GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass

GEWALT, GIER UND GNADE - Jakob Sass


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      Adolf Haas hatte im März 1938 zwar mehr als ausreichend SS-Angehörige für die „Polizeiverstärkungen“ rekrutieren können. Anfang September 1938 meldete er aber, dass er seine Männer generell kaum angemessen ausrüsten konnte. Es mangelte an fast allem: Maschinengewehre, Pistolen, Patronentaschen, Stahlhelme. Einzig ein paar Dutzend Karabiner waren „brauchbar“.193 Auch ging er selbst nicht mit bestem Beispiel voran, als im September weitere Männer eingezogen werden sollten. Ganz oben auf einer Liste von 19 SS-Angehörigen seines Sturmbanns, die im Kriegsfall „unabkömmlich“ waren, prangte sein eigener Name. Am Ende des Dokuments räumte er ein: „Die verlangten Zahlen konnten nicht erreicht werden, da weitere Männer nicht ausfindig gemacht werden konnten.“194

      Als sich derartige Probleme im ganzen Reich abzuzeichnen begannen, forderte die SS-Führung von den Oberabschnitten, auf eigene Faust beim Rekrutierungsstau nachzuhelfen. Der Führer des SS-Oberabschnitts Rhein mahnte Haas Ende September persönlich: „Sie haben sich unter Zurückstellung aller übrigen Arbeiten sofort für die Durchführung der Freistellung für Polizeiverstärkungen einzusetzen.“195 Von den Arbeits- und Wehrmeldeämtern habe er sich „keinesfalls abweisen zu lassen“. Zwar geben die überlieferten Akten keine Auskunft darüber, wie genau Haas „aller etwa auftretenden Schwierigkeiten Herr werden“ sollte. Dass er mit der „Sudeten-Medaille“ geehrte wurde, zeigt jedoch, dass er sie zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten „bewältigte“ – und zwar nicht nur während der „Sudetenkrise“, sondern auch in den folgenden Monaten. Denn Hitler hatte seinen 1938 gewollten Krieg nur aufgeschoben. Bis zum Sommer 1939 sorgte Adolf Haas in seinem Sturmbann dafür, dass aus den Jahrgängen 1901 bis 1912, die keinen Wehrdienst mehr hatten leisten müssen, immerhin jeder Zweite entweder bei der Wehrmacht oder bei den SS-Totenkopfverbänden „kurzfristig ausgebildet“ wurde.196 Auch warb er bei seinen Männern weiter für den KZ-Dienst. Auch dieser sei die Pflicht, „die sie als Angehörige der SS übernommen und zu erfüllen haben, genau so, als wenn sie ihrer Militärdienstpflicht bei den Truppeneinheiten der Wehrmacht genügen“, schrieb er an seine SS-Stürme.197

      Womöglich wollte Adolf Haas in naher Zukunft bekannte Gesichter um sich wissen. Denn spätestens seit September 1938 wusste er, dass gleich am ersten Tag einer Mobilmachung einige der „über 45-jährigen SS-Angehörigen zur Bewachung der Konzentrationslager“ sofort eingezogen werden sollten.198 Und am Montag, dem 14. November 1938, sollte er seinen 45. Geburtstag feiern. Der einstige „Verteidiger von Tsingtau“, der in seinem ersten Krieg nur wenige Tage gekämpft hatte, musste so kaum einen Fronteinsatz im nächsten Krieg befürchten. Die Alternative, die „Arbeit“ in einem Konzentrationslager, nahm er gerne in Kauf.

      Der Abend des 9. Novembers 1938 hätte gemütlich ausklingen können. Mit Bier und Radiohören. An diesem Mittwochabend hatte Adolf Haas seine SS-Männer angewiesen, nach Erbach (Nistertal) bei Marienburg zu kommen, knapp neun Kilometer südöstlich von Hachenburg. In einer Gastwirtschaft wollten sie gemeinsam einer Rede Himmlers lauschen, erinnerte sich ein ehemaliger SS-Mann nach dem Krieg.199 Es war der „Gedenktag für die Bewegung“, der Jahrestag des „Hitlerputschs“ 1923, zu dessen Abschluss der „Führer“ und Reichsführer-SS in München um Mitternacht feierlich neue SS-Rekruten vereidigen wollten. Doch Neuigkeiten aus Paris störten die „Gedenkfeier“. Zwei Tage zuvor hatte dort der polnische Jude Herschel Grynszpan voller Wut mit einem Revolver auf den Diplomaten Ernst von Rath geschossen. Es war ein Akt der Rache und Verzweiflung gegen die deutschen Behörden, die seine Familie zusammen mit Zehntausenden anderen Polen auf brutalste Weise in ein Grenzgebiet zwischen Polen und Deutschland abgeschoben hatten.

