Herzenssache. Leonardo Boff
sagte Ochiwiä Biano, „wie grausam die Weißen aussehen. Ihre Lippen sind dünn, ihre Nase ist spitz, ihre Gesichter sind von Falten gefurcht und verzerrt, ihre Augen haben einen starren Blick, und sie suchen immer etwas. Was suchen sie? Die Weißen wollen immer etwas, sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir glauben, dass sie verrückt sind.“ Ich fragte ihn, warum er denn meine, die Weißen seien alle verrückt. Er entgegnete: „Sie sagen, dass sie mit dem Kopf denken.“ „Aber natürlich. Wo denkst du denn?“ fragte ich erstaunt. „Wir denken hier“, sagte er und deutete auf sein Herz. (Jung 1962, 251)
Dies veränderte das Denken Jungs. Er begriff, dass die Europäer die Welt mit dem Kopf erobert hatten, dass sie jedoch die Fähigkeit verloren hatten, mit dem Herzen zu denken und zu empfinden und durch die Seele hindurch zu leben.
Selbstverständlich geht es nicht darum, der Vernunft abzuschwören – dies wäre für alle ein Verlust –, sondern darum, die Beschränktheit ihrer Auffassungsgabe zurückzuweisen. Wir müssen das Empfinden und das Herz als zentrale Elemente des Erkenntnisaktes selbst begreifen. Sie ermöglichen es uns, Werte und Sinngehalte zu erfassen, die tief im Gemeinsinn verwurzelt sind. Der Verstand ist stets verleiblichter Verstand, nicht nur im Gehirn verankert, also stets von Empfindsamkeit durchdrungen. Jung sagt:
Und doch gibt es so viel, was mich erfüllt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige in den Menschen: Je unsicherer ich über mich selbst wurde, desto mehr wuchs ein Gefühl der Verwandtschaft mit allen Dingen. (Jung 1962, 361)
Das Drama des Menschen heute besteht darin, dass ihm die Fähigkeit abhanden gekommen ist, ein Gefühl der Zugehörigkeit – etwas, das die Religionen stets gewähren – lebendig zu empfinden. Der Widerpart zur Religion ist nicht der Atheismus oder die Negation des Göttlichen. Was zur Religion im Gegensatz steht, ist vielmehr die Unfähigkeit der Bindung und Rückbindung an alle Dinge. Heute sind die Menschen entwurzelt, sie haben die Verbindung mit der Erde und mit der anima – dem Inbegriff von Empfindsamkeit und Spiritualität – verloren.
Für Jung ist das große Problem heute psychologischer Natur. Dabei geht es nicht um Psychologie im Sinne der wissenschaftlichen Disziplin oder um das Psychische als einer Dimension der Seele, vielmehr geht es um Psychologie im umfassenden Sinne als die umgreifende Ganzheit von Leben und Universum, sofern sie vom Menschen wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Sinne schreibt Jung:
Es ist meine feste Überzeugung, dass von jetzt an bis in unbestimmte Zukunft das wahre Problem ein psychologisches sein wird. Die Seele ist Vater und Mutter all der anscheinend unlösbaren Schwierigkeiten, die sich vor unseren Augen zum Himmel türmen. (Jung 1973, 1959)
Wenn wir heute die empfindsame Vernunft, eine wesenhafte Dimension der Seele, nicht wiedergewinnen, dann werden wir uns kaum dazu motivieren können, die Andersheit der anderen Seinsformen zu respektieren, die Mutter Erde mitsamt all ihren Ökosystemen zu lieben und das Mitleid mit allen Leidenden in Natur und Menschheit zu leben.
Die bloß analytisch-instrumentelle Vernunft kann, wenn sie nicht mit der emotionalen, empfindsamen Intelligenz des Herzens einhergeht, zum Wahn der Vernunft werden, wie es in der Schoah auf erschreckende Weise deutlich wurde. Der Wahn der Vernunft gebar die vom Nazi-Staat geplante Endlösung, er gebar die verbrecherischen Enthauptungen, die der islamische Staat an all denen verübte, die sich nicht von seiner Interpretation des Koran überzeugen ließen.
Die Wiedergewinnung der Vernunft des Herzens ist nicht bloß eine Aufgabe des Einzelnen, sondern eine kollektive Herausforderung. Es geht um ein neues Paradigma der Zivilisation, das mit der positiven Seite der Rationalität eine Verbindung eingehen muss, ohne die wir keine Ordnung in die Komplexität der Welt bringen könnten.
Eine vom Gewissen durchdrungene, achtsame und allem, was existiert und lebt, gegenüber empfindsame Wissenschaft ist die Voraussetzung für die Erhaltung der Lebenskraft des Planeten Erde. Andernfalls könnte er ohne uns fortbestehen.
