Die Würde des Tieres ist unantastbar. Kurt Remele

Die Würde des Tieres ist unantastbar - Kurt Remele


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gibt – und selbstverständlich kann man ihm Vagheit und Allgemeinheit vorwerfen. Seine fehlende Konkretheit oder „Dünnheit“33, um die Diktion des US-amerikanischen Moralphilosophen Michael Walzer aufzugreifen, ist jedoch nicht primär Schwäche, sondern Stärke: Nahezu jeder, der diesen Begriff hört, wird etwas wahrnehmen, was er wiedererkennt. Wer über Tierwürde und deren Verletzung spricht, evoziert Bilder von Schlachthöfen und Tierfabriken, Tiertransporten und Gänsestopfleber, abgehackten Haifischflossen und in den Müll geworfenen Hundewelpen. Der Begriff der Tierwürde wird also in diesem Buch nicht philosophisch-ethisch analysiert und reflektiert, sondern als Ausdruck eines intensiven Protestes gegen all diese und andere Grausamkeiten verstanden sowie als Appell an christliche Gemeinschaften und alle Menschen guten Willens, etwas Konkretes dagegen zu tun. Was genau getan werden sollte, wird sich im Laufe dieses Buches erschließen.

      Nach post-anthropozentrischen Ethiken steht fest: Wer einzelne Tiere quält oder willkürlich tötet, wer Tierarten ausrottet und den tropischen Regenwald großflächig abholzt, handelt ethisch falsch. Richtig oder falsch zu handeln ist – in der ethischen Fachsprache ausgedrückt – nicht dasselbe wie gut oder schlecht / böse zu handeln. Während es bei den Begriffen sittlich richtig und falsch um die unter Menschen intersubjektiv auszuweisenden und argumentativ darzulegenden Gründe für die Qualität einer ethischen Handlung geht, beziehen sich die Begriffe sittlich gut und schlecht / böse auf die einem Menschen innerliche Disposition und Motivation.34 An einem Beispiel erklärt: Man kann eine ausgeprägte Liebe zu Hunden und die besten Absichten haben, Hunden Freude zu bereiten, aus veterinärmedizinischen Gründen ist es dennoch nicht ratsam, die Tiere dadurch erfreuen zu wollen, indem man sie mit Schlagsahne oder Schokolade füttert. Wer immer solches tut, handelt ethisch zwar gut (Motivation), aber dennoch im Sinne des umfassenden Wohls der Tiere nicht richtig bzw. ausgesprochen falsch. Wer dagegen aus Abneigung gegenüber Hunden Giftköder auslegt, handelt sowohl ethisch schlecht oder böse (Motivation) als auch ethisch falsch (objektive Schädigung der Hunde). Motivation und Sachgerechtigkeit zu unterscheiden ist analytisch hilfreich, darf aber nicht dazu führen, beide strikt zu trennen. Denn an sich ist beides notwendig: eine auf Mitgefühl aufbauende gute Motivation und eine auf Sach- und Fachkenntnis gestützte ethische Entscheidungskompetenz.

      Es legt sich nahe, an dieser Stelle noch zwei weitere begriffliche Klarstellungen vorzunehmen. Die erste weist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Begriffen Moral und Ethik hin: Vor allem in der Alltagssprache werden diese Begriffe weitgehend synonym verwendet. Dagegen ist nichts einzuwenden. In der akademischen Ethik bezieht sich der Begriff Moral allerdings im Allgemeinen auf die in einer Gesellschaft vorherrschenden Moralvorstellungen und sittlichen Regeln, der Begriff Ethik dagegen auf die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion über eben diese Moralvorstellungen und Regeln, „mit der Absicht, diese Ansichten auf die eine oder andere Art zu verbessern, weiter zu entwickeln oder zu präzisieren“35. Eine dritte begriffliche Klarstellung bezieht sich auf die Sprache, mit denen wir die Tiere und ihre Welt benennen. Das Anliegen von Tierethik und Ökolinguistik36, in der Rede über Tiere keine Wörter und Begriffe zu verwenden, die diese abwerten oder die die menschliche Grausamkeit gegenüber Tieren euphemistisch verschleiern, wird in diesem Buch voll unterstützt. Die durchaus zu respektierende Empfehlung von Tierrechtlern, nicht von Menschen und Tieren, sondern stattdessen von menschlichen Tieren und nichtmenschlichen Tieren zu sprechen, wird hier allerdings bis auf wenige Ausnahmen nicht übernommen. Für viele Leserinnen und Leser ist diese Sprachregelung sowohl ungewöhnlich als auch ungewohnt und wirkt eher verstörend als zum Denken anregend. Zudem wird durch den Begriff nichtmenschliche Tiere trotz der Intention, die evolutionäre Kontinuität allen Lebens dadurch sprachlich sichtbar zu machen, das Faktum nicht aus der Welt geschafft, dass es sich beim Begriff der Tiere um eine undifferenzierte Sprachregelung handelt, „die die Wirklichkeit dessen, war sie vorgibt zu beschreiben, verdeckt, nämlich ein breites Spektrum von höchst unterschiedlichen Wesen von erstaunlicher Vielfalt und Komplexität.“37 Anders gesagt: Menschen und Schimpansen sind sich in vieler Hinsicht ähnlicher als Schimpansen und Seegrasquallen, dennoch werden beide, Menschenaffen und Quallen, mit dem einheitlichen und undifferenzierten Begriff Tier bezeichnet.

