T. kommt sich vor »wie in einem Hörspiel von Eugen Egner«. Herr L. erzählt, zurückgekehrt von draußen, die Pilger seien da. Am Bus spiele man Kirchenlieder. Mit der Blaskapelle. Zutritt zum Antonius-Bau »nur für Pilger«. Eine Nonne trinkt unter den Weltlichen. Durchsage: »Sehr verehrte Wallfahrer, um 21.15 Uhr findet in der Kapelle ein Couplet statt.« Das hört man doch gern.
Um 20 Uhr soll Schluß sein, Pfandrückgabe (3 €) ist bis 21 Uhr möglich. Um 22 Uhr sind alle voll. »Singen und Gegröle«, per Anschlag untersagt, »da wir kein Festzelt oder eine derartige Einrichtung sind«, hie und da und überall. So langsam, so sicher sitzt man jetzt endlich im nahezu perfekten Wirtshaus. So geht das. Im Grunde. Vielleicht. O doch. Wir denken weiter drüber nach.
Frikadellengrünfrüchteensemble
Weil einem in der bahnhofsnahen Frankfurter Totallokalität Gleis 25, die jedem Reisenden eingeschränkt empfohlen sei, auf die Frage nach etwas Eßbarem Bescheid gestoßen wird: »Das hier ist eine Absturzkneipe, klar?! Nix zu mampfen!«, fahre ich gerne mal ein paar Ecken weiter, nämlich ziemlich präzise zweihundertvierunddreißig Kilometer über den namenlos schönen Hunsrück und scharf an den Rand der Schneifel, nach Prüm.
Sollte ich mir eine Gaststätte zur sogenannten Kultkneipe erwählen, es wäre die ebendort am Hahnplatz gelegene Stiftsklause. Ach, welch wundersam klirrender, betörend tönender Name! Ende August etwa, wenn flaumige Winde durch die Wipfel des samtgrünen Eifeltanns streichen, fallen wir, eine Bagage von Autosportnarren auf Pilgertour gen Spa-Francorchamps, hier ein, in einem der anmutig-gemütlichsten Etablissements der stark westlichen Republik.
Freilich und annäherungsweise gewißlich, manchem Leser mag die Stiftsklause bekannt sein als Stammbölkbude des Prümer Motorradclubs »Wäffuh«, auch als Refektorium, in dem der Kreisbauernverband Bitburg-Prüm seine Sprechstunden runterleiert. Aber wer jemals auf der gut achtzig Durstigen Rast und Speisung gewährenden Terrasse einen Nachmittag unter saftig gelben oder weiß-unschuldigen Bitbiersonnenschirmen verdöselt hat, der versteht, was ich meine, da ich anbetend jauchze: Stiftsklause, du Oase des Labsals und Prümer Hanswurstes (i. e. Kartoffelpuffer plus Grillhacksteak)! Beziehungsweise des Spätsommersalats als gemischtes Grünfruchtensemble mit Frikadellenstücken und Früchten zu 6,90 €.
Nebenan, im selben weiß-rosa getünchten Schmuckbau, im seit 1803 betriebenen Hotel zum Goldenen Stern, residierten der Trierer Bischof Wehr, Erich Ollenhauer, Kanzler Kohl a. D., Georg »Prost!« Leber und mein alter Talkshowkonkurrent Roberto Blanco. Ob diese schwerwürdigen Vollkräfte die edle Eifeler Kartoffelsuppe und anderweitig stärkende, »bierbezogene Gerichte« der Stiftsklause inklusive der die belgische Lebensaura löblich zitierenden Sauce Bernaise verdrückten, weiß ich nicht. Ist ja wurscht. Denn das rasant kellnernde Stiftsklausen-Damenteam legt ohnehin preis- und preisenswert das »Hauptaugenmerk auf den Bierausschank«, und da summe ich jedesmal wieder feierlich gestimmt mit: wenn einer der fabelhaften Profanhumpen daherrumpelt, blitzend, funkelnd, gralsgülden, und gehoben sein möcht’ im Antlitz der rostbraunen Basilika und der glückselig glucksenden Spa-Wanderer, die bei Parkscheinpflicht eine gebührenfreie Stunde lang womöglich wegen frühherbstlicher Wolkenwallungen auch schon mal am aus Messingplatten, Gußeisenwirbeln und unsortierten Sperrholzphantasien gezwirbelten Rundtresen vor Postkartenwänden und angesichts einer hochgradigen Digitaluhr irgendwelche Plastikpokale anstieren, aus Lautsprechern vernehmen, das RTL-Radio sei »Urlaub für die Ohren« und die Uhren, und dabei die Krankengeschichte einer vierundsiebzigjährigen Kettenraucherin belauschen – oder die tiefzufriedenen, mützenbeschirmten Feierabendleergespräche der Aufzwei-Biergäste.
