In Schlucken-zwei-Spechte. Harry Rowohlt

In Schlucken-zwei-Spechte - Harry Rowohlt


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gestorben war, stellte seine Witwe in der Schweiz die Urne im Schlafzimmer auf den Kaminsims. Neben der Urne kroch ein Riesenkäfer umher, und sie dachte, das wäre ihr verstorbener Mann. Das ist natür­lich albern. Wenn man schon als Riesenkäfer reinkar­niert, warum soll man sich dann ausgerechnet neben seiner Urne aufhalten? Oder? Ich möchte doch nicht immer an meinen Tod erinnert werden. Apropos Käfer: Ich habe mal meine Stammtischschwester Anna Miku­la, die Kulturchefin der wöchentlich erscheinenden Wo­chenzeitschrift Die Woche, ziemlich angefreakt. Wir unterhielten uns über einen damaligen Zeit-Re­dak­teur, der nicht wußte, wer Gregor Samsa ist, und Anna sagte: »Stell dir mal vor, der ist Redakteur eines solchen Hirn­blattes wie der Zeit und weiß nicht, wer Gregor Samsa ist.« Ich guckte etwas stumpf vor mich hin, und dann wurde Anna allmählich irre an mir und sagte: »Aber gell, Harry, du weißt schon, wer Gregor Samsa ist?« Darauf ich: »Na, erlaube mal, ich werde wohl wissen, wer Gregor Samsa ist. Den habe ich doch selbst noch in Berlin in der Hasenheide kämpfen sehen. Gregor Samsa staatenlos.« Da brach eine Welt für sie zusammen. Gre­gor Samsa ist die Hauptfigur der Erzählung »Die Ver­wandlung« von Franz Kafka. Der wacht eines Morgens auf und ist ein Käfer.

      Das klingt natürlich sehr einleuchtend: »Gregor Samsa staatenlos, habe ich noch selbst in der Hasenheide kämp­fen sehen.« Aber eigentlich haben wir ja von deiner Schulzeit gesprochen...

      Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, mußten wir ins Allgäu umziehen, weil Kurt W. Marek, besser be­kannt unter dem Namen C.W. Ceram, »Götter, Gräber und Gelehrte«, nach Amerika zog. Er war in Woodstock, und zwar in dem Woodstock. In Amerika war er aber sehr unglücklich, weil er nicht bedacht hatte, daß es für ihn offenbar zu spät war, Fremdsprachen zu lernen. Er fühlte sich in seiner Eigenschaft als Herzens-Amerika­ner in Amerika immer kreuzunwohl. Aber auf diese Weise stand sein Haus leer, und deshalb zogen meine Eltern mit mir ins Allgäu. Dort bin ich in die Zwergschu­le gegangen. Eigentlich war es keine Zwergschule. Es gab acht Klassen mit vier Lehrern, also wurden immer zwei Klassen zusammen unterrichtet. Da war ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben ein richtig guter Schüler. Das lag an folgendem: Haschi Marek sagte mal: »Du hast es besonders schwer als Briefmar­kensammler und Rasselbandeleser.« Aber dadurch wuß­te man automatisch mehr als sogar der Lehrkörper. In der Rasselbande kamen Titelgeschichten wie »Fiesta in Cuzco« vor. Also wußte ich, wo Cuzco liegt und was Fie­sta bedeutet.

      Als Briefmarkensammler kommt man ja auch in der Welt herum.

      Ich habe nie bedauert, daß ich mal Briefmarken gesam­melt habe, weil ich selbst riesige Filmschinken, die man eigentlich nur im Kino sehen dürfte, auch auf einem kleinen Bildschirm mit großem Genuß angucke. Ich kann mir vorstellen, wie das auf einer großen Leinwand aussieht, weil ich als ehemaliger Briefmarkensammler die Kunstschätze dieser Welt längst im Briefmarkenfor­mat genossen habe.

      In Lindenberg wurde damals gerade eine Oberschule fertiggestellt. Da ging aber niemand hin. Ich bestand heimlich die Prüfung zur Oberschule. Na ja, es war halb heimlich. Mein Vater durfte es nicht wissen, weil sein Motto war: Raus aus der Schule, rinn ins Geschäft. In Hamburg hätte ich mir das nie zugetraut. In Hamburg war ich sogar in der Volksschule ein schlechter Schüler. Aber im Allgäu suchten sie händeringend nach Schü­lern, möglichst evangelischen, weil die klüger waren. Kaum hatte ich die Prüfung bestanden, zogen meine Eltern wieder nach Hamburg. Auf der Oberschule dort war ich sofort wieder ein schlechter Schüler, wie sich das gehörte. Außerdem begann in Bayern das Schuljahr im Herbst und in Hamburg im Frühjahr, so daß ich eine Lücke von einem halben Jahr hatte, die bis heute nicht gestopft wurde. In der Albert-Schweitzer-Schule, wo wir gerade den Bauernkrieg durchnahmen, schrieb ich mei­ne erste Eins in Geschichte, weil endlich mal was kam, das mich interessierte, Thomas Müntzer. In der Wald­dörfer Schule in Hamburg-Volksdorf waren sie bereits beim Ersten Weltkrieg, so daß meine Lücke vom Bau­ernkrieg bis zum Ersten Weltkrieg reicht. Es ist alles nicht mehr zu stopfen.

