Herzenssache. Leonardo Boff
eines langen Zeitraums ausgeprägt. Was dringend nottut, ist es, das Herz wachzurütteln, damit es mit der Erde, ihren Ökosystemen und allen Lebewesen, das heißt unseren Gefährten in diesem irdischen Dasein, fühlt, mit ihnen Mitleid empfindet, sich mit ihnen solidarisiert und sie liebt. Das Bewusstsein allein verfügt nicht über alle Hilfsmittel, um die aktuelle Krise zu bewältigen. Es braucht die Unterstützung des Herzens. Das Herz ist es nämlich, das uns zum Handeln motiviert und die besten Wege zu unserer Rettung ausfindig macht. Deshalb sprechen wir davon, dass das Herz ins Recht gesetzt werden muss, dass diese Rechte des Herzens öffentlich proklamiert und mit Leben erfüllt werden müssen, und zwar um unseres eigenen Überlebens willen.
Die Dimension des Herzens wurde im Lauf der Moderne vernachlässigt. Die analytische und instrumentelle Vernunft sowie die an der Technik orientierten Wissenschaft strebten methodisch nach der strengstmöglichen Trennung von Emotion und Vernunft, von denkendem Subjekt und dem Gegenstand des Denkens.
Alles, was dem Bereich der Emotionen, der Affekte, des Empfindens, mit einem Wort: des Pathos, entstammt, so meinte man, würde den analytischen, „objektiven“ Blick auf das Objekt trüben. Diese Dimensionen mussten unter Verdacht geraten, sie mussten unter Kontrolle gehalten, ja sogar zurückgedrängt werden.
Nun aber hat die Wissenschaft selbst diese reduktionistische, verkürzende Sichtweise überwunden: etwa durch die Quantenmechanik, wie sie Nils Bohr und Werner Heisenberg interpretierten, oder durch die Biologie im Denken von Maturana und Varela und schließlich durch die psychoanalytische Tradition, die von der Existenzphilosophie (Heidegger, Sartre, u. a.) noch verstärkt wird. Diese Denkströmungen machten deutlich, dass die gegenseitige Verschränktheit von Subjekt und Objekt unvermeidlich ist. Vollkommene Objektivität ist eine Illusion. Am Erkenntnisprozess selbst sind stets Interessen des Subjektes beteiligt, es sind Emotionen und Affekte mit im Spiel, wie sie dem Menschen und seinem In-der-Welt-Sein mit anderen eigen sind. Mehr noch: Diese Wissenschaftler haben uns davon überzeugt, dass die Grundstruktur des Menschen nicht die Vernunft ist, sondern dass diese Basis von Gefühl und Empfinden gebildet wird.
Daniel Goleman hat mit seinem Buch EQ – Emotionale Intelligenz (Goleman, 2011) den empirischen Beweis dafür geliefert. Darin stellt er die These auf, dass die Emotion der Vernunft vorausliegt. Die erste Reaktion angesichts jedweder Art von Realität entspringt der Emotion, und erst einige Sekunden danach wird die Vernunft wachgerufen. Michel Maffesoli singt das „Lob der empfindsamen Vernunft“ (Maffesoli 1996), Patrick Viveret hält ein Plädoyer für eine „glückliche Genügsamkeit“, deren Grundlage die Übereinstimmung zwischen der Vernunft und der Intellligenz des Herzens ist, Adele Cortina schrieb über die „Vernunft des Herzens“, und ebenso Muniz Sodré in mehreren Werken.
Dies wird noch verständlicher, wenn wir bedenken, dass wir Menschen nicht einfach rationale, vernunftbegabte Lebewesen, sondern vernunftbegabte Säugetiere sind. Vor mehr als 200 Millionen Jahren traten die Säugetiere auf den Plan, und es brach innerhalb des evolutiven Prozesses das limbische System des Gehirns hervor. Dieses ist verantwortlich für das Gefühl, die Fürsorge, die liebevolle Zuwendung. Die Mutter empfängt das Junge und trägt es aus, und nach der Geburt umgibt es dieses Junge mit Fürsorge und Zärtlichkeit. Erst in den letzten fünf oder sechs Millionen Jahren entstand die Großhirnrinde, und seit 200.000 Jahren gibt es das Gehirn in der heutigen Form, das zu abstraktem Denken, Begriffsbildung und vernünftigem Sprachgebrauch befähigt.
Heute besteht die zentrale Herausforderung darin, das wieder in den Mittelpunkt zu rücken, was am ältesten an uns ist: das Gefühl und das Empfinden, das am besten mit dem Ausdruck „Herz“ beschrieben wird. Es kommt entschieden darauf an, das Herz wieder in sein Recht zu setzen und zu betonen, dass es genauso wie Vernunft, Wille, Verstand und Libido seinen unersetzbaren Platz hat.
Im Herzen ist unsere Mitte, unsere Fähigkeit, tief zu empfinden; hier ist der Sitz der Liebe, und hier haben die Werte ihren Wurzelgrund.
