GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass

GEWALT, GIER UND GNADE - Jakob Sass


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In den Tagen danach trieben SA- und SS-Männer etwa 30.000 Juden aller Altersgruppen und sozialer Schichten in den Städten und auf dem Land vor den Augen der Nachbarn zusammen und deportierten die meisten von ihnen in eines der drei großen Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald. Die Situation der Lager veränderte sich dramatisch: Die Häftlingszahlen verdoppelten sich und plötzlich stellten die Juden die Mehrheit der Häftlinge. Die Konzentrationslager „wurden größer und tödlicher denn je zuvor und zugleich schweißten die Diebstähle und Gewalttaten die Lager-SS noch enger zusammen“, schreibt der Historiker Nikolaus Wachsmann.210

      Beinahe alle jüdischen Bürger Hachenburgs verließen die Stadt in den Monaten nach den Ausschreitungen, bis die jüdische Gemeinde am 30. September 1939 nur noch zwei Mitglieder zählte.211 Bis dahin hatte auch etwa die Hälfte der etwa 500.000 in Deutschland lebenden Juden ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Die Übriggebliebenen saßen in der Falle. Das von Hitler und Goebbels angezettelte Novemberpogrom 1938 hatte zwar gezeigt, dass man ähnlich effektiv wie in Österreich auch in Deutschland Tausende Juden enteignen, terrorisieren und ins Ausland vergraulen konnte. Es hatte aber auch gezeigt, dass die deutsche Bevölkerung die Gewaltexzesse nicht so umfassend und wohlwollend aufnahm, wie es sich die NS-Führung gewünscht hatte. Hitlers Organisatoren der Judenverfolgung – Reichsführer-SS Himmler, Gestapo-Chef Reinhard Heydrich und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring – schlossen daraus, dass Pogrome innerhalb des Reichs ein Fehler seien, schreibt der Historiker Timothy Snyder. „Sie sollten schon bald ganz ähnliche Pogrome wie Goebbels organisieren, aber eben außerhalb Deutschlands, unter Kriegsbedingungen und an Orten, wo deutsche Gewalt den Staat völlig zerschlagen hatte.“212

      3. Der Schutzhaftlagerführer

      KZ-Dienst auf Probe in Sachsenhausen

      1940

      Oranienburg bei Berlin

      „Lieber Kamerad Haas!“, schrieb am 2. Oktober 1939 der „Kreiskriegerführer“ aus Hattert, einer Nachbargemeinde von Hachenburg.213 Es ging um die Aufnahme eines Steinbrucharbeiters aus Dehlingen im Oberwesterwald in die SS. Er sei „zwar schon etwas verbraucht“, hatte der SS-Truppenarzt befunden, „aber noch genügend leistungsfähig zum Wachdienst“ in einem Konzentrationslager.214 Westerwälder Bürger genau für diese Aufgabe zu rekrutieren und vorzubereiten, schien die Hauptaufgabe von Adolf Haas gewesen zu sein, seitdem er tatkräftig beim Novemberpogrom 1938 mitgewirkt hatte. Einen Monat nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 war der „Kreiskriegerführer“ allerdings „der guten Hoffnung, dass wir die Kameraden nicht mehr brauchen werden, denn nach den Ereignissen der letzten Tage wird es wohl den Herrn Engländern etwas enger in der Hose werden. Diese Woche werden wir ja Klarheit bekommen. Heil Hitler!“ Gerade einmal einen Monat nach Beginn des Zweiten Weltkrieges kapitulierten die restlichen Verbände der polnischen Armee am 6. Oktober 1939, ohne dass es zu einem Unterstützungsangriff seiner Verbündeten Großbritannien und Frankreich gekommen war. Insoweit behielt der „Kreiskriegerführer“ recht. Den SS-Anwärter aus Dehlingen und viele weitere SS-Männer brauchte man dennoch für den KZ-Wachdienst.

      Für Adolf Hitler war Polen nur die eine Front, die andere war die Heimatfront. Sein Mann für den Kampf gegen die inneren Feinde war Heinrich Himmler. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges bot für den Reichsführer-SS die willkommene Chance, mit dem Ausbau des Terrorapparats im Reich und militärischer SS-Einheiten an der Front auch seine eigene Macht auszubauen. Bürokratisches Zentrum der Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung wurde das neu gegründete Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das auf die bestehenden, bewährten Institutionen zurückgreifen konnte, die wahren Orte des Terrors.215

      In weniger als einem Jahr verdoppelte sich die Zahl der KZ-Häftlinge auf etwa 53.000: Zu den deutschen und österreichischen Häftlingen, darunter Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, „arbeitsscheue Personen“, Sinti und Roma, Kriminelle, Homosexuelle und weibliche Prostituierte, kamen unter anderem Tausende Polen, Tschechen und politische Gefangene aus dem Spanienkrieg und dem Frankreichfeldzug 1940. Mit der Zahl der Häftlinge wuchs auch das Lager-Netzwerk, von sechs Hauptlagern im Herbst 1939 auf dreizehn Anfang 1942. Bis zum Ende des Krieges richtete die SS insgesamt 27 Hauptlager und rund 1100 angeschlossene Außenlager ein – ein unübersichtliches System gesetzloser Gewalt und Zwangsarbeit. Obwohl Himmler im November 1938 dieses Ausmaß nicht vorhersehen konnte, hatte er doch lange im Vorfeld des Krieges Vorbereitungen treffen lassen. Denn für mehr Häftlinge brauchte er auch mehr Wachen.216

