Einige meiner besten Freunde und Feinde. Klaus Bittermann
Der 1997 verstorbene Historiker und Journalist Eike Geisel gehörte zusammen mit Wolfgang Pohrt, Henryk M. Broder, Lothar Baier und Christian Schultz-Gerstein einer Generation von Kritikern an, die sich seit den siebziger Jahren radikal, scharfsinnig und originell mit dem ideologischen, politischen und kulturellen Zeitgeist auseinandersetzten, ohne einer institutionalisierten Opposition oder Gruppe anzugehören. Als Achtundsechziger hatte Geisel sein Denken wie viele andere an Adorno und Horkheimer geschult, im Unterschied zu vielen anderen aber auch an Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« und an ihrem Eichmann-Buch. In einer Zeit, als die Literatur über den Nationalsozialismus noch sehr spärlich war, beschäftigte er sich u.a. mit H.G. Adlers Theresienstadt-Studie, las Eugen Kogons Standardwerk »Der SS-Staat« und Jean Améry, dessen rhetorische Vortragskunst er bewunderte.
Er promovierte über »Marx und die nationale Frage«, arbeitete zwischen 1973 und 1975 am Otto-Suhr-Institut, bevor er anschließend (von 1975 bis 1981) zusammen mit Wolfgang Pohrt als Dozent an der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg lehrte, wo er u.a. Seminare über die Aktualität des Faschismus und über Marx abhielt. In dieser Zeit lernte er die kommunistische Jüdin, Partisanenkämpferin und KZ-Überlebende Hanna Lévy-Hass kennen und überredete sie, ihre Tagebücher »Vielleicht war das alles erst der Anfang« im Rotbuch Verlag (1979) zu veröffentlichen, denen ein langes Gespräch mit der Autorin beigefügt war.
1981 erschien das von ihm herausgegebene Buch »Im Scheunenviertel«, ein Bildband mit einem großen Essay, Fotos, zeitgenössischen Texten und Dokumenten über die während der Kriegs- und Revolutionswirren nach Berlin geflüchteten Ostjuden, ein Buch, das zahlreiche Auflagen erlebte. Weil die DDR in den 35 Jahren nach Kriegsende wenig getan hatte, um diese verrufene Gegend zu sanieren (was dem Westen innerhalb weniger Jahre dann vollständig gelang), erinnerten alte Reklameschriften an Wänden, Einschusslöcher und Elendsbehausungen noch rudimentär an den Krieg und das Leben armer Juden, das da einmal auf engstem Raum stattgefunden hatte.
Anfang der Achtziger lernte er auch Henryk Broder kennen, der sich schon seit den siebziger Jahren mit dem Antisemitismus in der Linken auseinandersetzte und mit linker Prominenz und Zeitschriften wie Emma und Konkret im Clinch lag, u.a. deshalb, weil Emma-Redakteurin Ingrid Strobl Israel das Existenzrecht absprach und Alice Schwarzer einer Angestellten Kontaktverbot zum »militanten Juden« Broder erteilte. Immerhin ein Vorfall, der zur Planung einer kleinen Anthologie über das Verhältnis der Linken zum Antisemitismus führte, die dann allerdings nicht zustande kam.
Mit Broder verband Geisel eine enge Freundschaft. Gemeinsam suchten sie in den USA und Israel Überlebende des Jüdischen Kulturbunds auf, sammelten Dokumente und drehten den Film »Es waren wirklich Sternstunden«, der 1988 ausgestrahlt wurde. Geisel erstellte das Konzept für eine dann 1992 an der Akademie der Künste gezeigten großen Ausstellung mit einem umfangreichen Katalog (»Geschlossene Vorstellung«). Zudem erschien im gleichen Jahr ein Buch von ihm und Broder zu diesem Thema mit dem Titel »Premiere und Pogrom«.
