Herzenssache. Leonardo Boff
Mensch (Mann und Frau) sind unterschiedlich. Dies muss als die äußere Erscheinung der je eigenen Möglichkeiten von Einzelnen, Gruppen und Kulturen akzeptiert und respektiert werden. Die Unterschiede sind es, die uns offenbar machen, dass wir in vielfacher Weise Mensch sein können und dass eine jede dieser Formen eben menschlich ist und deshalb Respekt und Akzeptanz verdient. Wir können Mensch sein auf afrikanische Art, auf japanische, chinesische Art, auf die Art der Yanomami-Indianer und auf Brasilianisch: ganz unterschiedlich, aber in gleicher Würde.
Die vierte Säule ist die Gemeinschaft: Der Mensch verfügt über Subjektivität, über die Fähigkeit zur Kommunikation mit seinem inneren Selbst und der Subjektivität der anderen. Er ist das Subjekt von Werten wie Solidarität, Mitleid, Verteidigung der Wehrlosesten und Dialog mit der Natur sowie mit dem Göttlichen. Hier scheint die Spiritualität als jene Dimension des Bewusstseins auf, die bewirkt, dass wir uns selbst als Teil eines Ganzen und als jene Gesamtheit unveräußerlicher Werte empfinden, die unserem persönlichen und gesellschaftlichen Leben sowie dem Universum insgesamt Sinn verleihen.
Diese vier „Tischbeine“ gehören stets zusammen und halten so den Tisch im Gleichgewicht, das heißt, sie bilden die tragende Grundlage einer echten Demokratie. Sie erzieht uns dazu, Mitgestalter am Aufbau des Gemeinwohls zu sein; in ihrem Namen lernen wir, unsere individuellen Wünsche hintanzustellen zugunsten der Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse.
Diesen Tisch mit vier Beinen gäbe es nicht, wenn er nicht fest auf dem Erdboden stünde. Deshalb wäre auch die Demokratie nicht vollständig, wenn sie nicht die Natur mit einschließt, die alles erst möglich macht. Sie liefert die physikalische, chemische und ökologische Grundlage, die das Leben und jeden Einzelnen von uns trägt.
Alle Seinsformen sind aufgrund der Tatsache, dass sie einen Wert in sich, unabhängig von ihrem Nutzen für uns, besitzen, Träger von Rechten. Sie verdienen es, weiter zu existieren, und an uns ist es, sie zu respektieren und als unsere Mitbewohner zu begreifen. Sie werden in eine gesellschaftlich-kosmische Demokratie ohne Grenzen mit integriert sein.
Der Mensch streckt sich in all diese Richtungen aus und verwirklicht sich so innerhalb der Geschichte und in seinem konkreten Leben im Lauf eines Prozesses, der keine Grenzen kennt.
1 Herbert José de Souza (1935–1997), liebevoll „Betinho“ genannt, war ein führender brasilianischer Soziologe, der sich an der Seite der Volksbewegungen engagierte und neben seiner theoretischen Arbeit Initiativen und Kampagnen zur Überwindung von Armut und Elend ins Leben rief. Betinho litt an der Bluterkrankheit (Hämophilie) und musste deshalb regelmäßig Bluttransfusionen erhalten. Durch eine verseuchte Blutkonserve infizierte er sich mit dem HIV-Virus. Bekannt wurde Betinho vor allem durch seine „Aktion der Bürger und Bürgerinnen gegen Hunger, Elend und für das Leben“. Ihr Zeichen war eine grüne Armbinde. Wer sich noch an die Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2002 erinnert (Brasilien besiegte Deutschland damals im Finale mit 2 : 0 Toren), der hat vielleicht auch noch in Erinnerung, dass auch die brasilianische Mannschaft die grüne Armbinde als Zeichen der Unterstützung dieser Kampagne trug (d. Übers.).
Was uns zu Menschen macht: Das Brot miteinander teilen
Der Übergang von den höheren Primaten zu uns Menschen ist geheimnisvoll und evolutionsgeschichtlich schwer zu rekonstruieren. Doch es gibt Hinweise darauf, dass sich vor sieben Millionen Jahren ausgehend von einem gemeinsamen Vorfahren langsam und schrittweise die Trennung zwischen höheren Affenarten und den Hominiden vollzogen hat.
Ethnobiologen und Archäologen weisen uns auf ein einzigartiges Faktum hin. Wenn unsere Vorfahren, die Anthropoiden, auszogen, um Früchte und Samen zu sammeln oder zu jagen und zu fischen, aßen sie nicht jeder für sich. Sie nahmen die Nahrungsmittel und brachten sie zur Gruppe, der sie angehörten. Und dort praktizierten sie Tischgemeinschaft, das heißt: Sie teilten die Lebensmittel miteinander und aßen sie in Gemeinschaft. Diese Tischgemeinschaft ermöglichte den Sprung vom Dasein als Tier in Richtung Menschsein. Dieser kleine Schritt macht schließlich einen entscheidenden Unterschied aus.