      Zwei Jahrhunderte bevor der Dodo ausstarb, hatten die europäischen Eroberer der so genannten Neuen Welt begonnen, die indigene Bevölkerung Nordamerikas auszurotten. Wie der Historiker Howard Zinn darlegt, flohen die amerikanischen Indianer nicht, als sie Christoph Kolumbus und seinen Männern das erste Mal begegneten, sondern verhielten sich lange Zeit äußerst gastfreundlich. Kolumbus selbst beschrieb das Zusammentreffen wie folgt: „Die Indianer sind so naiv und so freigebig, das niemand es glauben würde, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Wenn man sie um etwas bittet, das ihnen gehört, sagen sie niemals nein. Ganz im Gegenteil, sie sind bereit, mit allen zu teilen.“38 Doch diese Freundlichkeit der indigenen Bevölkerung wurde von den europäischen Eroberern mit Geringschätzung und Verachtung beantwortet, mit Völkermord, nicht mit Völkerverständigung. Die amerikanischen Indianer wurden gefangen genommen, gequält, versklavt und niedergemetzelt.

      Im Jahre 1776 verabschiedete der Zweite Kontinentalkongress der dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika die Unabhängigkeitserklärung und proklamierte damit die Loslösung des neugegründeten Staatenbundes von Großbritannien. In der Unabhängigkeitserklärung wird festgehalten, dass alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit angeborenen, unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet seien.39

      Im selben Jahr, in dem die Unabhängigkeitserklärung verabschiedet wurde, veröffentlichte Dr. Humphry Primatt, ein anglikanischer Geistlicher im Ruhestand, eine Abhandlung mit dem Titel Die Pflicht der Barmherzigkeit und die Sünde der Grausamkeit gegenüber Tieren40. Primatt tritt darin zunächst für die Gleichheit von Menschen verschiedener Hautfarbe ein und stellt fest: „Es hat Gott, dem Vater aller Menschen, gefallen, manche Menschen in weiße Haut einzuhüllen und andere in schwarze Haut. Auch wenn unmenschliche Traditionen und Vorurteile anderes vermuten lassen, so hat ein Mensch mit weißer Hautfarbe aufgrund dieser Hautfarbe trotzdem nicht das Recht, einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe zu unterdrücken oder zu versklaven, denn die Hautfarbe ist weder ein Verdienst noch ein Mangel. Ein hellhäutiger Mensch hat auch kein Recht, einen dunkelhäutigen Menschen zu verachten, zu missbrauchen und zu beleidigen. Ich glaube auch nicht, dass ein großgewachsener Mensch aufgrund seiner Gestalt ein gesetzliches Recht hat, auf einem kleinwüchsigen Menschen herum zu trampeln.“41

      Primatt geht noch einen Schritt weiter, wendet die Argumente für Gleichheit und Gerechtigkeit unter Menschen auch auf die Beziehung der Menschen zu den Tieren an und weitet damit den Kreis der Lebewesen, denen ein moralischer Status zuerkannt wird, noch einmal aus.42 Er schreibt: „Wenn also menschliche Unterschiede in Intelligenz, Hautfarbe, Gestalt und Schicksal keinem Menschen das Recht geben, einen anderen Menschen aufgrund dieser Unterschiede zu missbrauchen oder zu beleidigen, hat auch kein Mensch ein naturgegebenes Recht, ein Tier zu missbrauchen oder zu quälen, nur weil es weniger intelligent ist als ein Mensch.“43

      Einer der Hauptgründe, warum Menschen Tiere respektvoll zu behandeln haben, liegt für Reverend Primatt in ihrer Empfindungsfähigkeit. Der anglikanische Geistliche stellt fest: „Ein Tier ist nicht weniger schmerzempfindlich als ein Mensch. Es hat ähnliche Nerven und Sinnesorgane. Auch wenn es sich nicht verbal oder in einer Menschenstimme beschweren kann, so zeigen uns die Schreie und das Stöhnen, die es von sich gibt, wenn ihm körperliche Gewalt angetan wird, dennoch ganz klar, dass es schmerzempfindlich ist, ähnlich wie es die Schreie und das Stöhnen eines Menschen tun, dessen Sprache wir nicht verstehen.“44

      Kurze Zeit später, im Jahre 1789, hat der englische Philosoph Jeremy Bentham in einer Fußnote seiner Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung fast das Gleiche gesagt: Nach Bentham lautet nämlich die entscheidende Frage, die das menschliche Verhalten gegenüber Tieren bestimmen soll, weder „Können sie [die Tiere] logisch denken?“ noch „Können sie sprechen?“, sondern einzig und allein „Können sie leiden?“45


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