GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass
Bereits 1935, als Haas hauptamtlicher Führer wurde, hatte der SS-Oberabschnitt Rhein gemahnt: „Führer sein heisst Vorbild sein! Lehren bedingt eigenes Können.“159
Neben militärischen und wehrsportlichen Übungen stand vor allem die „weltanschauliche Schulung“ im Mittelpunkt der SS-eigenen Aus- und Fortbildung. „Sie durfte im Dienst keiner Einheit fehlen“, schreibt der Historiker Hans-Christian Harten.160 Später, während des Krieges, sei die SS-Ideologie der Kitt gewesen, der die verschiedenen Teile der SS zusammenhielt und aus ihr einen Bund der Täter formte. Ein zentraler, umfangreicher Schul- und Ausbildungskomplex war seit 1933 im nahen Umfeld des Konzentrationslagers München-Dachau entstanden – Himmlers „Modelllager“ für das KZ-System, sowohl für den Lageraufbau und die grausame Behandlung von Häftlingen als auch für den Drill der Wärter.161 Passend dazu eröffnete die Allgemeine SS auf Himmlers Befehl ab 1937 die „SS-Führerschule Dachau für Führer von Sturmbannen und Standarten“.162 Damit verbunden war eine Professionalisierung der Führungskultur. Für den ersten Lehrgang im Oktober sollten die Führer der SS-Oberabschnitte aus ihren Reihen Führer vorschlagen und für jeden eine „eingehende Beurteilung“ abgeben.163 Plötzlich war Schluss mit den frisierten Beurteilungen für Adolf Haas, mit denen seine Vorgesetzten ihn so schnell hatten aufsteigen lassen. Am 4. Oktober 1937 relativierte der Führer der 78. SS-Standarte als Erster die bisherigen Urteile:
„SS-Sturmbannführer Haas ist als Führer eines Sturmbannes im allgemeinen geeignet. Es hat sich jedoch erwiesen, dass er in der Führung eines ländlichen Sturmbannes besser ist. Im Schriftwechsel sind seine Leistungen nicht immer ausreichend; hier bedarf er dringend der Unterstützung schriftgewandter Referenten. Seine Verwendung in höheren Stäben oder überhaupt höheren Dienststellen ist nicht gegeben. Bei den wachsenden Anforderungen, die an einen SS-Führer gestellt werden müssen, wird jedoch in späterer Zeit auch seine Belassung in der jetzigen Dienststellung in Frage gestellt sein. Sein Können liegt im besonderen in der Beherrschung der Kommando-Sprache sowie im Exerzierdienst; sein Auftreten führt leicht zu einer Überschätzung seiner Person und seines Könnens.“164
Eine vernichtende Einschätzung. Der Führer des SS-Oberabschnitts Rhein stimmte dieser zu, gab aber Adolf Haas eine Chance, sich zu bewähren.165 „Als ich in der Standartenpost einen Brief vorfand, ‚Absender RFSS‘ [Reichsführer-SS], war mein Gedanken, was ist denn jetzt wieder los?“, erinnerte sich Haas später. „Seinen Inhalt, den ich zwei bis dreimal durchgelesen hatte, machte mir so langsam klar, daß ich nach München-Dachau in einen Kursus mußte.“166 Am Sonntag, dem 10. Oktober 1937 kam er abends mit 29 anderen SS-Führern aus dem ganzen Reich in Dachau an. Er hatte ein „allgemeines Kasernenleben“ erwartet, „wie immer auf einem Lehrgang. Aber wir sollten uns sehr geteuscht haben. Denn wir fanden ein schönes neues Heim vor, wo wir uns sehr wohl fühlen konnten. Die Zimmer sehr sauber, alles neue Möbel. Wasser alles da. Und was ganz groß war, nur mit drei Mann belegt.“ Am nächsten Tag ging es los.
Die „FM-Zeitschrift. Monatsschrift der Reichsführung SS für fördernde Mitglieder“ informiert 1938 über die neu gegründete SS-Führerschule in Dachau.
