Die Würde des Tieres ist unantastbar. Kurt Remele

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und Tierethiker Jean-Claude Wolf bezeichnet Bentham sogar als einen der „philosophischen Hausgötter des modernen Tierschutzes“46. Der anglikanische Geistliche Humphry Primatt dagegen, der schon dreizehn Jahre vor Bentham klar darauf hingewiesen hatte, dass es ein Unrecht ist, Tiere zu quälen und zu missbrauchen, ist zumindest im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannt geblieben.

      Die 1776 verabschiedete Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika proklamierte die angeborene Gleichheit aller Menschen und ihre angeborenen, unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück. In der Realität standen diese Rechte lange Zeit nur weißen männlichen Grundbesitzern zu. Die rechtliche Gleichheit zwischen Mann und Frau, weißen und schwarzen sowie armen und reichen Amerikanern wurde erst durch einen blutigen Bürgerkrieg, den Kampf der Suffragetten um ein allgemeines Frauenwahlrecht, die direkten Aktionen der Bürgerrechtsbewegung und durch eine unter Präsident Lyndon B. Johnson in den Jahren 1964 und 1965 durchgesetzte umfangreiche Sozialgesetzgebung erreicht. Und nach wie vor gibt es in den USA beträchtliche faktische Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, Arm und Reich, Afroamerikanern und Weißen.

      Die ebenfalls 1776 veröffentlichte Abhandlung Humphry Primatts über die Pflicht der Barmherzigkeit gegenüber Tieren weitete den Kreis der moralischen Objekte über Menschen jedweder Hautfarbe, jedweden Geschlechts und jedweden Einkommens hinaus auf empfindungsfähige Tiere aus. Weil viele Tiere ebenso wie Menschen Schmerzen empfinden können, ist es nach Primatt eine Pflicht, sich ihnen gegenüber barmherzig zu verhalten und eine Sünde, sie grausam zu behandeln. Primatts Werk war noch wesentlich länger kein sichtbarer Erfolg beschieden als der Unabhängigkeitserklärung. Auch wenn nach Primatt (und Bentham) immer wieder einzelne tierethisch orientierte Ethiken auftauchten, so etwa Arthur Schopenhauers Mitleidsethik47 und Henry S. Salts Abhandlungen über Tierrechte und Vegetarismus48, so hat es doch zwei Jahrhunderte gedauert, bis die Argumente von Primatt (und Bentham) in der philosophischen und theologischen Ethik auf breiterer Basis zur Kenntnis und nach und nach auch ernst genommen wurden.

      Tierethik ist jener Bereich der Angewandten Ethik, in dem vernünftig begründete normative Aussagen darüber gemacht werden, wie wir Menschen uns gegenüber Tieren verhalten sollen. Eine zeitgemäße tierethische Perspektive bedingt, dass man sich von einer rein anthropozentrischen, also ausschließlich auf den Menschen und seine Bedürfnisse ausgerichteten Ethik verabschiedet. Man wendet sich einem Ethikkonzept zu, das auch die nichtmenschliche Natur berücksichtigt, und zwar die nichtmenschliche Natur im Allgemeinen, Tiere als (in vielen Fällen zweifellos) empfindungsfähige, Lust und Schmerz, Freude und Leid verspürende Wesen im Besonderen.

      Als Pioniere der in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen neueren akademischen Tierethik sind vor allem die Philosophen Peter Singer, Tom Regan, Stephen R. L. Clark, der Philosoph und Psychologe Richard D. Ryder und der anglikanische Theologe und Geistliche Andrew Linzey zu nennen. Sie alle gehörten zur so genannten Oxford Group, einer Gruppe von Wissenschaftlern und anderen Intellektuellen, die Anfang der 1970er Jahre in der berühmten englischen Universitätsstadt forschten und lehrten und „die die Initialzündung für das moderne Interesse am moralischen Status der Tiere darstellten.“49 Richard Ryder weist jedoch darauf hin, dass die Schriftstellerin Brigid Brophy die erste war, die mit ihrem Beitrag The Rights of Animals in der Sunday Times vom 10. Oktober 1965 das lange Schweigen über dieses Thema in der britischen Öffentlichkeit brach.

      Im Folgenden werden die wichtigsten post-anthropozentrischen Ethiken, ihre Grundgedanken, ihre Übereinstimmungen und Unterschiede kurz dargestellt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sowohl den strengen traditionellen als auch den revidierten gemäßigten Anthropozentrismus zurückweisen, auch wenn sie mit bestimmten Ausprägungen des letzteren manche Anliegen teilen, z. B. die Abschaffung der industriellen Massen- und Intensivtierhaltung.

