GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass
unter dem schwäschlichen Nachfolger Karl des Franken [Karl der Große]. Er [Heinrich I.] lehnt[e] die Krönung durch die Kirche ab, denn er hatte eingesehen, daß die Kirche der Untergang der Germanen war. Das Bauerntum lag ganz darnieder, welches doch der Grundstock eines Volkes sein muß. Heinrich I. war es darum zu tun, für sein Volk die Lebensmöglichkeit zu schaffen, und er schaffte es. Sehen wir Adolf Hitler[,] er fand als einfacher Mann einen ganz danieder liegenden Staat, den die vorhergehene Regierung total zu Grunde gerichtet hatte.“175
Nach kaum einer Seite brach er mitten im nächsten Satz über das Bauerntum ab und schloss, wohl aus Zeitnot, hastig mit dem Fazit: „Und beide haben es fertig gebracht, Heinrich I u. Adolf Hitler eine neue deutschen Heim-Staat zu schaffen.“ Am Ende bekam er wieder nur ein „ungenügend“ als Note. Auch beim Vortragen von weltanschaulichen Themen benahm er sich „schwerfällig“.176 Allerdings vermerkten die Prüfer nach vier Wochen, gewiss mit Eigenlob, dass seine Einstellung zur NS-Weltanschauung „durch den Lehrgang stark gefördert“ wurde.177 Am vorletzten Tag des Lehrgangs wurden die Teilnehmer gebeten, dieses Mal ohne Benotung, ihre „Erfahrungen und Wünsche“ aufzuschreiben. Haas schlug vor, jedem Sturmbann eine „hauptamtliche Schreibkraft“ zur Verfügung zu stellen, „um den Stabsscharführer zu entlasten“.178 „Entlasten“ wollte er, der ja laut einem Prüfer „mit dem Schreiben auf Kriegsfuss stand“, wohl vor allem sich selbst.
Am Mittwoch, den 10. November 1937 ging es nach Hause. Indessen schrieben die Lehrgangsprüfer die abschließenden Beurteilungen. Lob bekam Adolf Haas nur wenig, „gut“ seien nur seine Sauberkeit sowie sein „Benehmen im Aussendienst“.179 Seine Haltung sei „soldatisch“, könnte aber „straffer sein“, seine „körperliche Rüstigkeit“ aber immerhin „trotz seines Alters befriedigend“. Das Verhältnis zu den Kameraden sei „zurückhaltend“, das zu seinen Vorgesetzten „abwägend“ – aber er „fügt sich in den Rahmen“. Sein Wille sei zwar „zäh“, doch sein Auffassungsvermögen „begrenzt“. Daher müsse er „regsamer“ werden und „sich noch manches aneignen“, um die „geistige Frische“ zu erreichen, die man von einem höheren SS-Führer erwarte. Immerhin sehe er nun die „Notwendigkeit der eigenen Weiterbildung ein“. Trotz seiner durchschnittlichen bis mangelhaften Leistungen hatte Haas den Lehrgangsleitern offenbar weismachen können, er leide unter wirtschaftlichen „Schwierigkeiten“ und sei daher „verbittert“. In der gesamten Personalakte findet sich jedoch kein einziger Hinweis darauf, dass Haas Schulden hatte oder dass sein verhältnismäßig gutes Gehalt nicht ausreichte. Im Januar 1938, also kurz nach seiner Rückkehr aus Dachau, bezog er ein Bruttoeinkommen von 527 RM, mehr als drei Mal so viel wie der durchschnittliche Bürger.180 Damit konnte er seiner Familie ein neues Eigenheim in „Hachenburg, Siedlung“ in der Liegnitzer Straße finanzieren, ganz in der Nähe vom jüdischen Friedhof und dem ehemaligen Judenfriedhofsweg, den er 1933 in Dehlinger Weg hatte umbenennen lassen.181
Die Lehrgangsleiter aber schluckten 1937 seine Ausreden und notierten deswegen wohl auch einigermaßen gnädig in der „Gesamtbeurteilung“: „Genügt den bisherigen Anforderungen zur Führung eines Sturmbannes. Ist durch den Lehrgang stark beeinflusst und zu einer höheren Lebens- und Dienstauffassung angeregt worden.“ Weder als Referent im inneren Dienst, noch als Stabsführer, für das Rasse- und Siedlungshauptamt oder den Sicherheitsdienst (SD), geschweige denn für höhere Dienststellen sei er „vorerst“ geeignet. Damit bestätigte der einmonatige Lehrgang genau das, was der Führer der 78. SS-Standarte bereits kurz vorher festgestellt hatte. Man schlug vor, er solle den Lehrgang 1939 wiederholen – dazu kam es jedoch nie.
Keineswegs war er der einzige, der überfordert gewesen war.182 Tatsächlich machte von den 29 anderen Teilnehmern später keiner eine große Karriere.183 Ganz anders Adolf Haas, auch wenn er zwei Jahre lang hart dafür arbeiten musste.
