Das perfekte Wirtshaus. Jürgen Roth
Variante des Wirtshauswesens. Früher diente es allen möglichen Hand- und Fuhrwerkern, die dahergewalzt kamen, heute dient es, wie im Bayerischen Hof, ein paar Mittagstischgästen, den Wanderern, den sonstwie motivierten Umherziehenden und Genossen unserer Sorte, die eine durch und durch altmodische Rast einlegen wollen.
Ich schätze diesen unterschätzten Typus des Gasthauses sehr. Das Landstraßenlokal entfaltet als Mischkonzept für eine Gesinnung zwischen Modernität, vulgo Mobilität, und Ausharrungsvermögen, als Mixtur aus Komplettruhe und intermediärem Zivilisationsstraßensound, als Agora der vita contemplativa und vita activa vital pur eine eigensinnig spröde Idyllik. Oft genügt da ein eher schäbiger Verschlag im Hunsrück oder ein Snackpoint in der Eifel.
Ideal getroffen hat man es allerdings im Bayerischen Hof, der seit 1880 von der Familie Hilbert geführt wird und neben dem – leider nicht bekiesten – Biergarten ein Gästehaus, eine souveräne Küche, einen grandiosen alten Wirtssaal und personalseits eine geradezu fundamentale Freundlichkeit in die Gunstschale wirft. Meine Zeugen sind, das Gästebuch verrät es, u. a. Rudolf Schock, Marie-Luise Marjan, Piet Krüger (zweimal), Miss Germany Anke S. und eine Abordnung der World Disco Queen Corporation.
Unterdessen rutscht die Sonne wieder durch Faser- und gestreifte Lappenwolken. Apfel-, Birn- und Nußbäume säumen die Wiesen. Am Horizont steht der Wald. Meine Bachstelze, eben noch durch einen kecken Hüpfer vor dem nahen Unfalltod bewahrt, wippt nun interessiert über den Mittelstreifen der kerzengeraden Straße. Im Kopf macht sich längst ein angenehm sachter Schwurbel und Schwabbel breit. Aha, ein Auto! denkt man, und schon fliegt die Fliege in die Fränkische Grünkernsuppe.
Es grillt, es zirpt. Ein tastender Wind haucht über die Anhöhe, ungezwungen zeigt sich das nächste Getränk, gelb wie der Geruch des Sommers. Nach Mockmühl will ich aber auch mal.
Faßbrause und Kühlungsbräu
Daß peu à peu immer mehr Bierführer erscheinen, ist das schlechteste nicht. Die Erweiterung des Gesichtskreises und der Abbau von Ignoranz können gerade den zu unsinniger Treue zum Supermarktbier neigenden Biertrinkern nicht schaden. Gose, Schwarzes, Kombinate – Die Biere des Ostens (Hamburg 2004) erschließt dem Neugierigen jenes Terrain, das nach 1990 von diversen westdeutschen Bierriesen zwangsflurbereinigt worden war und auf dem seit einigen Jahren eine stetig wachsende Zahl wiederbelebter oder neugegründeter Kleinbrauereien den geschmacklichen Verheerungen der Premiumbierseuche zu wehren versucht.
Exakt hundert Brauereien stellt das – und hier deutet sich das Unheil aber leider schon wieder an – vom Deutschen Brauer-Bund gesponserte Buch vor. Zwei ungenießbare Lobbyistenvorworte überschütten einen sogleich mit Phrasen aus dem Reich der Schönfärberei. Die Anfahrtsbeschreibungen jedoch sind übersichtlich, das Register ist brauchbar, die Karte auf den Innenklappen bietet einen guten Überblick, auch wenn man das brandenburgische Warnitz, wo im Gasthof Deutsche Eiche eigenständig gebraut wird, vergeblich sucht. Die Schilderungen umliegender Sehenswürdigkeiten laden zu bierunabhängigen Exkursionen ein, obschon die »Straße der Romantik« eher die »Straße der Romanik« ist, wie der auf den Osten spezialisierte Bierkundler Stefan Rehse zu Recht anmerkt. Zudem darf man sich fragen, weshalb die Ausflugstips in einem eklatanten Mißverhältnis zu den Biercharakterisierungen stehen.
Für viele der im Osten beheimateten Biere, darunter die weizenbierähnliche Gose und die traditionellen Schwarzbiere, fehlen schlicht die Worte. Man erfährt nichts über sie. Im Gegenzug wird der Leser seitenlang mit einer Brauerlyrik eingeseift, in der sich die »urige Gaststube« auf den »rustikalen Biergarten« reimt, garniert mit einem Werbeslang, der eine »Eventlocation« anzupreisen weiß, obwohl es sich um die Stralsunder Brauerei handelt.