Erwähnt sei notabene und nebenbei, daß der Himmel gerade aufreißt, daß es in der Stiftsklause kein Weizenbier gibt, daß »Wahrheit und Wirklichkeit in Prüm« laut Ror Wolf eventuell derart »stark und so allgemein« seien, »daß man sofort mit dem Schlimmsten zu rechnen« habe oder nicht, und daß um die Ecke die Buchhandlung Hildesheim zu finden ist. Was kaum was zur Sache tut. Weshalb trotz aller »Keilkräfte des Kruges« (Achim Wrba) »das muntere Gurgeln der Bierbrause im Ranzen« weiterhin »die Fulminanz des Lebens« »fulminierend« auf Vordermann bringt. Hier und nunc und rundherum.
Musik
In der architektonisch, allgemeinmenschlich und infrastrukturell sowie strukturell lückenlos verfehlten und verlorenen Stadt München gibt es nur einen Weg, der sich zu gehen lohnt: zum Hofbräuhaus am Platzl.
Wen es als Kind einmal dorthin verschlug, dem offenbart sich eines Tages die innere Mission, im Alter zunehmender Bewußtheit an den Ort seiner frühesten Erfahrungen mit dem Gaststättenwesen zurückkehren zu müssen.
Nichts anderes tat neulich eine Gruppe äußerst hoffnungsvoller, durch den vormaligen Verzehr einiger, um nicht zu sagen etlicher Einbecker Biere nach den kantischen Prinzipien vernünftig präparierter Lehrlinge denn auch. Den legendären Keller erreichten sie zwar nicht, und auch täglich ab 19 Uhr live in der »Trinkstube« dargebotener »Unterhaltungsmusik« wurden sie weder ansichtig noch anhörig; doch fand man Platz in der ebenerdigen »Schwemme«, in der nebst regulären Frühschoppenkonzerten allerdings bereits Schlag 17.30 Uhr »HB-Blasmusik« zur Aufführung kommt – zum Leben nimmermüd’ erweckt durch die »hauseigene Blaskapelle«, die für original »bayerische Abende« bürgt, »a bisserl zünftig – a bisserl modern«.
Das von Peter Mohyla gelenkte Ensemble aus der mitunter eingeflogenen Jodlerin Tilli, aus Glockenspielern und Schuhplattlern sowie Goaßlschnalzern, Alphornbläsern und Stubimusikanten erzeugt »viel bayerische Atmösphäre«, ganz klar, das fetzt dermaßen, daß der Hund der Katze keinen Faden abbeißt.
Unsere juvenile Reisegruppe ist folglich begeistert. Sie sitzt neben dem Stammtisch und hat wie dieser das mittig gelegene Krawallpodium voll im Blick. Sollte da mal einer der sich durch Abgabe von etwa vierhundert Mark fürs Dirigat eines Songs qualifizierenden Touristen aus Übersee oder der niederrheinischen Kartoffelbörde danebenschlagen und die Combo somit aus dem Takt werfen, schmeißt der Drummer die Brocken respektive seine Knüppel hin, wirft den Gamshut in die jubilierende Trinkergemeinde und haut dem blöden Deppen von einem dahergelaufenen Geldjapaner gezielt und nachdrücklich eine vor die dumme Omme. Jauks!
So tolerant sind die Menschen hierzuland’. Und mit dieser ja gerade heute wieder geradezu wertvollen und wertsatten patriotisch-ethischen Textleitrichtlinie wollen wir diese aufregende Expedition dann auch schon wieder beenden.
Mühle marsch!
Der Kölner Karneval hat einiges zu bieten. Mich rief mal ein Freund, ein Redakteur beim WDR, an und berichtete live von einem Fenster des Funkhauses in der Nähe des Doms: »Und jetzt poppen sie da unten auf der Gasse!« Und nach solch schöner Tat gehen sie in die Kölschkneipe, sofern sie nicht vorher dem Über-Ich-Impuls gehorcht und diversen Schnäpsen in derartigen Mengen die konsumistische Absolution erteilt haben, daß sie mit dem Segen des gnädigen heiligen Spiritus in der Gosse versumpfen oder im Rhein versinken.
Wer es nach dem Koitus noch zum Locus amoenus einer Kölschkneipe schafft, kauft am Eingang eine klopapierrollendicke Getränkemarkenreserve und überläßt sich bevorzugt den erregenden Unmittelbarkeits- und Folgewirkungen des lendenweichen Mühlen Kölsch, das, »frisch aus der Malzmühle« geflossen, als würziger Appetizer, der den bald greifenden Fastengeboten schon vorauseilend nicht im mindesten zuwiderläuft, das einzige seines Faches ist, das den altknorkigen Sortencharakter nicht leugnet und, vollharmonisch auf die Kölsch-Konvention geeicht, nicht im