Die Würde des Tieres ist unantastbar. Kurt Remele

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Deshalb sollten sie nicht bloß den gleichen Anspruch auf die Hilfe Erwachsener haben wie andere Gruppen, sondern einen größeren und besonderen. Hauptvertreter ist der anglikanische Priester und Theologe Andrew Linzey60, der auch das Oxford Centre for Animal Ethics leitet. Linzeys Tierethik, die die Gemeinsamkeiten von Tieren und Kindern betont, stellt in diesem Punkt eine bewusste Gegenposition zum tierethischen Ansatz von Peter Singer dar, dessen Aufwertung von Tieren mit Ich-Bewusstsein mit einer Abwertung von menschlichen Babys ohne Ich-Bewusstsein einhergeht.61 Großzügigkeit hat in Linzeys Verständnis zudem nichts mit Gönnerhaftigkeit oder Paternalismus zu tun, sondern ist als solidarische Haltung zu verstehen, die Gerechtigkeit, Menschenpflichten und Tierrechte mit einschließt und das Töten von Tieren nur in wenigen Ausnahmefällen für ethisch vertretbar hält: „Zu töten ohne dass strenge Bedingungen dafür vorliegen, bedeutet, ein Leben mit mangelnder Großzügigkeit zu leben.“62

      Aus jüngerer Zeit sind z. B. noch die Übernahme tierethischer Perspektiven in die Tugendethik durch die neuseeländische Ethikerin Rosalind Hursthouse63 zu erwähnen sowie die Ausweitung von John Rawls Vertragstheorie der Gerechtigkeit durch Martha Nussbaum64 und Mark Rowlands65. Den beiden letztgenannten geht es darum, auch nichtmenschliche Spezies in die bisher auf Menschen beschränkte Gerechtigkeitskonzeption des Harvard-Philosophen John Rawls einzubeziehen.

      Was der Theologe Primatt und der Philosoph Bentham vor über 200 Jahren über Tiere festgestellt haben, wird durch die heutige kognitive Ethologie (Verhaltensbiologie) und die Neurowissenschaft empirisch bestätigt. Eine große Anzahl von Tieren ist empfindungsfähig (englisch: sentient), kann (körperlichen) Schmerz empfinden, einige davon auch (emotionales, seelisches) Leid66, und natürlich auch deren Gegenteil, nämlich Lust und Freude67: Das gilt für Wirbeltiere wie Säugetiere, Vögel, Amphibien, Reptilien, Fische, aber sogar für einige Wirbellose, Kraken und Tintenfische zum Beispiel und – wie die Forschungsarbeiten des Belfaster Zoologen Bob Elwood68 nahelegen – auch für Krebse und Krabben. Unklar ist, ob zum Beispiel Insekten69 Schmerzen fühlen können. Das Fehlen eines sogenannten nozizeptiven Systems, das auf gewebeschädigende Reize reagiert, spricht nach Meinung mancher Forscher eher dagegen. Andere Wissenschaftler meinen jedoch, Insekten könnten zumindest über einige nozizeptiven Nervenfasern verfügen, die Schmerzempfindungen weiterleiten. Es spricht aus ethischer Sicht einiges dafür, in einem Zweifelsfall wie diesem die vorsichtigere Wahl zu treffen – die moraltheologische Tradition bezeichnet dies als Tutiorismus – und deshalb zu Gunsten der Insekten zu entscheiden.

      Zahlreiche Tiere haben Bewusstsein, einige (Primaten, Elefanten, Delfine, Schweine, Elstern) nachgewiesenermaßen (Spiegeltest) sogar Ich-Bewusstsein. Einige von ihnen sind fähig, moralische Regeln zu befolgen („wilde Gerechtigkeit“70). Die Frage, ob und in welchem Sinn Tiere moralisch handeln können, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert, wobei mir hier die „mittlere“ Position des Philosophen Mark Rowlands am angemessensten erscheint: Rowlands nimmt an, dass verschieden Tiere zumindest manchmal moralische Motive hätten, um etwas zu tun, was aber nicht heiße, dass sie für ihr Tun moralisch verantwortlich sind. Rowlands spricht in diesem Zusammenhang von „moral subjecthood“71 im Unterschied zu „moral agency“.