      Ich bin in Geschichte nie über das 19. Jahrhun­dert hin­ausgekommen. Immer, wenn wir das abge­handelt hat­ten, war das Schuljahr zu Ende, und danach fingen wir wie­der bei den Römern an. Unglücklicherweise war un­ser Geschichtslehrer auch Lateinlehrer, und er fand es ange­messen, das zu kombinieren. Er ließ uns die mittel­alterli­chen Urkunden aus dem Lateinischen über­­setzen.

      Ich war in Latein auf der Walddörfer Schule quasi un­zensierbar und bekam die erste Sechs minus. Da war ich so stolz. Dann habe ich mich bis zu einer zwei in Latein gesteigert, die ich auch ins Abitur hinübergerettet habe.

      Bei mir war es genau umgekehrt. Ich hatte mich jahre­lang mit knappen Vieren gerettet, weil meine Interpreta­tion des miserabel übersetzten Textes ganz in Ordnung war, aber im Abitur bekam ich eine Sechs in Latein, weil es keine Interpretationsfrage gab.

      In der Walddörfer Schule gab es einen Lateinlehrer, Professor Dr. Gumpricht, den ich aber glücklicher­weise nicht hatte. Bei dem hätte man in Latein eine Interpre­tation verfassen müssen. Ich konnte krankheits­bedingt an einer Klassenfahrt nicht teilnehmen und wurde des­halb eine Klasse höher zu Dr. Gumpricht gesteckt. Die sprachen Latein miteinander, dabei waren das soge­nannte Musen, bildende Kunstmusen. Das fing schon damit an, daß man das Datum sagte, was nicht leicht ist: Am dritten Tag der Iden des September.

      Ich weiß. Ich habe beim Versuch, das Datum zu nennen, einen Lachkrampf bei meinem Lehrer ausge­löst.

      Vor ein paar Jahren hatte ich eine Lesung in Bad Oldes­loe. Da kam Herr Dombrowski, den ich in der Wald­dör­fer Schule in Latein hatte. In der Albert-Schweitzer-Schule ging es ein bißchen anthroposophisch zu, das heißt, man machte mit ungeheurem pädagogi­schen Aufwand nichts. Herr Dombrowski, bei dem ich es von unzensierbar bis zu einer Zwei geschafft hatte, hat sich, um mich zu über­raschen, aus dem Sekretariat der Wald­dörfer Schule meinen Notendurchschnitt in der Ober­stufe besorgt. Ich hab einen richtigen Schreck be­kom­men. Das war immer eine solide Zwei. Damit war’s mit dem Mythos vorbei, ich wäre ein schlechter Schüler gewesen. Ich hatte zwar im Abitur eine Fünf in Mathe, aber die habe ich durch eine Eins in Deutsch ausgebü­gelt. Tja, da ging er hin, der Mythos. Ich war kein schlechter Schüler. Furchtbar! Dabei gab es in der Wald­dörfer Schule eigentlich gar keine Einsen. Zwei war das absolut beste, das man krie­gen konnte. In meiner Klasse gab es immerhin drei Einsen. Johann Ulrich Siems-Weis­bach in Latein, der war aber vorher auf dem Johan­neum gewesen und konn­te außer Latein gar nichts. Stoffel Weber in Musik. Der war aber damals schon aktiver Komponist und legt heute in Bhagwan-Discos Platten auf.

      Was für eine Karriere!

      Ganz so schlimm ist es nicht. Er hat sich inzwischen gefangen und bringt in München Schauspielern das Singen bei, weil die doch manchmal in irgendeiner Rolle singen müssen, und sie das an normalen Schauspiel­schulen nicht lernen. Wenn Leute, die nicht singen kön­nen, aber musikalisch sind, plötzlich trotzdem singen müssen, ist das eigentlich viel schöner, als wenn Sänger gleich singen.

      Singen kann ich auch nicht. Im Grunde habe ich alle Fächer auf dem Weg zum Abi mit Fünf abgegeben, aber die konnte ich immer mit Mathe ausgleichen. Meinen Abitur-Notendurchschnitt will ich gar nicht wissen. Eine Eins kommt darin jedenfalls nicht vor.

      Für meinen Abituraufsatz habe ich nicht nur eine Eins bekommen, sondern sogar noch eine Urkunde für den besten Abituraufsatz von Hamburg, Nordniedersachsen und Holstein. Über Max Frisch: »Gedanken nach einem Fluge.« Ich erinnere mich noch an einen brillanten Satz aus diesem Deutschabitur: »Inzwischen bemüht man sich, ethnische Animositäten in geregeltere Bahnen zu lenken. In Aschenbahnen zumeist.« Ist das nicht bril­lant?

      Doch. Sehr.

      Wir hatten bisher immer alle fünf Jahre Klassentreffen, aber inzwischen machen wir das aus Angst alle drei Jahre. Nicht nur aus Angst um Herrn Glockauer, unse­ren Klassenlehrer, den wir immer noch so lieben wie damals, sondern weil wir selbst auch immer älter wer­den. Gestorben ist von uns seltsamerweise noch keiner. Das scheint eine sehr gesunde Klasse zu sein. Wenn ich bedenke, wie wir in der blöden Albert-Schweit­zer-Schule beim Sportfest der Hamburger Oberschulen immer die Walddörfer-Schüler beneidet haben, weil die alle Pokale abräumten. Ich war in Sport eine ausgespro­chene Fla­sche, und dann auch noch in der Albert-Schweitzer-Schule, die nie irgendwas gewann. Als ich später in der Walddörfer Schule war, traf ich meine alten Kumpels Kümmel


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