Broder beteiligte sich da allerdings nur noch sporadisch an der historischen Forschung, denn mit der am 2. August 1990 beginnenden Annektierung Kuweits durch Saddam Hussein und der Intervention der USA und ihrer Verbündeten am 16. Januar 1991 begann in Deutschland eine heftig geführte Debatte, in die beide leidenschaftlich involviert waren. In der Textsammlung »Liebesgrüße aus Bagdad. Die ›edlen Seelen‹ der Friedensbewegung und der Krieg am Golf« spotteten sie über die wieder von den Toten auferstandenen Pazifisten, die weiße Laken als Zeichen der Kapitulation aus dem Fenster hängten, und polemisierten gegen Leute wie Rudolf Augstein, Alice Schwarzer und Christian Ströbele, die dem vom Irak durch Raketenbeschuss bedrohten Israel eine gewisse Mitschuld am Krieg gaben. Sie mieteten eine große elektronische Werbetafel an der Ecke Joachimsthalerstraße und Kurfürstendamm gegenüber vom Café Kranzler, auf der dann zu lesen war: »An die deutsche Friedensbewegung: Vielen Dank für die moralische Nachrüstung. Ihr Saddam Hussein.«
Danach setzte die Debatte um die Stasi ein, die für Broder allerdings eine andere Bedeutung hatte als für Geisel. Er sah in der kollabierten DDR nicht so sehr den mit dem Nationalsozialismus vergleichbaren Unrechtsstaat, sondern eine kommode und lächerliche Diktatur, mit der sich die Bevölkerung arrangiert hatte, bis die Verlockungen des Westens in Form von Beate Uhse und Bananen und weniger von Freiheit sie überlaufen ließen. In der öffentlichen Diskussion über die Stasi erkannte er das Bedürfnis der Deutschen, die nicht stattgefundene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach 1945 nachzuholen, um sich ein gutes Gewissen zu machen. Die Outings von ehemaligen Stasimitarbeitern fand er nicht weniger erbärmlich als die »Schwerter-zu-Pflugscharen«-Pazifisten, die sich als Fundamentalopposition stilisierten, lächerlich. Empörend fand er die Jagd auf Ausländer im Osten, die schließlich im Pogrom in Lichtenhagen kulminierte, und über die Rechtsradikalen, die es zusammen mit dem Mob phasenweise schafften, »national befreite Zonen« einzurichten, in die sich keine Bürger anderer Staaten mehr trauten. Als er 1992 zu einem Vortrag in die Vereinigten Staaten reiste, schrieb er mir: »Es wird höchste Zeit, dass ich abhaue, ehe alle Brüder und Schwestern aus der Zone kommen. Die Wiedervereinigung sehe ich mir gerne aus 6000 km Entfernung an.«
Der 1945 geborene Eike Geisel passte nicht in das Bild, das sich die Öffentlichkeit von den Achtundsechzigern machte, die zu Beginn der Neunziger angeblich überall in der Gesellschaft den Ton angaben. Eike Geisel hatte sich nicht auf den langen Marsch durch die Institutionen begeben, um eine Beamtenstelle mit Pensionsanspruch zu ergattern. Zwar hatte er gegen eine solche nichts einzuwenden, aber er besaß weder die Geduld noch die Zähigkeit, eine Karriere einzuschlagen, bei welcher der Erfolg durch Verbitterung erkauft wird. Dass es andere taten, warf er ihnen nicht vor, er mochte sich bloß nicht damit abfinden, dass mit der Karriere der ehemaligen Genossen in der Bundesrepublik der freiwillige Verzicht auf Kritik an ihr einherging. Aus erklärter Feindschaft gegen den Staat wurde die Sorge um sein Ansehen in der Welt, mit dem Effekt, dass die Umstürzler von einst sich zum Objekt ihrer Fixierung nunmehr wie Kosmetikberater verhielten. Sie traten den Beweis für die These an, dass das Einverständnis mit dieser Gesellschaft nur um den Preis der eigenen vorzeitigen Verblödung möglich ist.
Die Intellektuellen verhielten sich schon vor der Wiedervereinigung als ihrem nationalen Erweckungserlebnis so, als wollten sie beweisen, dass Adorno dreißig Jahre nach seinem Befund noch aktuell war:
»Der Glaube an die Nation«, hatte Adorno 1960 geschrieben, »ist mehr als jedes andere pathische Vorurteil die Meinung als Verhängnis; die Hypostasis dessen, wozu man nun einmal gehört, wo man nun einmal steht, als des Guten und Überlegenen schlechthin. Er bläht die abscheuliche Notstandsweisheit, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, zur moralischen Maxime auf. Gesundes Nationalgefühl vom pathischen Nationalismus zu scheiden, ist so ideologisch wie der Glaube an die normale Meinung gegenüber der pathogenen; unaufhaltsam ist die Dynamik des angeblich gesunden Nationalgefühls zum überwertigen, weil die Unwahrheit in der Identifikation der Person mit dem irrationalen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die Person zufällig sich findet.«
Zwar ließ sich gegen die Rauner des Nationalen und der Wiedervereinigung mit Polemik wenig ausrichten, aber es bereitete Eike Geisel dennoch großes Vergnügen, die als »Identitätssuche« veredelte Anbiederei bloßzustellen, um zu demonstrieren, wie überaus eifrig die Intellektuellen ihren eigenen Bankrott bewerkstelligten. Vor allem, wenn ihre unheilbare Liebe für den Befreiungskampf des palästinensischen und irakischen Volkes entflammte und sie sich als Nationalisten und Antisemiten entpuppten, befanden sie sich in einer Tradition, die ihrer Überzeugung nach schon lange vorüber war, derzufolge die Vergangenheit verarbeitet sei und die Deutschen aufgeklärt und liberal wie nie. Die Deutschen aber zeigten sich »resistent gegen jede Aufklärung über die eigene Vergangenheit«.
In den achtziger Jahren fing dann das Geschäft mit der Erinnerung zu boomen an, eine »unspezifische Erinnerungswut« (Clemens Nachtmann) setzte ein, aber die hatte nur wenig mit Einsicht zu tun.
»Verordnete Aufklärung«, schrieb Eike Geisel, »ist so unsinnig wie die komplementäre Bereitschaft, an ihr wie durch massenhafte Verabredung organisiert teilzuhaben. Dass die Deutschen mit der nämlichen Betriebsamkeit, die sie einst beim Vernichten und dann beim Vergessen an den Tag gelegt