      Wie aber halten es die Tiere mit der Religion? Der Katechismus der Katholischen Kirche72 erklärt, dass Tiere allein schon durch ihr Dasein Gott preisen und verherrlichen. Aber es gibt offenbar noch explizitere Formen der Religionsausübung bei manchen Tieren. Die renommierte Primatologin Jane Goodall hat nämlich entdeckt, dass Schimpansen Werkzeuge benutzen und Werkzeuge herstellen, dass sie nicht nur brutal Krieg gegeneinander führen, sondern auch altruistisch füreinander sorgen. Sie beobachtete bei Schimpansen, die sich bei einem gigantischen Wasserfall aufhielten, zudem (proto-)religiöse Verhaltensweisen: eine große Ergriffenheit und eine tiefe Ehrfurcht vor dem Naturphänomen des herabstürzenden Wassers, die sich in rhythmischen Tänzen, aber auch in einem achtsamen Staunen manifestierten.73

      Wie Charles Darwin ist Goodall davon überzeugt, dass die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren keine grundsätzlichen seien, sondern graduelle.74 Aus ihrer umfangreichen Forschungstätigkeit zieht Goodall folgendes Resümee: „Wenn ich auf diese fünfzig Jahre zurückblicke, wird sehr klar, dass wir Menschen nicht die einzigen Lebewesen mit Persönlichkeit, Verstand und Gefühlen sind und dass es keine scharfe Trennungslinie zwischen uns und dem restlichen Tierreich gibt.“75 Im Rahmen des Great Ape Project fordert Jane Goodall deshalb auch, bestimmte Grundrechte für Primaten als höchstentwickelten Tieren staatlicherseits anzuerkennen. Geschehe dies, wäre es gesetzlich verboten, Schimpansen und Bonobos, Gorillas und Orang-Utans zu töten, einzusperren oder für wissenschaftliche und medizinische Versuche zu verwenden. Eine zeitgemäße philosophische, aber auch eine zeitgemäße theologische Tierethik haben diese Tatsachen über die erstaunlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Tieren und über die vielen Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier zur Kenntnis zu nehmen und in ihren ethischen Werturteilen zu beachten.

      Es gibt offenbar bei Tieren und Menschen eine, wie Martin Balluch das nennt, „Kontinuität von Bewusstsein“76. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, Menschen und Menschenaffen gebe: Goodall verweist nämlich auf die geistigen Anlagen und die intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten des Menschen, die selbst bei einem durchschnittlich intelligenten Menschen wesentlich höher seien als selbst beim klügsten Schimpansen. Theologisch wird häufig die dem Menschen von Gott gegebene Seele als Merkmal genannt, die den Menschen vom Tier unterscheide. Die komplexe Frage nach einer Seele bei Mensch und Tier wird im Kapitel 3 ausführlicher behandelt werden. Hier sei nur erwähnt, dass es irreführend und problematisch ist, wenn man versucht, die menschliche Seele dafür zu verwenden, die natürlichen Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier übernatürlich zunichte zu machen und erneut einen tiefen theologischen Graben zwischen Mensch und Tier auszuheben. Ein Beispiel dafür ist der Salzburger Weihbischof und katholische Moraltheologe Andreas Laun, der behauptet: „Keine Gemeinsamkeit und keine Ähnlichkeit im Bereich des Leibes können diesen ,Graben‘ zwischen Mensch und Tier sozusagen zuschütten. Der Menschen ähnlichste Menschenaffe ist, genau genommen, ähnlicher der Kaulquappe oder einer Amöbe als dem Menschen – trotz allen Respekts, den wir besonders den höheren Tieren schulden.“77

      Eine zeitgemäße Tierethik fordert, dass die Existenz, die Interessen und das Wohlergehen von Tieren in menschlichen Entscheidungen und Handlungen berücksichtigt werden. Erkenntnistheoretisch (epistemisch) ist alle Ethik selbstverständlich ein an bestimmte Vorgaben und Bedingtheiten der Natur gebundenes „Kunstprodukt der menschlichen Vernunft“78, erdacht und gestaltet von Menschen innerhalb spezifischer geschichtlicher und gesellschaftlicher Kontexte. Ethische Normen werden von Menschen geschaffen, diskutiert und reformiert. Sie können nicht in einem Diskurs oder Gespräch zwischen Menschen und Tieren ausgehandelt werden. Diese Tatsache aber bedeutet nicht, dass es in der Ethik ausschließlich um den Menschen und seine Bedürfnisse gehen sollte. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Ethiker wenden sich heute Ethikkonzepten zu, die auch die nichtmenschliche Natur berücksichtigen, und zwar die nichtmenschliche Natur im Allgemeinen, Tiere als – zumindest in vielen Fällen – empfindungsfähige, Lust und Schmerz, Freude und Leid verspürende Wesen im Besonderen.

      Es gibt unterschiedliche post-anthropozentrische Ethikansätze79: das sentientistische (pathozentrische) Ethikmodell, in dem nicht nur der Mensch, sondern alle empfindungsfähigen Lebewesen, also neben dem Menschen auch empfindungsfähige Tiere berücksichtigt werden; das biozentrische Modell, das alle Lebewesen, also auch Pflanzen, einschließt (Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“), und das ökozentrische Modell (Holismus, „deep ecology“), dem es vor allem um die Bewahrung von Ökosystemen geht, weil es weder menschliches noch tierisches und pflanzliches Leben geben würde, wenn diese nicht zumindest einigermaßen intakt sind. Innerhalb jedes dieser Ethikmodelle gibt es wiederum verschiedene Untergruppen, die hier aber nicht besprochen werden müssen und können. Zwischen


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