Wir sind weit davon entfernt, die Vernunft herunterzuspielen. Wir brauchen sie, denn sie ist unverzichtbar, wenn es darum geht, die Gefühle kritisch zu beurteilen und sie in eine vernünftige Rangordnung zu bringen, ohne sie jedoch ersetzen zu wollen. Wenn wir es heute nicht lernen, die Erde als Gaia, als lebendiges Wesen, zu empfinden, sie so zu lieben, wie wir unsere Mutter lieben, und uns nicht so um sie zu kümmern, wie wir uns um unsere Kinder kümmern, dann wird es schwer werden, sie zu retten.
Ohne das Empfinden ist das Werk von Technik und Wissenschaft unzureichend. Doch eine von Gewissen und ethischem Empfinden durchdrungene Wissenschaft kann befreiende Auswege aus unseren Krisen finden. Deshalb kommt es darauf an, den ganzen Menschen, der Kopf und Herz, Gefühl und Vernunft, Musik und Arbeit, Poesie und Technik in sich vereint, neu zu erfinden.
Ziel unseres kleinen Buches ist es, die Menschen einzuladen, empfinden zu lernen, die für gewöhnlich kalte und berechnende Vernunft mit dem warmen und Wärme ausstrahlenden Gefühl zu verbinden. Aus dieser Mischung wird gleichsam wie von selbst unser Wille hervorgehen, uns um alles Lebendige, Schwache und für das Leben des Menschen und das Leben auf dem Planeten insgesamt Wichtige zu kümmern.
Das Herz hat sein eigenes Recht und folgt seiner eigentümlichen Logik. Es sieht nicht so klar wie die Vernunft, aber es sieht in einer tieferen Weise und mit Gewissheit. Wir erkennen besser, wenn wir lieben. Und wir lieben intensiver, wenn unser Erkennen klarer und vorurteilsfreier ist.
I. Grundlegendes
Sensibel werden für Mensch und Natur
Die psychoanalytische Tradition hat mehr als alle anderen Wissenschaften den zentralen Stellenwert von Emotion, Affektivität und Gefühlen wieder zur Geltung gebracht. Ohne Zweifel kommt hier Carl Gustav Jung und seinem gesamten Werk eine besondere Bedeutung zu.
Für ihn kennt die Psychologie keine Grenzen – weder zwischen Kosmos und Leben noch zwischen Biologie und Geist, zwischen Leib und Bewusstsein, zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven. Für ihn hat es die Psychologie mit dem Leben in seiner umfassenden Ganzheit, in seiner rationalen und irrationalen, symbolischen und virtuellen, individuellen und kollektiven, irdischen und kosmischen Dimension mit all seinen dunklen und hellen Seiten zu tun. Deshalb erweckte alles sein Interesse: außergewöhnliche Phänomene, die Alchimie, die Parapsychologie, der Spiritismus, die „fliegenden Untertassen“, die Philosophie, die Theologie, die abendländische und östliche Mystik, die indigenen Völker und die fortschrittlichsten wissenschaftlichen Theorien.
Er verstand es, diese Wissensgebiete miteinander zu verknüpfen, indem er verborgene Verbindungen zwischen ihnen aufspürte, welche überraschende Dimensionen der Wirklichkeit offenbaren. Aus allem verstand er es, seine Lehren zu ziehen, Hypothesen aufzustellen und mögliche neue Ausblicke auf die Wirklichkeit zu erkennen. Aus diesem Grund ließ er sich nicht auf eine einzige wissenschaftliche Disziplin beschränken, und das ist der Grund dafür, dass ihn viele verspotteten. So wurde C.G. Jung zu einem Lehrmeister, der uns anregende und gangbare Wege aufzeigt, die uns auf der Suche nach Lösungen angesichts der aktuellen ökologischen Krise inspirieren können.
Diese ganzheitliche und systemische Sichtweise müssen wir heute zum bestimmenden Ausgangspunkt für unsere Deutung der Wirklichkeit wählen. Andernfalls bleiben wir die Geiseln von bruchstückhaften Ansichten, die den weiten Horizont des Ganzen aus dem Blick verlieren. In diesem Bemühen ist Jung ein besonders wichtiger Gesprächspartner, insbesondere wenn es darum geht, die Vernunft des Herzens und die emotionale Intelligenz wieder zum Zug kommen zu lassen.
Ihm kommt das Verdienst zu, die verborgene Botschaft der Mythen gewürdigt und entschlüsselt zu haben. Sie bilden die Sprache des kollektiven Unbewussten. Dieses besitzt eine relative Eigenständigkeit. Wir haben dieses kollektive Unbewusste nicht so sehr, sondern eher umgekehrt: Es verfügt über uns. Jeder von uns wird mehr gedacht, als er selbst denkt. Das Organ, das die Bedeutung der Mythen, der Symbole und der großen Träume erfasst, ist die empfindsame Vernunft oder die Vernunft des Herzens. Sie geriet im Lauf der Moderne unter Verdacht, denn sie könnte ja die Objektivität des Denkens trüben. Jung hat einen übertriebenen Gebrauch der instrumentellen, analytischen Vernunft stets kritisiert, denn diese verschließe viele Fenster der Seele.
Berühmt wurde das Gespräch,