Herzenssache. Leonardo Boff
Systems selbst, die den Wunsch zu haben forciert und sich nicht mehr um das Sein und die zivilisatorischen Werte, um Liebenswürdigkeit, um einen guten Umgang und Respekt einem jeden Menschen gegenüber schert.
Ganz im Gegenteil: Die Medien fördern das individuelle Begehren und die Gewalt als Lösung menschlicher Konflikte. Die Globalisierung als ein Phänomen der Menschheit und eine neue Phase der Erdgeschichte sollten uns dazu verpflichten, die persönlichen Wünsche zugunsten der kollektiven Wünsche zu mäßigen und auf diese Weise das menschliche Zusammenleben in unterschiedlichen Kulturen und Traditionen stärker ins Gleichgewicht zu bringen und freundschaftlicher zu gestalten.
„Konvivialität“ und die Zukunft der Menschheit
Der Begriff „Konvivialität“ wurde von Ivan Illich (1926–2002) geprägt und verbreitet (vgl. Illich 2014). Er war einer der großen prophetischen Denker des 20. Jahrhunderts. Der geborene Wiener arbeitete mit Latinos in den USA und später in der brasilianischen Stadt Petrópolis und in Mexiko. Er wurde berühmt, als er das herrschende Paradigma der herkömmlichen Schulmedizin infrage stellte. Mithilfe des Begriffs der Konvivialität wollte er zwei Krisen bewältigen helfen: die des Industrialisierungsprozesses und die ökologische Krise.
Der Industrialisierungsprozess bewirkt, dass sich die Herrschaft des Menschen über das Werkzeug umkehrt zur Herrschaft des Werkzeugs über den Menschen. Die technischen Werkzeuge wurden geschaffen, um den Sklaven zu ersetzen, haben aber schließlich den der Massenproduktion und dem Massenkonsum unterworfenen Menschen versklavt.
Die industrielle Produktion ließ eine Gesellschaft voller Apparate, aber ohne Seele entstehen. Die herrschende industrielle Revolution geht keine Verbindung mit der Fantasie und Kreativität der Arbeiter ein. Sie „liebt“ sie nicht. Sie will sie lediglich als – körperliche oder geistige – Arbeitskraft benutzen. Wenn sie die Kreativität anspornt, dann lediglich, um die Qualität des Produktes als ganzes zu steigern und dem Unternehmen noch mehr Profit zu verschaffen.
Viele Unternehmer jedoch wurden sich dieser Verzerrung bewusst und erkannten das Maß an Unmenschlichkeit der Industriegesellschaft. Sie nahmen ihre Verantwortung für die Gesellschaft und die Umwelt, die Bedeutung der Subjektivität und die Pflege von nichtmateriellen Werten (Solidarität, Respekt, Freundschaft) in ihre Unternehmensplanung auf. Die kooperativen Beziehungen zwischen allen Beteiligten, Unternehmern und Arbeitern gleichermaßen, erlangten allmählich die Oberhand über die reine Konkurrenz und Kapitalakkumulation.
Was versteht man unter Konvivialität? Das Wort ist in einem normalen Wörterbuch nicht zu finden. Man meint damit die Fähigkeit, die Dimensionen von Produktion und Achtsamkeit, Effektivität und Mitleid, Gestaltung der Produkte und Kreativität, Freiheit und Fantasie, eines vielfachen Gleichgewichts und gesellschaftlicher Komplexität zusammenwirken zu lassen – all dies, um den Sinn der allseitigen Zugehörigkeit zu stärken.
Der technische Wert der materiellen Produktion muss Hand in Hand gehen mit dem ethischen Wert der sozialen und spirituellen Produktion. Nachdem wir die Ökonomie der materiellen Güter geschaffen haben, ist es dringend an der Zeit, die Ökonomie der menschlichen Werte zu entwickeln. Ist etwa das große, unendliche und unerschöpfliche Kapital nicht der Mensch, das spirituelle Kapital, da er doch ein unendlicher Entwurf ist?
Die menschlichen Werte der Liebe, der Empfindsamkeit, der Achtsamkeit, der Tischgemeinschaft und der Ehrfurcht können der Gier der Macht und Herrschaft Grenzen setzen sowie den Kreislauf von Ausbeutung, Produktion und Akkumulation unterbrechen.
Die Konvivialität will auch eine angemessene Antwort auf die ökologische Krise sein, die aus dem Industrialisierungsprozess der letzten vierhundert Jahre hervorgegangen ist. Der Prozess des Raubbaus an den Gütern und Gaben der Natur kann eine dramatische Verwüstung des Systems Erde und aller dieses stützenden organischen Subsysteme, einen echten planetarischen crash, hervorrufen.
Ein solches Szenario ist nicht unwahrscheinlich. Es ist schon in der Vergangenheit eingetreten, und zwar mit dem Börsencrash an der Wallstreet im Jahr 1929. Damals war dies nur eine Teilkrise des kapitalistischen Systems und betraf nicht die physischen Grenzen des Planeten. Nun aber geht es um die Krise des globalen Systems.
Sicherlich bestünde die erste Reaktion des herrschenden Systems im Kontext eines allgemeinen Bruchs darin, die Kontrolle über den Planeten zu verstärken und durch massiven Gewaltgebrauch die Aufrechterhaltung der herrschenden wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Ordnung zu sichern. Ein solches Vorgehen würde die Krise nicht entschärfen, sondern durch das Wachstum von Arbeitslosigkeit und die Unwirksamkeit fiskalischer Anpassung noch vertiefen. Genau das erleben wir mit der Krise in den Ländern des Zentrums, die in allen Nationalökonomien ihren Widerhall findet.
Einige haben die Hypothese einer apokalyptischen Katastrophe aufgestellt. Doch eine solche stellt sich nicht zwangsläufig ein. Es kommt darauf an, die Chance auf einen konvivialen Gebrauch der technischen Hilfsmittel im Dienst der Erhaltung des Lebens, des Wohlbefindens der Menschheit und der Rettung unserer Zivilisation zu wahren.
Diese neue Stufe der Zivilisation wird vielleicht einen düsteren Karfreitag durchmachen, der die Diktatur des Kreislaufs Lebensstil, Arbeit, Produktion und Material in den Abgrund stürzt, um einen Ostersonntag zu ermöglichen: den Wiederaufbau der Weltgesellschaft auf der Basis von Achtsamkeit und echter Nachhaltigkeit.
Der erste Absatz des neuen Sozialpakts zwischen den Völkern wird das heilige Prinzip der Selbstbegrenzung und des rechten Maßes sein. Darauf folgen dann die im Wesen des Menschen verankerte Achtsamkeit allem gegenüber, was existiert und lebt, die Liebenswürdigkeit den Menschen gegenüber und die Ehrfurcht vor der Mutter Erde.
Dann wird der Mensch endlich erlernt haben, die technischen Instrumente als Mittel zu gebrauchen und nicht als Selbstzweck zu etablieren. Er wird es gelernt haben, mit allen Seinsformen zusammenzuleben und sie mit Ehrfurcht und Respekt zu behandeln.
Wäre dies nicht erst der eigentliche Beginn des neuen, so sehr ersehnten Jahrtausends, der noch aussteht?
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