      In der zeitgenössischen Tierethik gibt es unterschiedliche Ansätze oder Positionen. Alle sind darum bemüht, Tiere als empfindungsfähige Lebewesen ethisch aufzuwerten, unterschiedlich sind die dafür verwendeten philosophischen Argumente oder Begründungsstrategien. Als grundlegende tierethische Theorien50 sind zu nennen: der utilitaristische Ansatz, die Theorie der Tierrechte, die feministisch inspirierte Care-Ethik (englisch ethics of care) und die Theorie der Großzügigkeit (englisch generosity theory).

      Der utilitaristische Ansatz der Tierethik geht zurück auf den bereits erwähnten Philosophen Jeremy Bentham. Seine utilitaristische Ethik verlangt von den Menschen, so zu handeln, dass sie Glück und Nutzen, Lust und Freude vermehren, Unglück und Schaden, Unlust und Schmerz verringern, und zwar sowohl für Menschen als auch für Tiere. Die Tierethik von Peter Singer51, dessen Eltern Wiener Juden waren, die in der Zeit des Nationalsozialismus nach Australien emigrierten und der seit 1999 an der US-amerikanischen Princeton University lehrt, ist maßgeblich von Bentham beeinflusst. Allerdings stehen in Singers Präferenzutilitarismus nicht Lust und Unlust im Vordergrund, sondern die Interessen von Menschen und Tieren. Dabei geht es ihm nicht einfach um die größte Gesamtsumme befriedigter Interessen, sondern auch um deren Gewichtung: Das Interesse eines Menschen, aus geschmacklichen Gründen lieber ein Tier zu essen als Hülsenfrüchte, steht nach Singer hinter dem Interesse des Tieres zurück, nicht gequält und getötet zu werden.52

      Menschliche Interessen von vornherein über tierische zu stellen, ist nach Singer „speziesistisch“. Mit dem Begriff des „Speziesismus“, der auf den britischen Philosophen und Psychologen Richard Ryder53 zurückgeht, wird eine ethische Auffassung bezeichnet, die die Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies generell höher bewertet als die Interessen der Mitglieder einer anderen Spezies. Das ist bei der traditionellen Überordnung der Menschen über die nichtmenschlichen Tiere der Fall. Nach Ryder und Singer besteht eine große Ähnlichkeit zwischen Rassismus, der bestimmte Menschen wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert, Sexismus, der bestimmte Menschen wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit benachteiligt, und Speziesismus, der bestimmte Lebewesen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nichtmenschlichen Spezies zurücksetzt. In einem Interview stellte Peter Singer fest: „Wir sind … immer noch so blind – wie es die Rassisten gewesen sind – gegenüber Milliarden anderen empfindungsfähigen Wesen, die leiden können und die ein Bewusstsein haben.“54 Es gebe eine Parallele zwischen der Art und Weise, wie wir Tiere behandeln und wie Rassisten Menschen behandeln, die der ,falschen‘ Rasse angehören. Singer zufolge sollten wir den Kreis derjenigen, die ethisch zählen, über die Menschen hinaus ausweiten. Nach Singer haben alle empfindungsfähigen Wesen, egal ob Mensch oder Tier, einen grundsätzlich gleichen Anspruch, die Berücksichtigung ihrer Interessen einzufordern. Als Utilitarist geht es Singer um die Abwägung konkurrierender Interessen, nicht um moralische und legale Rechte.

      Im Gegensatz dazu betrachtet die tierrechtliche Position (Tom Regan55, Gary Francione56) bestimmte Tiere – nach Regan geht es dabei um geistig normal entwickelte Säugetiere, die ein Jahr oder älter sind – als empfindende „Subjekte-eines-Lebens“ („subjects-of-a-life“) und moralische Objekte („moral patients“), die Berücksichtigung verdienen und mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dem tierrechtlichen Ansatz zufolge haben diese Tiere einen Rechtsanspruch darauf, mit Rücksicht behandelt und nicht getötet zu werden. Das kanadische Forscherehepaar Sue Donaldson und Will Kymlicka57 fordert sogar, Kumpantiere (Haustiere) und andere domestizierte Tiere als volle Mitglieder unserer Gesellschaft anzusehen und ihnen Bürgerrechte zu gewähren.

      Bei der feministischen Care-Ethik und der Ethik der Großzügigkeit stehen nicht Theorien der Güterabwägung und Rechtsnormen im Vordergrund, sondern die persönliche Beziehung zu jedem einzelnen Tier und seinem Schicksal. Wesentlich für die Care-Ethik sind Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Fürsorge. Einige Vertreterinnen der tierethischen Care-Ethik, z. B. Carol Adams58 und Marti Kheel59, stellen eine Verbindung her zwischen der Unterdrückung von Frauen und der Unterdrückung von Tieren durch das Patriarchat.

      Die Ethik der Großzügigkeit geht von einer großen Ähnlichkeit zwischen dem Status der Tiere und dem Status der Kinder aus. Beide, Kinder und Tiere, seien


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