Die Würde des Tieres ist unantastbar. Kurt Remele

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Überlegungen zum menschlichen Umgang mit Tieren bildet. Dem amerikanisch-britischen Autor Bill Bryson zufolge handelt es sich bei der Ausrottung bzw. beim Aussterben (biologischer Fachbegriff: „Extinktion“) des Dodo um einen „Meilenstein“13 der Menschheitsgeschichte und zwar um einen, der die aus menschlicher Grausamkeit und Gedankenlosigkeit begangenen Vergehen gegenüber Tieren eindrucksvoll dokumentiert. In seinem Buch Eine kurze Geschichte von fast allem beschreibt Bryson dieses historische Ereignis lapidar wie folgt: „Weit draußen im Indischen Ozean, auf der Insel Mauritius … hetzte ein … Seemann oder sein Hund den letzten Dodo zu Tode, jenen berühmten flugunfähigen Vogel, der mit seinem einfältigen, aber zutraulichen Wesen … ein unwiderstehliches Ziel für gelangweilte Matrosen auf Landurlaub war.“14

      „Dead as a Dodo“

      Dodos, auch Dronten genannt, waren truthahngroße, bis zu zwanzig Kilogramm schwere Vögel, die zur Familie der Tauben gehörten. Sie waren höchstwahrscheinlich auf Mauritius im Indischen Ozean endemisch, das heißt sie kamen nirgendwo sonst vor als dort. Der flugunfähige Dodo wurde innerhalb von acht bis neun Jahrzehnten von niederländischen Seeleuten, die Ende des 16. Jahrhundert auf der Insel landeten, ausgerottet. Dead as a Dodo ist eine englische Redewendung, für die wir im Deutschen die Übersetzung mausetot verwenden, was ziemlich inadäquat ist, weil Mäuse ja gar nicht mausetot sind. Im Gegensatz zum Dodo, der ausgerottet wurde, sind die meisten Mäusearten weit verbreitet und nicht gefährdet. Was viele nicht wissen: Die „Maus“15 in der Wortzusammensetzung „mausetot“ kommt vom niederdeutschen Wort „mūs“, was „ganz“ bedeutet. „Mūsdōd“ heißt demnach einfach „ganz tot“.

      Auf der Website des zur berühmten englischen Universität gehörenden Naturgeschichtemuseum in Oxford (Oxford University Museum of Natural History) wird der Dodo als „Symbol der Ausrottung und des unwiederbringlich Verlorenen“16 bezeichnet. Vor knapp zwei Jahrzehnten hat der „Dodo von Oxford“ mein Interesse für diese ausgestorbene Vogelart und die mit ihrem Schicksal verbundenen Fragen geweckt. Das Museum bewahrt nämlich zwei der bedeutendsten Relikte des verschwundenen Dodo-Vogels auf: einen mumifizierten Kopf, der als einziger Dodo-Überrest noch Weichteilgewebe vorzuweisen hat, und ein Bein. Das Naturhistorische Museum in Wien17 besitzt sowohl ein vollständiges Dodoskelett, das vermutlich aus den Resten mehrerer Vögel zusammengesetzt wurde, als auch seit 2011 die modernste Rekonstruktion dieses ausgerotteten Vogels. Nach dem Schweizer Zoologen Vincent Ziswiler18 besitzen heute sieben Museen mehr oder weniger komplette Skelettrekonstruktionen des Dodo und 13 weitere vereinzeltes Knochenmaterial.

      Dodos waren in der Regel nicht so fett und plump wie sie auf älteren Gemälden dargestellt werden. Diese Bilder zeigen nämlich nicht freilebende Dodos, sondern haben gefangene, kranke, in engen Käfigen eingepferchte Exemplare als Vorlage, die die niederländischen Seeleute auf ihren Schiffen nach Europa mitnahmen. Zweifellos aber waren Dodos flugunfähig und freundlich, zwei Eigenschaften, die ihnen nicht gerade nützlich waren, als im Jahre 1598 niederländische Seefahrer als erste menschliche Wesen auf Mauritius landeten. Die Vögel waren auf die Seeleute und auf die Ratten, Hunde und Schweine, die mit ihnen auf die Insel gelangten, nicht vorbereitet. In einem zeitgenössischen Bericht ist zu lesen: „Da die Insel nicht von Menschen bewohnt war, fürchteten sich die Vögel nicht vor uns und saßen still, sodass wir sie ohne Mühe totschlagen konnten.“19 Das taten die Menschen ohne zu zögern und mit großer Intensität. Reiner Spaß und bloßes Vergnügen, die leutseligen Tiere umzubringen, spielten dabei zweifellos eine Rolle, der Nahrungsaspekt, vor allem der Verzehr von Fleisch, nach dem die Matrosen nach der wochenlangen Seefahrt ein starkes Verlangen hatten, stand aber wohl im Vordergrund.