      Für die Bewachung und Verwaltung der Konzentrationslager waren die SS-Totenkopfverbände zuständig, für die der Sturmbannführer Adolf Haas 1938 und 1939 so fleißig unter dem Deckmantel der „Polizeiverstärkung“ geworben hatte. Die Wachmänner hatten aber auch in den Lagern lange für den Kampfeinsatz trainiert. Für ihren Reichsführer-SS waren sie keineswegs bloße Gefängniswärter, sondern „politische Soldaten“. Himmler, der seine eigene fehlende Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg immer bereut hatte, konnte sich mit dem neuen Krieg seinen lang ersehnten Wunsch erfüllen: Hitler machte ihn zum Befehlshaber seiner eigenen, von der Wehrmacht unabhängigen militärischen Verbände, bald „Waffen-SS“ genannt. Der Fronteinsatz sollte seine SS als „Eliteorganisation“ stärken: „Würden wir kein Blutopfer bringen und würden wir nicht an der Front kämpfen, hätten wir die moralische Verpflichtung verloren, in der Heimat auf Menschen, die sich drücken und feige sind, zu schießen.“217 Gerade die SS-Wachen der Totenkopfverbände, später zusammengefasst in der SS-Totenkopf-Division, gehörten zu den rücksichtslosesten Mördern im besetzten Polen. Ihre Posten in den Konzentrationslagern mussten nun schnell neu besetzt werden. Um die Ablösung von Tausenden Wachen zu bewältigen, brauchte man auch Sturmbannführer Adolf Haas.

      „Lieber Kamerad Haas!“, schrieb der „Kreiskriegerführer“ aus Hattert erneut vier Tage nach dem Ende des Polenfeldzugs. „Anbei noch ein Kamerad, der bereit ist, sich als Wachmann zur Verfügung zu stellen. Jetzt haben wir wohl unsere Zahl voll.“ Er hoffte trotzdem auf weitere Meldungen für eine „Reserve, wenn der eine oder andere mit der Zeit ausfallen sollte“.218 Und es fielen eine Menge Ersatzleute aus. Viele, vor allem ältere, hielten den Druck im KZ-Dienst nicht aus oder wurden wegen menschlicher Regungen von den Lager-Veteranen schikaniert.219 Am 30. November 1939 beschwerte sich der Führer der 78. SS-Standarte, es komme immer häufiger vor, dass „Männer eingezogen werden, die vollkommen dienstuntauglich sind. Teilweise haben diese Männer Leiden, bezw. Gebrechen, die sogar für jeden Laien ohne weiteres klar erkennbar sind“.220 Adolf Haas und die zwei Führer der anderen Sturmbanne sollten ja darauf achten, dass die „einberufenen Männer voll einsatzfähig sind“. Die gleiche Ermahnung ging einen Tag später noch einmal direkt an den Hachenburger. Einer von Haas‘ Männern im niedrigen Rang eines SS-Sturmmanns hatte sich im KZ Buchenwald für „dienstuntauglich“ erwiesen und sollte umgehend ersetzt werden.221

      So wie es Himmler bereits 1938 bestimmt hatte, sollten mit Kriegsbeginn vor allem ältere und kriegsuntaugliche, in der Regel über 45-jährige Angehörige der Allgemeinen SS den KZ-Wachdienst übernehmen.222 Das traf auch auf Adolf Haas‘ Sturmbann zu: Einer Liste von 1946 zufolge wurden alle des Jahrgangs 1894 oder älter „kommandiert zur KZ-Bewachung“.223 Darunter waren auch jener SS-Anwärter aus Dehlingen, dessen Bewerbung kurz nach Kriegsbeginn bei Haas eingegangen war, und der SS-Sturmbannführer selbst. Beide waren gleich alt und auf beide passte die Bezeichnung „schon etwas verbraucht“, aber noch „leistungsfähig“. Als langjähriger Führer eines Sturmbannes stand Adolf Haas eine verantwortungsvolle Position in der Waffen-SS zu – allerdings nicht im militärisch-strategischen Sinne. Dafür war sein Rang dann doch zu niedrig und seine Kampferfahrung dank seiner langen Kriegsgefangenschaft zu gering. Sein „Durchschnitt“, der ihm auf dem Führerlehrgang in Dachau bescheinigt worden war, reichte dagegen voll aus für den Dienst im Konzentrationslager. Dort waren weniger Intelligenz als vielmehr Gewaltbereitschaft, Skrupellosigkeit und Gehorsam gefragt.

      Am 20. Februar 1940 kommandierte das SS-Personalhauptamt den SS-Sturmbannführer Adolf Haas „zur probeweisen Dienstleistung“ zur Inspektion der Konzentrationslager (IKL),


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