      Die Nachricht vom Attentat hatte die antijüdische Stimmung im Reich verschärft, die ohnehin bereits durch die regelmäßige Propaganda aufgeheizt gewesen war. Schon an den Abenden des 7. und des 8. November 1938 war es zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen, vor allem in Kurhessen und Kassel sowie in Magdeburg-Anhalt. Noch waren es jedoch spontane Gewaltexzesse lokaler NSDAP- und SA-Funktionäre gewesen, die dem Willen ihres „Führers“ „entgegenarbeiten“ wollten, wie es Hitlers Biograf Ian Kershaw formuliert.200 Erst als der angeschossene Diplomat am 9. November seinen Verletzungen erlag, nutzten Hitler und sein Propagandaminister Goebbels die Gelegenheit, das größte Pogrom der Neuzeit in Mitteleuropa anzustoßen. Einen Generalplan gab und brauchte es dazu nicht. Mit einer Hetzrede um 22 Uhr vor hohen NSDAP-Funktionären und SA-Führern inszenierte Goebbels den vermeintlichen „Volkszorn“: Ausschreitungen gegen Juden seien „von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren“, allerdings sei ihnen „soweit sie spontan entstünden auch nicht entgegenzutreten“.201 Die anwesenden NS-Funktionäre verstanden dies umgehend als Aufforderung, die „spontanen“ Aktionen des „Volkszorns“ in die Wege zu leiten. „Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln“, notierte Goebbels später in seinem Tagebuch.

      In Erbach wollten die SS-Männer nach dem Ende der Mitternachtsrede, die Himmler trotz allem gehalten hatte, bereits ihre Wagen besteigen. Da rief der Wirt: „Adolf, komm mal, du sollst ans Telefon kommen!“202 Nach zehn Minuten kam Haas zurück und erklärte drei ausgewählten Kameraden, er habe soeben den Befehl erhalten, als „Vergeltung“ für die Ermordung des Diplomaten „die Synagogen in Brand zu stecken“. 50 Liter Benzin standen zur Verfügung. Zunächst sollten aber alle nach Hause fahren, Zivilkleidung anziehen und abwarten. Am nächsten Morgen, dem 10. November, sammelte Haas seine Männer mit zwei Personenwagen ein. Die Nummernschilder waren verhängt und im Innern lagen bereits Gebetsrollen und Stoffbanner aus Synagogen der Umgebung. Das Ziel war Mogendorf, etwa 20 Kilometer südwestlich von Hachenburg. Dort besorgte sich der Trupp bei einem Bewohner eine Axt und betrat die fast hundert Jahre alte Synagoge. Im Nachbarhaus lief ein Mädchen zu ihrem Vater und berichtete: „Ich glaube, draußen schlagen sie die Judenschule kaputt!“203

      Haas und seine Männer zertrümmerten Fenster, Türen und die sonstige Inneneinrichtung der Synagoge – bis auf ein paar Glühbirnen, die sie mitnahmen. Die Anwohner Mogendorfs schauten nicht nur tatenlos zu, einige kamen sogar vorbei und holten sich Bretter der zerschlagenen Bänke für ihre Kaninchenställe.204 In einem Nachkriegsverfahren gegen SS- und SA-Männer behauptete ein Angeklagter, sein Vorgesetzter Adolf Haas habe damals befohlen, die Trümmer aufzuhäufen und anzuzünden. Er selbst habe ihn jedoch zur Räson bringen können, indem er eindringlich davor warnte, dass die Nachbarhäuser auch in Flammen aufgehen könnten. Keiner konnte ihm widersprechen, da er der Einzige war, der noch über den Ablauf in der Synagoge berichten konnte. Die Anwohner sahen 1938 nur, wie die Männer nach verrichteter „Arbeit“ das Gebäude verließen. Einer von Haas‘ SS-Männern brachte die Axt mit den Worten zurück: „Ich habe heute Morgen schon mehr gearbeitet wie sonst jemand die ganze Woche!“205 Mit den Autos voller gestohlener Gegenstände und Gebetsrollen fuhren sie wieder heim. Um die Juden der Stadt kümmerte sich die SA. Und um die Synagoge. Sie stand am Ende doch noch in Flammen. Endlich griffen die Mogendorfer ein und erstickten das Feuer – jedoch nicht aus Respekt vor der jüdischen Gemeinde, sondern aus Sorge um ihre eigenen Häuser.206

      Am selben Tag drangen auch in Haas‘ Heimatstadt Hachenburg SA-Männer und Bürger in die Wohnungen der etwa 25 jüdischen Familien ein und trieben ihre Opfer, egal ob jung oder alt, unter Schlägen, Tritten und Beschimpfungen durch die Straßen. Nach dem Pogromtag berichtete ein SA-Standartenführer, es habe sich in Hachenburg nichts Besonderes ereignet außer der Verwüstung der Hachenburg Synagoge. Diese hatten die Nationalsozialisten nur deswegen nicht abgebrannt, weil auch sie wie in Mogendorf zu nah an anderen Häusern stand. Überlebt hatten lediglich 16 Thorarollen, mehrere Gegenstände aus Silber sowie einige Tücher, Altardecken und Pergamentrollen.207

      Nur wenige Tage nach dem Pogrom spottete Hermann Göring: „Ich möchte kein Jude in Deutschland sein.“208 Der angebliche „Volkszorn“ hatte Tausende Geschäfte, Wohnungen, jüdische Friedhöfe und Synagogen zerstört – die unzählbaren Scherben prägten später die verharmlosende Bezeichnung „Reichskristallnacht“. Sie verschleierte, dass nicht nur Zehntausende Mitmenschen gedemütigt und attackiert wurden, sondern auch in einer Woche etwa 400 Juden ermordet oder in den Selbstmord getrieben


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