2.6 Der Trommler: „Polizeiverstärkungen“ in der Sudetenkrise, 1938
Das neue „Großdeutschland“ reichte dem „Führer“ nicht. Er wollte ein Großgermanisches Reich, das über den europäischen Kontinent herrschen sollte. Und er wollte nicht warten. Der erfolgreiche, unerwartet leichte „Anschluss“ seiner österreichischen Heimat im März 1938 hatte Hitler in seinem Machtinstinkt bestärkt und zudem den verachteten „slawischen“ Nachbarstaat Tschechoslowakei aus militärischer Sicht geschwächt. Der „Führer“ war nicht nur bereit, für sein neues Ziel einen Krieg zu riskieren – er wollte diesen Krieg unbedingt. Einen Krieg, in der sich die „deutsche Rasse“ vereinen und ihren Kampfeswillen beweisen konnte. Nicht nur gegen die Tschechoslowakei, sondern zunächst auch gegen deren Verbündete Frankreich und Großbritannien und später gegen das restliche Europa und die Sowjetunion. Vorwand für die gewollte Eskalation boten ihm die etwa drei Millionen tschechischen Bürger im Sudetenland, die sich als Deutsche sahen und von denen er einige Tausend bei seiner Abschlussrede auf dem Nürnberger Parteitag am 12. September 1938 zur Rebellion anstacheln konnte.184 Alles musste so aussehen, als ob er den vermeintlich gefährdeten Sudetendeutschen nur zu Hilfe eilen wollte. Um den Konflikt zu schüren, ließ Hitler insgeheim etwa 40.000 geflüchtete Aufständige unterstützen. Waffen erhielten sie von der Wehrmacht, Verstärkung von der SA und der SS. Nach dem Probelauf beim „Anschluss“ Österreichs machte die Reichsführung-SS im Herbst 1938 zum ersten Mal einen größeren Teil der Allgemeinen SS mobil.185
Am Ende der „Sudetenkrise“ erkauften sich Frankreich und Großbritannien mit dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 einen vorläufigen Frieden in Europa. Den Preis für diesen Deal zahlten nicht sie, sondern die Tschechoslowakei, die das Sudetenland an Deutschland abtreten musste, ohne dass man sie überhaupt an den Verhandlungen beteiligt hatte. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in das Sudetenland am 1. Oktober ehrte die Reichsführung mehr als 1,1 Millionen Deutsche aus allen Schichten und Berufen für ihre „Verdienste um die Wiedervereinigung der sudetendeutschen Gebiete mit dem Deutschen Reich“ mit einer dunkelbronzefarben getönten „Sudeten-Medaille“.186 Auch SS-Sturmbannführer Adolf Haas bekam diese Auszeichnung.187 Besonders wertvoll war sie nicht. Sie diente vor allem dem Zweck, die Annexion des Sudetenlandes und die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ zu legitimieren. Die Geehrten wurden praktisch zu Mittätern gemacht. Einer der prominenteren Träger der Medaille war Hans Globke, damals Ministerialrat im Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern und später Staatssekretär sowie engster Vertrauter von Bundeskanzler Adenauer. Als Jurist verfasste Globke nicht nur den regierungsoffiziellen Kommentar zu den „Nürnberger Rassegesetzen“, sondern auch Gesetze und Verträge in Folge des „Anschlusses“ Österreichs, des Münchener Abkommens sowie der Besetzung der Tschechoslowakei.188 Auch Adolf Haas schoss Ende 1938 weder eine einzige Kugel auf tschechoslowakische Soldaten, noch war er überhaupt in der Nähe des Sudetenlandes. Die „Sudeten-Medaille“ bekam er als bürokratischer Trommler.
Seit 1936 hatte Hitler immer schärfer gefordert, die Wehrmacht „einsatzfähig“ und die Wirtschaft „kriegsfähig“ zu machen. Die SS trug ihren Teil dazu bei. Die SS-Oberabschnitte begannen zusammen mit dem SS-Hauptamt Vorbereitungen zu treffen, um im Fall einer Mobilisierung rasch „Polizeiverstärkungen“ aus der Allgemeinen SS heranzuziehen.189 Am 12. März 1938 forderte der Führer der 78. SS-Standarte Adolf Haas und zwei weitere Sturmbannführer auf, jeweils 80 Männer zwischen 25 und 35 Jahren zur „Verstärkung der SS-Totenkopfverbände (Polizeiverstärkung)“ zu rekrutieren, also unter anderem für das Wachpersonal der Konzentrationslager.190 Übereifrig meldete Haas nicht einmal zwei Wochen später, er könne neben dem Soll weitere elf Mann zur Verfügung stellen.191
Als die „Sudetenkrise“ durch deutsche Provokationen in der zweiten Septemberhälfte richtig in Fahrt kam und Hitler noch auf seinen lang ersehnten Krieg hoffte, ließ Himmler insgesamt etwa 14.000 SS-Männer zur „Polizeiverstärkung“ bzw. KZ-Wachablösung einberufen. Man erwartete eine große Anzahl neuer Häftlinge, egal ob es zum Krieg kommen würde oder nur zur Annexion des Sudetenlandes. Doch trotz aller Vorbereitungen und sogar eines eigenen „Führererlasses“ klappte es nicht so, wie Himmler es sich vorgestellt hatte. Die Wehrbezirkskommandos stellten sich stur und Hunderte bis Tausende SS-Männer drückten sich entgegen ihres Treueschwurs vor dem unattraktiven KZ-Dienst, indem sie