Der Lehrplan sah sieben Unterrichtseinheiten vor, fünf davon waren „wehrsportlicher“ und militärischer Natur, die anderen beiden umfassten eine ideologische und verwaltungstechnische Weiterbildung: In der „Sportausbildung“ gab es nicht nur Übungen und Wettkämpfe, sondern auch Vorträge über deren „Wert und den Sinn“.167 Sturmbannführer Haas habe zwar Mut, sei aber „schwerfällig“, befanden die Lehrgangsleiter.168 Seine „körperliche Härte“ sei gerade einmal „befriedigend“ und auch seine „theoretischen Kenntnisse über Durchführung und Anlage von Sportübungen“ mangelhaft. Beim „Geländedienst“ sahen die Noten nicht besser aus: Seine bisherige Ausbildung stellte sich als durchschnittlich heraus. Nur „befriedigend“ konnte er das Gelände beurteilen und für Manöver ausnutzen, das „Entfernungsschätzen und Zurechtfinden“ bestand er gerade noch mit „genügend“, ebenso wurden seine theoretischen Kenntnisse zu den Wehrsportübungen eingeschätzt. Haas‘ Fähigkeiten lägen „im besonderen in der Beherrschung der Kommando-Sprache sowie im Exerzierdienst“, hatte der Führer der 78. SS-Standarte im Vorfeld des Lehrgangs geurteilt – doch auch das wurde hier revidiert. Zwar zeigte er sich beim „Einordnen in der Front“ durchaus „willig“. Die Kommandosprache und die Befehlswiedergabe beherrschte er aber wiederum nur „befriedigend“. Beim „Auftreten vor der Front“ zeigte er trotz seiner Fähigkeit, über seine Schwächen hinwegzutäuschen, „teilweise Mangel an Vertrauen zum eigenen vorhandenen Können“. Wie er sich beim „Schiessdienst“ mit Kleinkaliberwaffen und Pistole anstellte, notierten die Lehrgangsleiter nicht. Am Ende des Lehrgangs mussten sie sich aber wohl die Frage stellen, wie er mit diesen Fähigkeiten überhaupt zum SA-Sportabzeichen gekommen war. Jüngeren SS-Männern konnte es bei solchen Gelegenheiten wieder abgenommen werden. Haas, der während des Lehrgangs am 14. November 1937 seinen 44. Geburtstag feierte, durfte das einmal erworbene Abzeichen aus Altersgründen allerdings behalten.
Immerhin beim „Inneren Dienst“ konnte er ein wenig mit „praktische[n] Erfahrungen“ im Schriftverkehr glänzen, wenn auch „Form und Inhalt“ den Anforderungen nicht entsprachen. „Mangelhaft“ waren dagegen seine Kenntnisse im Disziplinarwesen. Unter einem Test, der ebenfalls mit „mangelhaft“ bewertet wurde, notierte sogar ein Prüfer: „Die schlechte Bearbeitung kann ihren Grund jedoch auch darin haben, dass Verfasser mit dem Schreiben offensichtlich auf Kriegsfuss steht.“169 Seine Rechtschreibung hatte sich seit der Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg, in der er angeregt, aber ohne Sorgfalt Tagebuch geschrieben hatte, noch weiter verschlechtert. Das zeigte sich vor allem im weltanschaulichen Unterricht.
Noch vor einem Jahr hatten Haas‘ Vorgesetzte geschrieben, er habe die nationalsozialistische Weltanschauung „sehr gut mit Herz und Verstand“ verinnerlicht – Haas‘ Leistungen in der letzten Unterrichtseinheit straften sie Lügen. Seine Vorkenntnisse entsprächen gerade einmal dem „Durchschnitt“ und es fehlen ihm „sichere Grundlagen“, sagten die Prüfer.170 Sie unterrichteten auf Anweisung Himmlers anhand der „SS-Leithefte“, sozusagen ein Wissens- und Unterhaltungsmagazin für den einfachen SS-Mann. Seit 1935 vermittelten die „Leithefte“ monatlich Propaganda zu verschiedenen Themen wie „Rassenhygiene“ und Freimaurerei, gaben aber auch Tipps für Feiern und Literatur zur Hand und unterhielten die Leser mit Kurzgeschichten von heldenhaften Frontsoldaten und Rubriken wie „Hier lacht der SS-Mann“.171
Das erworbene „Wissen“ wurde während des Lehrgangs immer wieder in Vorträgen und schriftlichen Prüfungen abgefragt. Bis zu Haas‘ Zeit in Dachau gewähren die Akten vor allem einen bürokratischen Blick von außen auf seinen Karriereweg. Abgesehen von seinem Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg und zwei Lebensläufen sind kaum aussagekräftige Dokumente erhalten geblieben, die Adolf Haas selbst verfasste. Dass fünf weitere solcher „Egodokumente“ heute einen persönlicheren Zugang zu Adolf Haas ermöglichen, ist den Prüfern der Führerschule zu verdanken. Wohl als Referenz für ihre Beurteilungen schickten sie seine Prüfungsaufsätze an das SS-Personalhauptamt. Von da aus gelangten sie in seine Personalakte und zeugen von einem äußerst schlichten Gemüt und einer mangelnden Bildung. So versuchte er sich am 17. Oktober an einem Aufsatz zum Thema „Die Germanen vor der Wanderung und Folgen der Wanderung“.172 Heinrich Himmler war vom Germanenkult geradezu besessen. Der Nationalsozialismus, meinte er, könne und müsse das deutsche Volk wieder zu ihrem wahren germanischen Wesen zurückführen.173 In Dachau sollte Adolf Haas diesen Ursprung erklären. Zwar zählte er die Stämme der West- und Ostgermanen auf, erläuterte kurz die Tugenden der Germanen als „Volk ohne Raum“ und verwies im letzten Satz auch auf die Christianisierung der Germanen, die Himmler als die Ursünde des deutschen Mittelalters betrachtete. Die schwammigen und fehlerhaften Ausführungen reichten jedoch bei Weitem nicht aus. „Völlig ungenügend“ vermerkten die Prüfer neben der Note „4“ unter dem Text. Fünf Tage später bekam Haas eine neue Chance, als er über „Staat und Wirken Heinrichs I. u. Adolf Hitler“ schreiben sollte. 1936 hatte Heinrich Himmler zum tausendsten Todestag von Heinrich