Was uns damals zu Menschen machte, das macht uns auch noch heute zu Menschen. Und wenn diese Tischgemeinschaft nicht vorhanden ist, dann werden wir inhuman, grausam und erbarmungslos. Ist dies nicht – Gott sei’s geklagt – genau die Situation der heutigen Menschheit? Auf der einen Seite gibt es wenige, die praktisch unbegrenzten Zugang zu jeglicher Art von Nahrung haben, und auf der anderen Seite fast eine Milliarde Menschen, die hungern.
Ein produktives Element der Menschheit, das eng mit der Tischgemeinschaft verknüpft ist, ist die Kochkunst, das heißt die Zubereitung der Nahrungsmittel. Dies beschrieb sehr schön der berühmte Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der auch lange Zeit in Brasilien gearbeitet hat. In seinem Buch Das Rohe und das Gekochte zeigt er, dass das Kochen eine wahrhaft universale menschliche Aktivität ist. So wie es keine Gesellschaft ohne Sprache gibt, so gibt es auch keine Gesellschaft, die nicht wenigstens einige ihrer Nahrungsmittel kocht. Die Küche „bezeichnet nicht nur den Übergang von der Natur zur Kultur: Mittels ihrer und durch sie hindurch definiert sich das menschliche Dasein mit all seinen Eigenschaften, sogar solchen, die – wie die Sterblichkeit – am unbestreitbarsten natürlich scheinen könnten“ (Lévi-Strauss 1971, 217).
Vor 500.000 Jahren lernte der Mensch, Feuer zu machen und es zu beherrschen. Und er begann, die Speisen zu kochen. Das „Herdfeuer“ unterscheidet den Menschen von anderen hoch entwickelten Säugetieren. Der Übergang vom Rohen zum Gekochten wird als einer der Faktoren des Übergangs vom Tier zum zivilisierten Menschen betrachtet. Mit dem Feuer entstand die für jedes Volk, jede Kultur und jede Region typische Kochkunst.
Es ging dabei niemals nur darum, die Speisen einfach zu kochen, sondern vielmehr darum, ihnen Geschmack zu verleihen. Die verschiedenen „Küchen“ lassen kulturelle Bräuche entstehen, die bei uns oftmals mit bestimmten Festen verbunden sind. Das gilt für den Truthahn zu Weihnachten (in Deutschland eher die Weihnachtsgans), die Schokoladeeier zu Ostern, das Schweinefleisch zu Neujahr, den gebratenen Mais zum Johannisfest usw.
Sich ernähren ist niemals nur ein individueller biologischer Mechanismus. Miteinander essen heißt mit denen kommunizieren, die mit uns essen. Es heißt, mit den kosmischen Kräften in Kontakt treten, die Voraussetzung für die Nahrungsmittel sind, insbesondere mit der Fruchtbarkeit der Erde, mit der Sonne, den Wäldern, dem Wasser und dem Wind.
Aufgrund dieses numinosen Charakters, der dem Essen, dem Verzehren und dem Kommunizieren eignet, ist jede Art von Tischgemeinschaft in gewisser Weise sakramental. Wir geben den Speisen ein ansprechendes Aussehen, denn wir essen nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen.
Die Essenszeit gehört zu den ersehntesten Momenten des Tages. Instinktiv wissen wir darum, dass es ohne Essen kein Leben und Überleben und damit keine Freude am Leben und am Zusammenleben gäbe. Aus dem Sammeln von Früchten in der Natur entwickelte sich der Ackerbau, der die Kultivierung von Samen und Pflanzen zur Voraussetzung hat. Damit einher ging die Domestizierung des Viehs, angefangen mit Geflügel und Ziegen.
Vor etwa zehn- bis zwölftausend Jahren fand die vielleicht größte Revolution innerhalb der Menschheitsgeschichte statt. Die Menschen, die bis dahin Nomaden gewesen waren, wurden sesshaft. Sie gründeten die ersten Siedlungen (12.000 v. Chr.), erfanden den Ackerbau (9000 v. Chr.) und begannen mit der Viehzucht (8500 v. Chr.). Es bildete sich ein höchst komplexer zivilisatorischer Prozess heraus, im Verlauf dessen mehrere radikale Umwälzungen aufeinander folgten: die industrielle Revolution, das Nuklearzeitalter, die Kybernetik, die Nanotechnologie, das Informationszeitalter usw. bis in die jüngste Gegenwart.
Zunächst züchtete man wilde Pflanzen und Getreidesorten. Eine entscheidende Rolle spielten dabei vielleicht die Frauen, die die Rhythmen der Natur aufmerksamer beachten. Alles scheint im Mittleren Osten, im Gebiet zwischen den beiden Flüssen Euphrat und Tigris, und im Industal seinen Anfang genommen zu haben. Dort wurden Weizen, Gerste, Linsen, Bohnen und Erbsen gezüchtet. In Lateinamerika waren es der Mais, die Avocados, die Tomaten, Maniok und die Bohnen, im Osten baute man Reis und Hirse an. In Afrika kannte man den Mais und Sorghum.
Später, etwa um 8500 v. Chr., begann man, bestimmte Tiere zu halten, zunächst Ziegen und Schafe, dann Rinder und Schweine.