Der Mensch – ein Knotenpunkt von Beziehungen
Im Jahr 1945 schrieb Karl Marx seine berühmten Thesen über Feuerbach, die allerdings erst im Jahr 1888 von Friedrich Engels veröffentlicht wurden. Die sechste von insgesamt elf Thesen enthält eine wahre Aussage, wenn auch in verkürzter Weise: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx 2015, 133) Tatsächlich kann man das Wesen des Menschen nicht ohne seine gesellschaftlichen Beziehungen adäquat denken. Doch es ist viel mehr als dies, denn es geht aus der Gesamtheit seiner umfassenden Bezüge hervor.
Auf der rein beschreibenden Ebene können wir, ohne eine Definition des Wesens des Menschen zu versuchen, feststellen: Es tritt als ein Knoten von Beziehungen in Erscheinung, die in alle Richtungen weisen: nach unten, nach oben, nach innen und nach außen. Es ist wie ein Wurzelstock, dessen einzelne Wurzeln sich nach allen Richtungen hin ausbreiten. Der Mensch bildet sich selbst in dem Maße heraus, in dem er diesen Komplex von Beziehungen, und nicht allein die gesellschaftlichen, aktiviert.
Mit anderen Worten: Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er als grenzenlose Offenheit in Erscheinung tritt. Offenheit für sich selbst, für die Welt, für den anderen und für die Gesamtheit der Wirklichkeit. Er spürt in sich einen unendlichen Herzschlag, auch wenn er nur Begrenztes vorfindet. Daher rührt seine stete Unerfülltheit und Unzufriedenheit.
Es geht hierbei nicht um ein psychologisches Problem, das ein Psychoanalytiker oder ein Psychiater heilen könnte. Es ist kein Defekt, sondern das ontologische Unterscheidungsmerkmal des Menschen.
Doch ausgehend von Marxens These können wir sagen, dass ein guter Teil der Herausbildung des Menschlichen tatsächlich innerhalb der Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir darüber nachdenken, welche Gesellschaftsform am ehesten die Bedingungen herstellt, dass sich der Mensch noch vollkommener in die unterschiedlichsten Bezüge hinein entfaltet.
Ohne jetzt die nötigen Vermittlungsschritte anzuführen, möchte ich direkt auf den Punkt kommen und behaupten, dass die beste Gesellschaftsform die Demokratie ist – eine gemeinschaftliche, soziale, repräsentative, partizipative Demokratie, die sich von unten nach oben aufbaut und alle ohne Ausnahme in sich integriert. Um mit dem berühmten portugiesischen Soziologen Boaventura de Souza Santos zu sprechen: Die Demokratie muss grenzenlos sein.
Wir haben es bei der Demokratie mit einem offenen, sich stets im Aufbau befindlichen Entwurf zu tun, der innerhalb der familiären Beziehungen, der Beziehungen in der Schule, in der Gemeinde, in den Vereinen, in den sozialen Bewegungen, in den Kirchengemeinden seinen Ausgang nimmt und schließlich in die Organisation des Staatswesens mündet.
Für mich sind es gleichsam vier „Tischbeine“, die eine echte Demokratie in ihren Mindestanforderungen tragen, wie es Herbert de Souza (Betinho)1 sein Leben lang betont hat und wie ich selbst es zusammen mit ihm anlässlich von Konferenzen und Diskussionsveranstaltungen unter den politisch Verantwortlichen und Vertretern von Volksbewegungen zu verbreiten versucht habe.
Das erste „Tischbein“ oder die erste tragende Säule ist die Partizipation (Teilhabe). Der mit Verstand begabte und freie Mensch möchte nicht einfach Nutznießer eines Prozesses sein, sondern Akteur und Teilnehmender. Er möchte das Brot nicht nur in Empfang nehmen. Er möchte dazu beitragen, dass es gebacken wird. Nur so wird er zum Subjekt und zum Bürger. Diese Teilhabe muss von unten ihren Ausgang nehmen, um niemanden auszuschließen.
Die zweite tragende Säule ist die Gleichheit. Wir leben in einer Welt der Ungleichheit in jeglicher Hinsicht. Ein jeder von uns ist einzigartig und anders. Doch die wachsende Teilhabe an allem verhindert, dass aus Unterschied Ungleichheit wird, und macht eine zunehmende Gleichheit möglich. Es geht um die Gleichheit aller vor dem Gesetz, um die Anerkennung der Würde einer jeden Person und um die Achtung ihrer Rechte. Diese grundlegende Gleichheit ist das tragende Fundament der sozialen Gerechtigkeit. Mit der Gleichheit geht das einher, was einem jeden angemessen ist und zukommt: der adäquate Anteil, den einer für seine Teilhabe am Aufbau des gesellschaftlichen Ganzen erhält.
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