      Nach dem US-amerikanischen Wildbiologen und Naturschutzexperten Stanley Temple von der University of Madison-Wisconsin spielten die Dodos im Ökosystem von Mauritius eine wichtige Rolle.20 Das Faktum, dass die Zahl der tropischen Calvaria- oder Tambalacoque-Bäume auf Mauritius im Laufe der Zeit drastisch zurückgegangen ist sowie seine profunde Kenntnis der Anatomie des Dodo bewogen Temple im Jahre 1977 zur Formulierung der Hypothese, dass zwischen der geringer werdenden Zahl der Bäume und dem Aussterben des Dodo ein Kausalzusammenhang bestehe. Zwischen Calvariabäumen und Dodos existierte nach Temple eine symbiotische Beziehung, die wie folgt ausgesehen hat: Dodos fraßen die Früchte des Baumes und damit auch deren Samen. Die von einer dicken harten Schale umgebenen Samen wurden im Verdauungstrakt der Dodos abgeschliffen oder sogar partiell aufgesprengt und damit auf die Keimung vorbereitet. Nach dem Ausscheiden war es für den Keimling nicht schwierig, die Schale zu durchstoßen. Zur Untermauerung seiner These fütterte Temple einigen Truthühnern Calvaria-Samen. Die ausgeschiedenen Kerne begannen tatsächlich zu keimen, nach Stanley Temple das erste Mal seit etwa dreihundert Jahren.

      Vielleicht schon 1681 oder 1683, mit ziemlicher Sicherheit aber 1693 war der Dodo ausgestorben, für immer mausetot, „as dead as a dodo“. Der Mensch rottete in weniger als hundert Jahren ein zutiefst friedfertiges Lebewesen aus, das ihm nie den geringsten Schaden zugefügt hatte und das keinen anderen Anspruch an den Menschen stellte, als in Ruhe gelassen zu werden.

      Der Dodo und sein Schicksal wurden zum Sinnbild für den rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur und für die sinn- und achtlose, mutwillige und rasante Auslöschung zahlreicher Tierarten. Zu den bekanntesten Artenverlusten allein in den letzten 350 Jahren gehören neben dem Dodo noch die Stellersche Seekuh, die im Jahre 1768, nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung auf den Kommandeurinseln im Fernen Osten Russlands ausgerottet wurde, und der Beutelwolf oder Tasmanische Tiger, dessen letztes Exemplar 1936 in einem Zoo nahe Hobart, der Hauptstadt der australischen Insel Tasmanien, starb. Des Weiteren zu nennen sind Säugetiere wie etwa der Falklandwolf (Falklandfuchs, 1876 ausgestorben) und das dem Zebra ähnliche Quagga (1883), Vögel wie Riesenalk (1844), Koafink (1896) und der Karolinasittich (Carolina-Papagei, 1918) und Reptilien wie der Rodrigues-Riesengecko (1842) und der Kawekaweau-Gecko (1870).21

      In der Geschichte der Erde gab es bisher fünf große Massensterben, die auf geologische Veränderungen und Naturkatastrophen zurückgingen.22 Bis zu 90 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten starben im Zuge dieser Ereignisse aus. Im Unterschied dazu ist das gegenwärtige sechste Massensterben, das seit dem 17. Jahrhundert im Gange ist, durch menschliches Handeln verursacht und geht weit über natürliche Aussterberaten hinaus: ein Verlust an Biodiversität durch Überfischung der Meere, gnadenloses Abschlachten von Landtieren, Umweltverschmutzung und anthropogenem (vom Menschen verursachten) Klimawandel. Menschen jagen unzählige Tiere und ganze Tierarten zu Tode, sie zerstören riesige (tierische) Lebensräume (Tropen- und Auwälder, Moore und Wiesen), schlachten gefährdete Tierarten aus finanzieller Gier ab oder aus Lust an kulinarischen Spezialitäten („Bushmeat“) und fragwürdigen medizinischen Traditionen (das Horn des Rhinozeros gilt als Heil- und Potenzmittel), beuten die Meere aus, vergiften Nahrungsmittel und betreiben eine Form von industrieller Viehzucht, die den Tieren eine artgerechtes Leben verwehrt, wertvolle Ressourcen verschwendet und den Klimawandel vorantreibt.

      Wir wissen nicht genau, wie viele Tier- und Pflanzenarten es auf der Erde gibt. Wir können auch nicht präzise sagen, wie viele davon in jedem Jahr von dieser Erde verschwinden. Die meisten Experten sind der Ansicht, dass zwischen 0,01 und 0,1 Prozent aller Arten im Jahr ausstirbt. Je nachdem, wie hoch man die Zahl der Arten ansetzt, sterben demnach jedes Jahr zwischen 200 und 10.000 Tier- und Pflanzenarten aus. Auch wenn die Bandbreite der Schätzungen groß ist, machen diese deutlich, dass selbst bei der allerniedrigsten Annahme an mindestens jedem zweiten Tag eine Tier- oder Pflanzenart ausstirbt. Hier ein Beispiel jüngeren Datums zur Illustration: Im November 2015 ist im Zoo von San Diego ein Nördliches Breitmaulnashorn, das 41-jährige Weibchen Nola, gestorben.23 Jetzt leben nur noch drei Exemplare dieser Nashorn-Unterart in einem Reservat in Kenia, zwei Nashornkühe und ein Nashornbulle. Aufgrund ihres Alters und wegen Schwierigkeiten bei der Reproduktion ist eine Vermehrung auf natürlichem Wege sehr unwahrscheinlich.

      Heutzutage ist Mauritius übrigens nach China der größte Exporteur von Affen, vor allem Langschwanzmakaken.24


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