Mögen auch die Ausführungen zur Geschichte der Brauhäuser durch ihre Genauigkeit überzeugen, sobald es doch mal um den Geschmack der Produkte geht, ergreifen Hopfen und Malz die Flucht. Da ist dann zuverlässig nichtssagend von »herb-spritzig«, »süffig-herzhaft«, »kräftig-würzig« oder »vollmundig-aromatisch« die Rede, und reicht es gelegentlich zu mehr als zum lästigen PR-Deutsch des Brauer-Bundes, dreht es einem spätestens bei der »Faßbrause« oder beim »leckeren Kühlungsbräu«, was immer das sein soll, die Zunge um – respektive bei einem solchen Satz: »Der cremige Schaum ist genau das Richtige für liebliche Zungen.«
Daß sich die zweifelhaften Biermixer der Klosterbrauerei Neuzelle eines vom Geschäftsführer verfaßten Gastbeitrages über sein ureigenes »Anti-Aging-Bier« erfreuen dürfen, erklärt der Werbeeinsatz des Hauses auf der Rückseite des Buches. Stefan Rehse gesteht anläßlich dieses unschätzbaren Elaborats: »Ich hätte mich entleiben können.« Zum Glück hat er’s nicht getan und kann deshalb darauf hinweisen, daß in Die Biere des Ostens diverse Brauereien schmerzlich vermißt werden: das Altstadtbrauhaus zu Bautzen zum Beispiel, der Stadtkrug in Schwerin, die Hausbrauerei Am Anger und Schwanenbräu in Erfurt oder die Demmert Brauerei aus Neuendorf bei Klötze, der pferdefreundlichsten Stadt Deutschlands.
Allein, der Kardinalfehler ist die klägliche Erwähnung der Museumsbrauerei Schmitt in Singen. Wer deren sagenhaftes Export nicht feiert, darf nicht mitreden. Im übrigen schreibt er gewissermaßen selbstentlarvend ins Vorwort hinein, es gebe »auch Brauereien, die nicht in dieser Form an die Öffentlichkeit treten wollten«. Verstehen kann man das. Gewünscht hätte man es sich vor allem im Fall der Berliner Bruchbuden und der Hasseröder Brauerei. Zu denen sollte niemand hinwollen, es sei denn, er ist suizidentschlossen.
Krug und Kruzifix
So geht das. Mit der Karre hochbrettern. Im BMW, 353 PS. Und einen Fahrer haben. Der dann ein Cola trinkt. Vielleicht. Und jetzt aber erst mal die Mannschaft hochbringt. Damit sie bloß nicht laufen muß. Auf den Kreuzberg in der Bayerischen Rhön, nicht weit von Fulda (Dyba sel.), östlich von Wildflecken.
928 Meter hoch. Das packt ohne Pkw (BMW) keiner. Es sei denn, er ist Wanderer. Am Tisch wird das bestätigt. Man fährt. Der Hochrhönbus fährt, und irgendein Fred fährt auch. Ein Fred, der einen hochbringt, zum Bier bringt und wieder wegbringt. »So wird das gemacht, das ist schön«, sagt die Dame und hebt die Maß.
Der Kreuzberg, zusammen mit der ebenso hohen Dammersfeldkuppe (ein Name, den man sich unbedingt merken sollte) der zweithöchste Berg der Rhön, liegt auf der Rhein-Weser-Wasserscheide. Deshalb regnet es hier immer. Meistens. Manchmal. Zumindest, wenn die Mannschaft kommt. Die Mannschaft: Herr L., Herr T. und Herr R. Herr L. ist der Fahrer – L. wie Loser.
Spätsommer und Dauerregen, das ist Deutschland. Das ist der Kreuzberg. Unbeeindruckt walzen Millionen den Berg hinauf. Fluten die Parkplätze, überschwemmen den Vorplatz, drängen zur Würstlbude, entern den Klosterhof, belagern nasse Bierbänke, umstellt von grauschwarzen, groben Basaltmauern. Feucht pappen die Kleider. Das Bier fließt. Ein Geschrei findet statt. Kalt ist der Arsch.
Die Wallfahrts- und Klosterkirche, hoch droben über Buchenwäldern, Basaltkuppen, Mooren und Bergmatten thront sie treulich, beherbergt seit dem 17. Jahrhundert Mönche des Bettelordens der Franziskaner. Seit 1731 betreiben sie eine eigene, gerühmte Brauerei. Das ist ein Argument. »Ein endloser Zug« nach dem anderen, so Kardinal Faulhaber (1901), schiebt sich vorwärts und hinzu zur Tränke, zum Ausschank, dem heiligen, hin »zum Krug« (Faulhaber), o Kruzifix.
Vier, fünf, sieben Wirtsräume. Alle brechend voll. Im Zentrum der reihum angeordneten Stuben die Schank. Stimmung in den Gängen wie im Stehimbiß um halb neun. Tonkrüge, tonales Mischmasch, Rucksäcke, manch ein Sackgesicht. Blechern tönt durch Lautsprecher: »Eine Damenuhr wurde gefunden. Sie kann an der Pforte abgeholt werden.«
Es gibt eine Nichtraucherstube. Im »Fürstensaal«, einem Raucherparadies ohne geöffnetes Fenster, findet die Mannschaft endlich Platz. Direkt am Eingang. Denn am Nebentisch will man nicht, daß geraucht wird. Also darf man nicht Platz nehmen. Man darf aber drei Nichtraucherstühle mitnehmen und sich in den Durchzug setzen. Das ist erlaubt. Seitens der Nichtraucher.
Sekündlich geht die Tür. Auf und zu. »Was hier weggesoffen wird«, sagt Herr L. und verlacht sein Cola. Tabletts fliegen durch die Luft, Tabletts aus der Kantine,